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Bella Napoli

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Das war knapp. Lisa hatte die schwere Matratze die Dachbodentreppe hinuntergeworfen und die Vase nur um Haaresbreite verfehlt. Nicht dass diese ein Prachtstück war. Im Gegenteil. Lisa fand sie abscheulich. Irgendein Sonnenuntergang im Hafen von Bella Napoli zierte den dicken Bauch. Aber Mama hing an dem Stück. Mama war in Neapel geboren. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sie sich mit Giacomo in den Norden aufgemacht. Sie waren in Bresel gestrandet und hatten eine Eisdiele eröffnet. Favretti, die beste, die es in Bresel gab. Und weit darüber hinaus.

Vorsichtig schob Lisa die Matratze am Hafen von Bella Napoli vorbei in ihr Zimmer. Jetzt konnte Jo kommen. Heute Abend. Und Baron Eduard konnte beruhigt mit seiner Frau Elvira zehn Tage Urlaub machen. In Österreich. Bevor die Touristensaison begann und sie auf Knittelstein alle Hände voll zu tun hatten. Nur Köchin Emma hütete die Festung, und Jo war froh, dass sie in dieser Zeit bei Lisa unterkommen konnte.

Lisa warf noch ein Kopfkissen und ein Bettlaken auf die Matratze. Fertig. Jetzt runter, schnell noch Papa bei den letzten Gästen der Eisdiele helfen, dann um kurz vor sechs zum Dalli-Markt. Sie hatte es Frau Dall versprochen. Außerdem brauchte sie etwas Feriengeld. Was heißt etwas?

Lisa sah sie gleich. Sie saß am Tisch neben der Eingangstür, den Kragen des braunen Kamelhaarmantels trotz der sommerlichen Temperaturen hochgeschlagen. Ein langstieliger Löffel, vermutlich beladen mit Süßem aus dem Fruchtbecher, den Oma Sievers regelmäßig bestellte, schwebte auf halbem Weg zwischen Becher und Mund und tropfte friedlich. Elfriede starrte regungslos auf die Zeitung vor ihr auf dem runden Marmortisch. Die Zeitung von gestern, wie Lisa feststellte, als sie näher kam.

„Frau Sievers?“

Keine Reaktion.

„Frau …“

„Kind, was hast du mich erschreckt!“

„Ihr Löffel.“

Elfriede betrachtet interessiert den Löffel mit der Erdbeere darauf, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann steckte sie ihn zurück in den Fruchtbecher. Lisa wunderte sich bei der tüdeligen Oma über gar nichts mehr. Auch nicht, als sie auf drei Fotos in der Zeitung tippte und „Die kenne ich“ nuschelte.

Lisa genügte ein flüchtiger Blick. Sie hatte den dazugehörigen Artikel aufmerksam gelesen. Über den Einbruch Samstagnacht. Zum Glück war Freddie darin nicht erwähnt worden. Dass Freddie dabei gewesen war, wusste Lisa von Frau Haustenbeck, die es am Sonntag brühwarm ihrer Mama erzählt hatte. Von Freddie selbst dazu kein Wort. Vielleicht hatte er es wenigstens Jan erzählt, aber der hielt natürlich dicht. Manchmal vermisste Lisa den alten Zusammenhalt ihrer Viererbande.

Oma Sievers fischte wieder die Erdbeere aus dem Becher und balancierte sie über der Zeitung. Mit entsprechenden Spuren auf den Fotos.

„Der da“, sagte sie, „der mit dem Klecks auf der Nase, ist Gert Bublanski.“ Elfriede nickte und schob endlich die Erdbeere zwischen die dritten Zähne. „Die Frau links daneben heißt Leonie Kraans, und der rechts … ach, wie hieß der noch gleich?“

„Löwenstein“, half Lisa. Den Namen hatte Frau Haustenbeck am Sonntag erwähnt. „Der hat früher in der Schulstraße gewohnt. Nummer 23.“

Elfriede sah sie erstaunt an. „Jajaja, Severin Löwenstein. Weißt du, die haben alle früher dort gewohnt.“

Lisa gähnte, innerlich. Es war nicht immer leicht, alte Damen zu bedienen. Oberster Grundsatz: Geduld!

„Haben Sie noch einen Wunsch, Frau Sievers?“

„Bis sie ihre Häuser verkaufen mussten und dann verschwanden.“

„Frau Sievers, ich …“

„Das war eine ziemliche Sauerei, mein Kind.“ Elfriede war einer der schwierigeren Fälle. „Damals.“

Lisa sah einen Herrn am Nachbartisch winken und nickte ihm zu. „Kann ich jetzt ihren Becher …“

„Erpresst haben die sie, bis sie verkauften.“ Elfriede starrte auf die Fotos. Oder durch die Fotos in eine lange vergangene Zeit. „Alle fünf.“

Lisa griff nach dem fast leeren Fruchtbecher. Elfriede packte ihre Hand und sah sie in einer Mischung aus Schlitzohrigkeit und Misstrauen an.

„Du denkst, ich bin eine schwierige alte Schachtel, nicht wahr?“

„Nein, nein“, beeilte sich Lisa, „aber vielleicht sollten sie das alles lieber der Polizei …“

„Ach Mädchen, weißt du wie lange das her ist? 1938 fing es an. Die letzten 43. Kein Polizist kräht heute mehr danach.“ Elfriede löste ihren Griff und Lisa zog ihre Hand weg.

„Ich meine doch, was Sie über die Fotos wissen. Die Namen“, sagte Lisa. „In dem Artikel steht, dass man sich melden soll, wenn man die kennt.“ In ihren Augenwinkeln sah sie wieder den Herrn winken. Diesmal schon ungeduldiger.

„Das kommt der schlaue Kommissar schon von selbst drauf“, erklärte Elfriede und ein kleines Leuchten huschte durch ihre Augen. „Im Übrigen kann das jeder nachlesen. Im Stadtarchiv.“ Sie stellte ihren Becher auf Lisas Tablett und erhob sich ächzend. „Den kannst du jetzt mitnehmen. Ich finde allein hinaus.“ Zielstrebig wackelte sie zur Tür. Lisa sah ihr nach.

„Fräulein!“ Der winkende Herr war jetzt leicht rot im Gesicht. Lisa strich das Geld, das Oma Sievers auf den Tisch gelegt hatte, in ihr Portemonnaie. Nahm den Bestellblock und ging zu ihm hinüber.

„Sie wünschen?“

„Na endlich!“

Pappnase! Das dachte Lisa natürlich nur. Mit einem äußerst zuvorkommenden Lächeln.

Elfriede kicherte leise und schüttelte den Dutt.

Mit solchen alten Schrauben wie mir, hat man's nicht immer leicht. Aber warum sollte man auch?

Langsam setzte Elfriede Fuß vor Fuß. In ihrem Alter brauchte sie nichts mehr zu überstürzen. Die schnellen Jahre waren vorbei. Ja, damals nach dem Krieg, 1945. In jenem Sommer war sie sieben geworden, am 29. September, und musste noch eine Weile die Schulbank drücken. Später als sie siebzehn war, bekam sie eine Stelle im Vincenzkrankenhaus, als Wäscherin. Dann Oskar kennengelernt. Oskar Sievers, den Studenten aus Berlin, der sich im Historischen Museum Bresel beworben hatte. Oskar geheiratet am 24. 9. 1959, das würde sie nie vergessen. Mit ihm auf Wolken geschwebt, dann die Wohnung in der Vincentinerstraße bezogen und über die Jahre abbezahlt.

Und Oskar nichts erzählt. Kein Sterbenswort. Von ihrem kleinen Geheimnis. Nein, es war kein kleines, es war ein schreckliches Geheimnis. Aber erzählt hatte sie nichts! Weil … Elfriede mochte an dieser Stelle nicht weiterdenken. Und als sie es ihm endlich erzählen wollte, da war es zu spät. Da starb Oskar. Vor zwei Jahren.

Elfriede blickte erschrocken auf. Hier war es schon. Die Nummer 23, Schulstraße. Löwensteins hatten hier gewohnt. Bis zum 26. 6. 1943. Dann hatten sie verkauft, verkaufen müssen, und waren nach Amerika verschwunden, wie Oskar rausgefunden hatte. Severin Löwenstein und … wie hieß noch seine Frau? Elfriede schaute an der Fassade hoch. Richtig, Rebecca hieß sie.

Ein Bulli fuhr an ihr vorbei Richtung Breselner Landstraße. Schwarz, mit einer dunkelroten Aufschrift: SICHERistSICHER. Drinnen saß ein Bär am Steuer. Daneben ein Kleiner. Elfriede winkte. Leise summte sie eine Melodie. Das Lied von der Lili Marleen.

SICHERistSICHER.

Elfriede blieb vor der Schaufensterscheibe stehen. ELEKTRO-WATT stand darauf. Sie blickte die Straße hinunter. Das Augsburger Tor war wie üblich vom Feierabendverkehr verstopft. Kurz vor der Kreuzung räumte Martina Dall die Auslagen vom Bürgersteig zurück in ihren Laden. Es war fünf vor sechs. Martina weigerte sich, längerer Öffnungszeiten einzuführen, wie es bei den meisten Supermärkten inzwischen üblich war. Noch weigerte sie sich.

Elfriede starrte in die beiden schreckgeweiteten Augen. Unter dem Schriftzug ELEKTRO-WATT stand Klaus Watt und betete vermutlich für einen pünktlichen Feierabend. Als Elfriede den Laden betrat, verabschiedete er sich gerade von dem Glauben, dass Gebete erhört wurden.

Gegen Viertel nach Sechs hatte Klaus Watt immerhin verstanden, dass Elfriede unmöglich einen PM2-Näher meinen konnte, sondern allerhöchstwahrscheinlich einen MP3-Player. Klaus Watt litt unter Bluthochdruck und bekam bei Anspannung immer einen hochroten Kopf. Nach der Farbe seiner Wangen zu urteilen war er, als er ein kleines schmales Gerät vor Elfriede auf die Theke legte, schon in einem recht bedenklichen Druckbereich angekommen.

„Sie meinen vielleicht so etwas.“

Elfriede beäugte das Teil von allen Seiten. Schließlich – es waren weitere Minuten des ersehnten Feierabends verstrichen – nickte sie. „Ja, so was in der Art. Wissen Sie, das hab ich neulich …“

Klaus Watt starrte in die untergehende Sonne, die sich in den Fenstern der Häuser auf der anderen Straßenseite spiegelte. Während Elfriede ausführlich darlegte, bei wieviel Blagen sie das schon mal gesehen hatte, morgens, wenn sie zum Markt ging, oder nachmittags, wenn sie dies und das … „Ach wissen Sie, die haben ja alle so was.“

„Ja“, sagte Klaus Watt mit zusammengebissenen Zähnen. „Heutzutage haben alle Kids so was. Bestimmt auch Ihre Enkel!“

Tja, leider wieder eine Falle.

„Junger Mann!“ Elfriede stemmte die Hände in die Hüften. Klaus Watt schwor sich, ab sofort den Laden fünf Minuten früher zu schließen. Zu verriegeln!

„Junger Mann, ich habe gar keine Kinder. Also auch keine … nun?“ Elfriede sah ihm auffordernd ins Gesicht.

Klaus Watt glühte. „Auch keine … MP3-Player?“

„Keine Enkel!“

„Oh“, machte Klaus Watt hilflos und spürte, wie zwei Schweißtropfen seine Nase entlang liefen. Einer links und einer rechts. „Das tut mir leid.“

„Wieso?“

„Äh … das sagt man doch so …“

„Sie sollten vorsichtiger sein, mit dem, was man so sagt!“

Klaus Watt wusste, dass man inzwischen mit seiner Birne den Marktplatz hätte beleuchten können.

„Den nehme ich“, ordnete Elfriede an. „Kann man damit auch Musik hören, wenn diese Knöpfe nicht in den Ohren stecken?“

„Ja“, schwitzte Klaus. „Drehen Sie halt voll auf. Und gehen Sie nah dran. Dann hören Sie auch …“

„Schon verstanden“, sagte Elfriede. „Wieviel?“

Lisa hatte es grade noch pünktlich geschafft. Martina Dall war so dankbar, dass Lisa ihr half. Seit ihr Mann diesen Kletterunfall hatte und den Fuß in Gips, musste sie die Tische allein schleppen. Morgens raus aus dem Laden und vor der Tür aufbauen und abends wieder rein. Und Martina hatte es doch so im Kreuz. Lisa ließ sich heute mit Chips und Schokolade auszahlen. Jo sollte doch gebührend empfangen werden, heute Abend. Und dafür mussten Lisas Wohlfühl-Vorräte noch aufgefüllt werden.

Erleichtert schloss Frau Dall gegen halb sieben die Ladentür und beobachtete dabei misstrauisch Elfriede Sievers, die gerade vorbei schwankte. Die wollte doch wohl nicht noch … nein. Außerdem war die so schwer damit beschäftigt, sich irgendwas in die Ohren zu stopfen, dass sie sogar zu grüßen vergaß.

Martina bedankte sich noch ein weiteres Mal überschwänglich, und Lisa versprach, morgen wieder vorbeizukommen. Um kurz vor sechs. Dann verließ sie den Laden durch eine Seitentür und ging heimwärts. An ELEKTRO-WATT vorbei, wo Klaus Watt panisch den Riegel vor die Tür schob, als er ihre neugierigen Blicke sah. Vor der Polizeiwache traf sie Kommissar van der Velde.

„Guten Abend, Lisa“, sagte er. „Hast du ein paar Minuten Zeit?“

„Aber nur ein paar Minuten“, antwortete Lisa. Um halb acht wurde Jo von ihrem Vater gebracht.

Van der Velde nickte. Er kannte Lisa Favretti, genau wie Jan Fesenfeld, Freddie Haustenbeck und Josephine von Knittelstein-Breselberg. Also Jo. Von verschiedenen mehr oder weniger kriminalistischen Begegnungen in den letzten Jahren.

„Es geht um Freddie.“

Lisa sah ihn aufmerksam an. Dem Kommissar war es ernst, offensichtlich.

„Was ist mit ihm?“

„Was ich dich jetzt frage“, begann van der Velde vorsichtig, „muss unter uns bleiben. Okay?“

Lisa nickte. Und versuchte, das mulmige Gefühl im Magen nicht zu beachten.

„Bei dem Einbruch am Samstag in der Schulstraße – du weißt, welchen ich meine?“

Lisa nickte wieder. Worauf wollte der Kommissar hinaus?

„Da ist eine Kette abhanden gekommen. Eine Perlenkette, möglicherweise sehr wertvoll.“

„Aha“, sagte Lisa, die sofort begann, eins und eins zusammenzuzählen. „Und Freddie war dabei.“

Der Kommissar atmete schwer. „Versteh das nicht falsch. Ich habe keinen Verdacht gegen Freddie.“

„Sie wollen wissen, ob ich Freddie das zutraue. Einen Diebstahl.“

„Wir müssen das zumindest ausschließen können“, sagte van der Velde.

Lisa sah ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nie im Leben.“

„Danke“, sagte van der Velde.

Als Lisa schon die Straße überquert hatte, rief er: „Lisa!“ Das Mädchen drehte sich nochmal um. „Ich bin froh, dass du das sagst.“

Lisa nickte stumm. Der Weg die Schulstraße entlang bis zur Eisdiele kam ihr heute viel länger vor als sonst.

Baron Eduard war auf die Minute pünktlich. Exakt um halb Acht lieferte er seine Tochter vor der Eisdiele Favretti ab. Ausführlich verabschiedete er sich von Jo, mitsamt dem ganzen Paket guter Wünsche und Ermahnungen, die Eltern nicht lassen können, wenn ihre Kinder zehn Tage ihrer Aufsicht entzogen sind.

Jo nickte freundlich, umarmte ihren Vater und wünschte ihm gute Erholung in Österreichs Bergen. Endlich verließ der Knittelsteiner Volvo die Schulstraße. Jo wusste, die Gute-Wünsche-Poesie von Eltern musste einfach mit Geduld ertragen werden, sonst wurden sie im Urlaub unruhig und riefen jeden Tag zweimal an. Ansonsten war Jo ein durchaus vernunftbegabtes Wesen und schließlich schon dreizehn.

Als die beiden Mädels in Lisas Zimmer saßen und das Thema Eltern abgehakt hatten, machten sie es sich gemütlich. Mit Kerzenschein und Lisas Wohlfühl-Vorrat. Und da Lisa das Gespräch mit Kommissar van der Velde noch im Magen lag, waren sie bald bei Freddie und Jan. Und bei ihrer alten Viererbande, die sich in der letzten Zeit aufzulösen begann. Jedenfalls hatte Lisa den Eindruck. Doch Jo meinte, das wäre ganz normal. In ihrem Alter. Da interessierten sich die meisten Mädchen für ältere Jungs.

„Echt?“, fragte Lisa und sah amüsiert, dass Jo rot wurde.

„Nicht was du jetzt denkst“, sagte Jo schnell.

Eine Stunde später wusste Jo alles über den Einbruch bei Frau Regenbrecht. Zumindest alles, was Lisa bekannt war – außer der Kette. Da hatte Lisa ja Stillschweigen versprochen. Gegen 23 Uhr ging eine SMS an Freddie und eine an Jan raus. Treffen morgen, 15 Uhr, bei Favretti.

Die Kammer hinter dem Spiegel

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