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3.Kapitel

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Die Rollläden, am Einfamilienhaus in Wissen an der Sieg, waren rings ums Haus herunter gelassen. Komplette Abdunkelung an einem Sonntagmittag? Äußerst seltsam. Und in diesem Fall das äußere, nicht unerwartete Zeichen, dass jedes Leben endlich sein wird. Sonst entdecke ich nichts Auffälliges, dachte Armin Schönfelder noch hinterm Lenkrad sitzend.

Routiniert streiften seine Augen über das Anwesen. Das Haus höchstens zwanzig Jahre alt. Zeitgemäßer Baustil. In üblichem Weiß gestrichen die Außenwände, dunkelblau lasierte Dachziegel. Blumenloses Balkongeländer, aus Metall, blau wie die Dachziegel gestrichen. Aufgeräumt wirkt alles zusammen, gut bürgerlich. Auch die Eibenhecke scheint frisch zurechtgestutzt. Haus und Garten bis in die letzte Ecke geschniegelt.

Neben der schweren Gartentür ein großformatiger Briefkasten aus matt geschliffenem Edelstahl, dahinter Stufen aus grau gemasertem Naturstein. Der ansteigende Gartenweg mit einzelnen, unbehauenen Steinplatten belegt, dazwischen feiner Basaltschotter. Und oben, vor der Haustür, nochmal Stufen.

Keine Alarmanlage und zumindest, nach vorne hin, keine Videokamera sichtbar, stellte sein geübtes Auge fest.

Am Straßenrand, vor dem Grundstück, stand ein silbernes, blau beschriftetes Polizeifahrzeug. Überaus auffällig auch das Auto des Notarztes. Unübersehbar, weil offensichtlich der Mediziner höchst konzentriert zu der vermeintlichen Patientin eilte und vergaß, die aufgeregt blinkenden Blaulichter auszuschalten.

Armin Schönfelder stellte seinen silbergrauen Dienstpassat direkt vor der Gartentür ab. Ohne Zeit zu verlieren, rannte er mit großen Schritten, den kurzen aber steilen Weg zum Haus hinauf. Die Haustür stand weit offen.

Im Wohnzimmer warteten auf den Leiter der Mordkommission bereits der Notarzt, zwei Revierpolizisten und die Nachbarin, Frau Kortenbach. Alle Vier standen im Halbkreis um die Leiche einer Frau, die bereits abgehängt war. Um den Hals, anliegend doch leicht gelöst, hing immer noch ein schwarzes Kabel. Der Knoten war vorsichtig geöffnet worden.

Direkt neben ihr lag wie ein untrügliches Zeichen ein umgefallener Stuhl.

In einer Ecke des Wohnzimmers, am denkbar unüblichsten Ort, entdeckte Armin Schönfelder, einen Stecker und eine Dreifachsteckdose. Ebenfalls in Schwarz, wie das Kabel. Offensichtlich waren sie vom Kabel abgetrennt und zur Seite geschubst worden.

Armin Schönfelder kniete nieder und betrachtete eingehend die Leiche. Sie war angezogen als würde sie ausgehen wollen oder Besuch bekommen, empfand er. Durch dick aufgelegte Schminke, Puder, Kajal, Lippenstift und Rouge, leuchtete die weiße Haut der Toten drastisch hindurch. Allerdings überwogen einige Kratzer im Gesicht und am Hals. Die blond gefärbten Haare hingen wild zerzaust herunter. Eine blaue Strähne klebte wie überflüssig auf der Stirn.

Mir fällt auf, dachte der Hauptkommissar, dass die gesamte Kleidung nur leicht verschoben, nicht verzerrt oder verdreht, an der Leiche anliegt. Typisch für einen Selbstmord. Weshalb aber zerzaust eine gut gekleidete Frau ihre sicherlich fein gekämmte Frisur vor einem Suizid?

Welche Bilder, fragte er sich, ziehen an einer Selbstmörderin in den letzten Bruchteilen von Sekunden des Lebens vorbei? Ein strahlendes, erlösendes Hell am Ende des Tunnels? Das befürchtete, unendliche schwarzes Loch? Kommen Bilder eines unruhigen Lebens im Großformat auf sie zugerast? Wie weit zurück reicht das Erinnerungsvermögen? Wird sie die Schimpfe ihres Grundschullehrers einholen? Vielleicht muss sie eine ihrer bösartigsten Streitereien mit ihren Mitmenschen nachvollziehen? Erlebt sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens in einer Endlosschleife, in Zeitlupe? Sieht sie von ganz nah dem Menschen in die Augen, der sie in den Suizid trieb? Genau wird man das wohl nie erfahren.

Armin Schönfelder stand auf und reckte den Rücken durch. Dann kniete er wieder zu der Toten, schaute nach Schmuck: „Sie trägt einen mittelbreiten Ehering aus Gelbgold“, er flüsterte unbewusst, „am linken Arm protzt eine große Uhr, ein auffälliger Chronometer mit metallenem Gliederband, am rechten mehrere schmale, goldene Armreifen.“

Bis hierher eindeutig Suizid, jedenfalls kein Raubmord, folgerte der Kriminalhauptkommissar.

Armin Schönfelder ging auf die zwei uniformierten Kollegen zu und bat sie um Ihre Einschätzung: „Konnten sie bereits Fakten sammeln?“

Der junge Polizist sprudelte gleich los: „Auf der Polizeischule wurde uns gelehrt, dass ein Suizid immer eine Form von Schuldeingeständnis ist…“

„Bitte der Reihe nach. Keine pauschalisierenden Lehr-sätze. Zuerst die Fakten!“ unterbrach Armin Schönfelder.

Der ältere der beiden Uniformierten ging zwei Schritte nach vorne und stellte sich vor den jungen Kollegen. Er antwortete mit klaren Worten: „Herr Kriminalhauptkommissar, uns rief der Notarzt. Der hatte, über Gesicht und Hals der erhängten Frau verteilt, tiefe Kratzspuren festgestellt. Diese deuten nicht auf einen klassischen Suizid, sondern auf eine körperliche Auseinandersetzung oder einen heftigen Kampf hin. Es ist anzunehmen, direkt vor dem vermutlichen Suizid.

Eventuell, dies könnte ein denkbares Motiv sein, stritten sich die Eheleute. Zuerst verbal, danach körperlich, mit üblen, sichtbaren Folgen für die Frau. Anschließend verließ der Ehemann Frau und Haus. In großer Verzweiflung erhängte sie sich. Dann läge also ein normaler Suizid vor, wenn man bei solch einer Kurzschlusshandlung von normal sprechen kann.

Sie von der Kripo werden, wenn alle Spuren dokumentiert sind, sicherlich noch weitere Theorien aufstellen müssen.“ Bei diesem Satz lächelte der Polizist süffisant, um dann weiter zu sprechen:

„Die Identität der Toten haben wir bereits festgestellt. Es handelt sich um Evelyn Stanicki. Sie bewohnt hier gemeinsam mit ihrem Ehemann dieses Haus. Allein, ohne weitere Mitbewohner. Der, so hört man in der Stadt, ist verdienstvoller Vereinsvorsitzender eines Basketballklubs und Kreistagsabgeordneter. Sein Name: Waldemar Stanicki. Er verfügt seit Jahren in seiner Partei über einen einwandfreien Leumund. Diese räumte ihm bei Wahlen immer einen der vordersten Listenplätze ein. Hinter vorgehaltener Hand wird in der Stadt darüber gemunkelt, dass er dafür bekannt ist, sein Gesicht in jede Kamera zu halten.“

Armin Schönfelder unterbrach ungeduldig: „Bleiben wir bei den Fakten, fanden sie einen Abschiedsbrief oder sonstige Hinweise zum Ableben dieser Frau? Ist gesichert, dass die Tote freiwillig aus dem Leben schied?“

„Nein, überhaupt nichts fanden wir“, war leicht beleidigt die knappe Antwort, „dies und alle erfassten Daten können sie unserem ausführlichen Bericht entnehmen. Heute, zum Schichtende, werden wir ihn erstellen.“

„Noch eine Frage, Kollegen: Müssen wir die Eltern der Toten informieren oder leiblichen Kindern die Nachricht vom Suizid überbringen?“

„Nein, nach unserem Wissensstand leben die Eltern nicht mehr und die Eheleute Stanicki sind kinderlos. Nach Neffen oder Cousinen werden wir noch forschen. Sie hören dann.“ Beide Polizisten steckten ihre Notizbücher in die Brusttaschen, nahmen die Schirmmützen ab und stellten sich in eine Ecke des Wohnzimmers.

Armin Schönfelder bat den Notarzt in die Küche. Er wollte dessen neutrale Sicht hören und dies nicht unmittelbar neben der Toten. Dieser berichtete etwas kurzatmig: „Ich wurde aus dem Haus von der hier anwesenden Nachbarin angerufen. Magdalena Kortenbach ist ihr Name. Sie konnte sich am Telefon laut weinend kaum verständlich artikulieren. Mehr wird sie ihnen selbst berichten. Vier Minuten nach dem Anruf war ich bereits hier vor Ort. Hängte umgehend die Frau ab und versuchte sie zu wiederbeleben. Dabei entdeckte ich frische Wunden an Wangen und Hals. Einen Totenschein konnte und wollte ich noch nicht ausstellen. Mir fehlte die wirkliche Todesursache. Also, sie kennen die Rubrik: Todeszeit, Tod durch. Und so weiter und so weiter.

Ich gehe dringend davon aus, dass die Leiche intensiv im Obduktionsraum der Forensik untersucht werden muss.“

„Schon klar. Aber danke, dass sie absolut richtig reagiert haben“, antwortete Armin Schönfelder ebenso knapp. „Doch eine Frage brennt mir noch unter den Nägeln: War die Tote vor der Ermordung ausgezogen und ist erst nach der Tat wieder in ihre Kleider gesteckt worden?“

„Ich denke zu wissen, was sie vermuten“, antwortete der Notarzt umständlich, „doch ich konnte auf die Schnelle keine Sexualstraftat entdecken. Ich wollte auch keine Spuren verwischen. Mehr dazu, auch zu diesem Verdacht, nach der Obduktion.“

Nach diesem kurzen Gespräch gingen Armin Schönfelder und der Notarzt ins Wohnzimmer zurück.

„Und nun zu ihnen, ich sage mal, Frau Nachbarin,“ sagte Armin Schönfelder und putzte, um Ruhe auszustrahlen, gemächlich seine Brillengläser. „Ihre komplette Adresse, Frau Kortenbach, haben ja bereits die Kollegen von der Wache Wissen aufgenommen. Was veranlasste sie, heute das Haus hier zu betreten? Weshalb entdeckten sie und wie fanden sie die Tote?“

Die Nachbarin fragte: „Darf ich?“ und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in einen Sessel. Anschließend trocknete sie ihre Tränen und putzte laut die Nase. Sie atmete, laut hörbar, tief durch und erzählte dann:

„Ich hole, außer im Urlaub, jeden Sonntagmorgen, beim Bäcker Müller frisch gebackene Brötchen. Für mich und die Stanickis. Seit Jahren vertrauen mir die Stanickis ihren Haustürschlüssel an. Auch für Post und Blumenpflege, wenn sie verreist sind.

Ich öffne dann sonntags immer die Haustüre und stelle leise die Brötchen dahinter in den Flur.

Heute fiel mir bereits beim Blick hinüber auf, dass alle Rollläden heruntergelassen waren, während üblicherweise nur das Schlafzimmer abgedunkelt ist. Ich dachte, die sind doch nicht zusammen weggefahren? Haben sie vergessen mich zu informieren? Weshalb ist heute das ganze Haus abgedunkelt?

Ich ging hinüber, trat ins Wohnzimmer, schaltete das Licht an und sah Evelyn mit dem Kabel um den Hals an dem schweren Kronleuchter hängen. Dann rief ich mit meinem Handy die Notfallnummer an.“

„War der Ehemann nicht anwesend?“ Armin Schönfelder wunderte sich.

„Hab ihn heute noch nicht gesehen“, die Nachbarin schnäuzte wieder in ihr Taschentuch. „Der war öfter mal weg.“

Armin Schönfelder zog die Augenbrauen hoch: „Beruflich weg oder sonst irgendwie verreist?“

„Ich kann dazu nichts sagen“, die Nachbarin wurde verlegen, „eben öfter mal weg, auch über Nacht. Da müssen sie ihn selbst fragen.“

Armin Schönfelder pflegte, wie so oft, wenn er Zeit benötigte, seine Marotte und rieb in aller Ruhe die Gläser seiner Brille aus. „Frau Kortenbach, wenn sie befreundet mit der Familie Stanicki sind und sogar über deren Hausschlüssel verfügen, können sie mir doch erläutern, wie das Zusammenleben dieses Paares in letzter Zeit auf sie wirkte.“

Die Nachbarin hob abwehrend die Hände: „Ich bitte sie, befragen sie darüber nicht mich. Ich kann nicht mehr. Ich bin, Entschuldigung, ich war nur mit Evelyn befreundet. Der Herr Stanicki war für mich immer etwas unnahbar. Sprechen sie eben mit ihm selbst.“

„Er steht mir momentan nicht zur Verfügung. Ich weiß noch weniger wie sie, wo er sich aufhält.“ Armin Schönfelder ließ nicht locker. „Deshalb, Frau Kortenbach, muss ich auch in dieser Ausnahmesituation konkret hinterfragen: Wenn der Herr Stanicki öfter nicht zuhause war und wenn er gerade heute an diesem unglücklichen Sonntag nicht anwesend ist, hatte, beziehungsweise hat er eine Freundin und schläft dort immer wieder?“

Die Nachbarin verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, schluchzte laut und blieb die Antwort schuldig.

Nun wandte sich Armin Schönfelder wieder dem Arzt zu: „Könnten wir auch annehmen, dass die Kratzspuren im Gesicht der Toten einige Tage alt sind? Oder ist das angetrocknete Blut, wie sie vorher bereits andeuteten, relativ frisch mit Sauerstoff in Verbindung gekommen? Sprechen diese Verletzungen für einen Streit, dessen Ausgang in einem Suizid oder vielleicht sogar Mord endete?“

„Klar ist auf jeden Fall, dass die Verletzungen frisch sind! Woher sie stammen, ob von einer fremden Person oder im Todeskampf selbst zugefügt, muss geklärt werden. Hätte ich eindeutig einen Suizid festgestellt, hätte ich meine Bedenken nicht direkt ihrer Dienststelle mitgeteilt! Ich erkenne auch kuriose, unterschiedliche, blutunterlaufene Stellen am Hals. Die Vielzahl der Verletzungen an der Toten müssen Spezialisten klären. Die kriminaltechnische Untersuchung oder der Seziertisch werden alle ihre Fragen beantworten. Mit hoher Sicherheit“, antwortete der Notarzt ausweichend. Offensichtlich wollte er schnell den unappetitlichen Ort verlassen, an dem sein ärztliches Können nicht benötigt wurde.

„Ist in Ordnung, Herr Doktor. Ich habe die KTU bereits bei meiner Anfahrt hierher zusammengetrommelt. Ich erwarte sie minütlich.“ Mit einem knappen, „danke ihnen“, entließ er den Arzt.

„Frau Kortenbach, benötigen sie Hilfe?“ Armin Schönfelder sah besorgt der Nachbarin ins Gesicht. „Der Notarzt steht, wenn sie es wünschen, auch ihnen zur Verfügung. Sollte ich ihn aufhalten?“

Ein gehauchtes “Nein“ folgte von der immer noch im Sessel kauernden Nachbarin. Sie schüttelte dazu laut schluchzend den Kopf.

„Leben sie allein in ihrem Haus nebenan?“ Armin Schönfelder wollte in Erfahrung bringen ob er den Täter vielleicht im Umfeld der Nachbarin suchen müsste. Aber auch, ob er sie allein mit ihrem Schmerz lassen könne.

„Ich lebe, seit mein Sohn Constantin vor acht Jahren auszog und mein Mann vor fünf Jahren starb, ohne Mitbewohner. Ich bin das Alleinsein mittlerweile gewohnt. Ruhe tut mir gut. Ich benötige niemand mehr, der mir sagen will, wo es langgeht.“

„Zu ihrem Sohn stelle ich ihnen später noch die eine oder andere Frage, Frau Kortenbach“, Armin Schönfelder sprach bewusst leise, „ich möchte sie nicht über die Maße belasten. Mich interessiert jetzt gerade dringender, wo das Kabel herkommt und die Steckverbindungen die da drüben liegen. Kennen sie diese Teile?“

Magdalena Kortenbach schaute traurig zur anderen Seite. „Ja, kenne ich. Es ist das Verlängerungskabel aus der Küche. Das hat Evelyn immer einsetzen müssen, wenn sie die große Küchenmaschine zum Teigkneten benötigte. Die Elektriker hatten beim Bau damals wohl zu wenig Steckdosen gesetzt.“

Nach ein paar Sekunden ergänzte sie: „Auch der Stuhl gehört in die Küche.“

„Danke, Frau Kortenbach, sie dürfen dann gerne in Ihr Haus hinübergehen. Doch eine Frage bewegt mich noch: Kennen sie eventuell Geschwister, Neffen oder Nichten der Stanickis, die ich benachrichtigen müsste?“

„Nein, kenne ich nicht. Aber da gibt es welche. Zumindest eine Nichte oder Cousine, wie Elvira immer sagte. Elisabeth heißt sie. Die kam immer nur einmal im Jahr und da auch nur abends, zur weihnachtlichen Bescherung. Gesehen habe ich die nie. Ging mich auch nichts an.“

„Nochmal, Danke“, Armin Schönfelder reichte die Hand, „bitte entschuldigen sie die Unannehmlichkeiten. Den Haustürschlüssel der Stanickis übergeben sie bitte den Polizisten. Sie bekommen ihn bald wieder zurück.“

„Ich werde die Schlüssel für Haustür und Briefkasten nicht mehr an mich nehmen. Niemals mehr“, sagte die Nachbarin und zitterte am ganzen Körper als überfiele sie ein Anfall von Schüttelfrost. Wie in Trance erhob sie sich aus dem Sessel und wankte tief in sich zusammengesunken zu ihrem Haus hinüber. Die angebotene Hand des Kriminalpolizisten ignorierte sie.

„Sie bleiben bitte noch eine Weile hier“, bat Armin Schönfelder die Polizisten, „wir gehen aber aus dem Wohnzimmer raus. Mir war es nicht recht, dass sich die Nachbarin einfach in den Sessel plumpsen ließ. Hier müssen noch Spuren gesichert werden. Und ich möchte mit ihnen beiden nun das Haus untersuchen.“

Es brauchte viel Zeit, alle Räumlichkeiten, von unterschiedlichen Kellerräumen bis zur ausgebauten Galerie im Giebel, zu besichtigen. Zimmertüren quietschten, Schranktüren klapperten, Schubladen an Kommoden wurden auf- und zugezogen. Immer wieder leuchteten die Taschenlampen der Uniformierten auf. Das Flüstern der beiden Polizisten mit Armin Schönfelder wirkte im Halbdunkel der geschlossenen Rollläden gespenstisch.

Jeder einzelne Raum zeigte sich äußerst normal, gepflegt, sauber, aufgeräumt. Auch sechs Augen fanden weder Hinweise noch Anhaltspunkte zum Tod der, nun ehemaligen, Bewohnerin.

„Danke Kollegen,“ sagte Armin Schönfelder, „ich sehe gerade auf dem Gartenweg die Mitarbeiter der KTU kommen. Die drehen, wenn es sein muss, ohnehin das gesamte Haus nach Spuren von links nach rechts. Bitte überlassen sie mir den Hausschlüssel. Wünsche einen schönen Restsonntag.“

Mit knappem Gruß verließen die beiden Polizisten den Tatort des, so vermuteten auch sie, Selbstmord in psychologischer Ausnahmesituation.

„Kostet uns“, knurrte der ältere der beiden im Auto angekommen, „immer zu viel Zeit, so ein blöder Selbstmord. Zunächst vor Ort und später beim mühevollen Schreiben eines ausführlichen Berichts. Und die Kriminaler spielen sich auf, als wären nur sie allein in der Lage, solch einen Sachverhalt aufzuklären. Schlussendlich brauchen sie uns doch immer wieder.“

„Undank ist der Welten Lohn“, kalauerte der jüngere Polizist.

„Danke Kollegen, dass ihr so schnell gekommen seid“, begrüßte Armin Schönfelder die drei Spurensucher und einen Rechtsmediziner.

„Grüß Gott Herr Schönfelder. Danke, dass sie, Herr Hauptkommissar, uns gerade an diesem sonnigen Tag zur Arbeit gebeten haben. Sehr freundlich von ihnen. Also, großes Dankeschön für den heutigen Sonntagsdienst,“ grüßten die Spurensicherer ironisch den Kriminalhauptkommissar zurück.

Armin Schönfelder ignorierte die Spitzen und antwortete nur: „Ich euch auch.“

Bei allen Mordfällen der letzten Jahre, konnte er mit der hohen fachlichen Kompetenz dieser Spezialisten rechnen.

Hans Joachim Fischer, nicht verwandt oder verschwägert mit den Fischers aus der Wissener Spielerunde, war auf die direkte Untersuchung der Toten spezialisiert. Eine Aufgabe, die in den wenigsten Fällen als appetitlich bezeichnet werden konnte. Er aber konnte dennoch ruhig schlafen. Hans Joachim Fischer fiel durch seine spiegelglatte Glatze auf, die sich bereits in jungen Jahren angedeutet hatte und die sich zu seinem Entsetzen, beim täglichen Blick in den Spiegel, unaufhaltbar ausbreitete. Als modischen Kontrastpunkt trug er ausschließlich Hemden und Pullover mit einer fetten, bunten Aufschrift: „Hudson Bay“.

Matthias Wegener sicherte die Spuren ausschließlich rund um den Tatort. Er war der Mann, der akribisch alle Fingerabdrücke, Fußspuren oder Fasern lesen konnte. Sein Betätigungsfeld umfasste das gesamte Areal um die Taten. Das Haus und Grundstück und, wenn notwendig, das Gelände weit darüber hinaus. Sein dichter Vollbart wirkte als würde er stets etwas mürrisch in die Welt schauen. Doch das täuschte, er war an den meisten Tagen gut gelaunt.

Vanessa Morgenstern, die Frau die immer und überall hochhackige, apfelgrüne Schuhe trug, koordinierte die Untersuchungen. Sie hatte sich zum eigentlichen Kopf der Drei entwickelt. Sie arbeitete immer mit den neuesten Analysemethoden. Vanessa Morgenstern liebte am Kollegen Hans Joachim Fischer, den alle „Hudson Bay“ nannten, die Sachlichkeit und Ruhe, die dieser in jeder Situation ausstrahlte. Mittlerweile war aus berufsbedingter Sympathie eine feste Beziehung geworden.

Der Rechtsmediziner, Doktor Ralf Clemens, wurde immer dann automatisch informiert, wenn der Verdacht auf ein Tötungsdelikt vorlag, das auf Anhieb nicht zu klären war. Und dies war bei der Mordkommission fast immer der Fall.

„Ich kann ja wohl am Wenigsten für den Sonntagsdienst“, stellte Armin Schönfelder nochmal klar, „ich hatte mit meinem Enkel einen Ausflug zum Wasserfall an der Sieg geplant. Zunächst ging ich auch von einem Suizid aus, dann hättet ihr auf dem Sofa liegen bleiben können. Die Spurenlage verlangte aber nach eurer Kompetenz. Wir sind als Mordkommission gerufen worden. Die Frage an uns lautet: Suizid oder Mord! Beklagt euch bei einem eventuellen Täter, wenn wir ihm hoffentlich bald die Handfesseln anlegen können.“

Unwillig setzte er sich auf einen dreibeinigen, mit echtem Kuhfell überzogenen Küchenhocker. Hier konnte er die wenigsten Spuren verwischen.

Routiniert zogen die Drei von der Spurensicherung staubfreie Kleidung über. Danach leuchteten sie alle Innenräume mit hellen Strahlern aus. Ruhig, überlegt, packten sie ihre großen Alukoffer aus und legten Werkzeuge, wie Lupen, Pinsel, Klebestreifen, Pinzetten und Fotoapparat mit verschiedenen Objektiven, bereit.

Nach wenigen Sekunden tastete sich bereits der blaue Strahl der UV-A-Lampe über den Boden und suchte nach Blutspuren.

Doktor Ralf Clemens, der Rechtsmediziner, ein ruhiger, introvertierter Mitfünfziger, kniete schweigend neben der Leiche. Sein Interesse galt dem gesamten Kopf von Evelyn Stanicki. Vorsichtig glitten seine sterilen Handschuhe über Gesicht und Kehle. Eine bauchige, beleuchtete Lupe unterstützte seine Arbeit.

Bereits nach wenigen Minuten legte er sich auf eine faustdicke Überraschung fest: „Ich bin mir ziemlich sicher: Diese Frau wurde ermordet. Um ihren Hals zeigen sich deutlich zwei unterschiedliche Ansätze des Kabels. Der untere umschloss zunächst waagrecht zur Körperachse den Hals. Dieser untere blutunterlaufene Kreis, mit gut sichtbaren Hämatomen, kommt in dieser waagrechten Form nicht bei einem Suizid vor. Da hat jemand mit hohem Kraftaufwand die Schlinge zugezogen. Die Kratzer am Hals könnte sie sich selbst zugefügt haben. Es sieht aus, als wollte sie sich endlos lange Sekunden von dem Kabel befreien.

Zu einer sexistisch motivierten Tat kann ich derzeit keine Aussage treffen. Ebenso wenig ob eine Affekthandlung oder ein von langer Hand geplanter Mord vorliegt.

Genaueres wird die Obduktion ergeben. Wir müssen die Leiche schnellst möglichst in die Forensik bringen lassen!“

Armin Schönfelder war begeistert von der unaufgeregten, sicheren und schnellen Arbeit: „Danke Doktor, danke vielmals.“

Matthias Wegener, der Mann mit dem dichten Vollbart, meldete sich als erster der drei Spezialisten bei Armin Schönfelder:

„Hauptkommissar, die Spurenlage im Wohnzimmer ist wie in vielen Fällen: Jede Menge deutliche Fingerabdrücke und Fußspuren. Ein paar wenige, kleine Blutspritzer auf dem Teppichboden. Dies muss alles noch in aufwändiger Kleinarbeit zugeordnet werden. Spurenlage also wie üblich.

Ein Punkt irritiert mich jedoch sehr: Ich hatte gehofft am Kabel, den abgetrennten Stecker und Dreifachsteckdose brauchbare Fingerabdrücke zu entdecken. Es scheint jedoch alles peinlichst sauber abgewischt zu sein. Wie es aussieht, mit einem aggressiven Haushaltsreiniger. Sogar der umgefallene Stuhl ist an mehreren Stellen abgerieben. Und das Telefon mitsamt der Ladeschale.“

„Schade, dann schaut euch bitte genau im Schlafzimmer um“, Armin Schönfelder verfolgte verschiedene Gedankengänge, „vielleicht gibt es Hinweise auf familiäre Streitigkeiten. Eventuell findet ihr im Nachttisch der Frau ein ausführliches Tagebuch. Irgendwo im Haus müsste auch ein Smartphone liegen.“

„Apropos Buch. Ein Punkt scheint anders wie bei anderen Untaten zu sein“, antwortete Matthias Wegener, „ich finde keine angebrochenen Flaschen, keine Kippen im Aschenbecher, keine benutzte Gläser, kein schmutziges Geschirr. Der gesamte Wohnbereich ist fein säuberlich, fast steril aufgeräumt. Auch die Küche. Nichts ist umgefallen, verschoben oder zur Seite gerückt. Aber, ein Buch mit Backrezepten liegt ungewöhnlich, wie eilig hingeworfen, schräg auf dem Sideboard.“

Armin Schönfelder trat zu seinem Spurensucher und schaute sich das Rezeptbuch genau an. „Neue Partybäckerei“ hieß der Titel. Eine Buchseite war eingeknickt. „Ich habe meine Handschuhe bereits ausgezogen, bitte schlage mir die Seite mit dem Eselsohr auf“, bat er Matthias Wegener.

Die linke Seite zeigte halbseitig ein Farbfoto. Darunter Rezepturen für Donuts, mit bunten Zuckerglasuren von Rosa bis Hellblau.

Auf der rechten Buchseite ebenfalls eine Abbildung: Fotogen ausgeleuchtet, in Übergröße dargestellt, ein knuspriger Glückskeks. Darunter das Rezept und eine ausführliche Anleitung zur Teigbearbeitung und richtigem Backen in der Fritteuse. Titel: Wie schaffen es Glückskekse, die Bäckerin glücklich zu machen.“

Für die Erstellung der Textstreifen in die Kekse, wurde umfangreiche Hilfestellungen gegeben. Glücksmotive könnten auf die Zettel gemalt werden, wie Marienkäfer, Glückspilze oder vierblättrige Kleeblätter. Auch Glückszahlen, wie Sieben oder Dreizehn. Verse sollten gereimt werden, kurz und knackig. Glück sollten sie verströmen, Hoffnung, Optimismus und Zuversicht.

Aber auch listige, sogar zweideutige Spitzen wären zugelassen, jedoch nur bei guten, fast intimen Bekannten.

Armin Schönfelder wusste mit den Backrezepten nichts anzufangen. Zu abstrakt, bei einem vermutlich heimtückischen Mord durch eine Kabelschlinge.

„Bitte haltet alle Details fotografisch fest. Ihr wisst ja... Ich stehe euch im Moment nur im Weg. Sobald ihr alle Spuren analysiert habt, gebt ihr bitte Bescheid. Und, bitte schließt und versiegelt das Haus.“ Er verabschiedete sich und fuhr nach Hause.

Mittlerweile war bereits die Sendezeit „seiner täglichen erwarteten“ Tagesschau abgelaufen. Aus dem Auto rief er seine Frau an: „Bille, Entschuldigung, ich konnte mich nicht früher melden. Dieser Arbeitseinsatz war außergewöhnlich lang. Deutlich intensiver als ich mir heute Morgen die Ermittlung bei der Fahrt nach Wissen vorstellte. Einen normalen Suizid vermutet keiner der erfahrenen Spezialisten aus meiner Truppe.

Und, der Ehemann der Toten ist auch nicht auffindbar. Vermutlich ist er flüchtig. Dieser Fall ist an Kuriositäten kaum zu überbieten. Bin restlos bedient. Eine Tasse Tee und ein Schwarzbrot mit Leberwurst reicht mir heute Abend. Bis gleich.“

Verfluchte Glückskekse

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