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Prolog Recherche mit Überraschungen

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Die heiligen Verse der Mantras habe ich von meinem Vater gelernt, der mir auch die tantrische Kraft verliehen hat. Er hat mich in die Rituale eingeweiht, die eigentlich geheim sind. Aber ich will sie Ihnen erklären, damit Sie in Ihrem Buch die Wahrheit schreiben…

Puspa Ratna Bajracharya Raj Guru – Oberhaupt der Pancha Buddha-Priester

Ich hatte mich auf eine übliche Übersetzertätigkeit eingestellt und plötzlich fand ich mich in einer spannenden Recherche wieder, durch die ich viel Neues über die Kultur meines Volkes erfahren habe.

Jaya Krishna Nhuchhe Pradhan Nepalesischer Übersetzer

Würde dieses Mädchen mir seine Geschichte erzählen? Drei Jahre und neun Monate, nachdem ich Amita das letzte Mal als souverän agierende Kumari beobachtet hatte, saß ich einem Teenager in Bluejeans und gelbem T-Shirt gegenüber, der scheu meinem Blick auswich. Selbst auf die Frage nach ihrem Alter, wölbte sie den Mund zur Schnute und sprach kein einziges Wort. Dabei hatte sie am nächsten Tag Geburtstag – ihren sechzehnten. War dies wirklich das Mädchen, das ich zweimal in seinem Leben als Mädchengöttin Kumari gesehen hatte?

Ich erinnerte mich an jenen kühlen Dezembertag 1991, als ich zum ersten Mal den Kumari Bahal, den Wohnsitz der „lebenden Göttin“, am zentralen Durbar-Platz in der Altstadt von Kathmandu betreten hatte. In dem für jedermann zugänglichen Innenhof erläuterte mir ein Wächter, dass dort oben im mittleren der drei Fenster gelegentlich die Kumari leibhaftig zu sehen sei. Und er deutete an, dass gegen einen kleinen Obolus er der Mann sei, der das bewerkstelligen könne. Kurz darauf streckten mir zwei kräftige Frauenarme ein pausbäckiges, geschminktes Kleinkind entgegen, das gerade irgendetwas kaute. Wenige Sekunden nur gestattete man mir den Blick auf die „lebende Göttin“. Damals war Amita drei Jahre alt und seit drei Monaten im „Amt“. Und das war sie noch immer, als ich neun Jahre später in das Himalaja-Königreich zurückkehre, um mir bei ihrer Vorgängerin Rasmila die nötigen Informationen für eine Reportage über deren Leben nach der Kumari-Zeit zu beschaffen. Denn eine Mädchengöttin blieb man eben nur so lange, wie man ein Mädchen ist.

Mein nepalesischer Journalisten-Kollege Prateek Pradhan von der Kathmandu Post hatte mir den Kontakt zu Rasmila und deren Familie vermittelt. Und er informierte mich über eine Puja, wie man in Nepal die Opfergottesdienste nennt, die am Abend nach meiner Ankunft im Tempelbezirk der einheimischen Gottheit Machhendranath stattfinden, und bei der auch die aktuelle Kumari erscheinen werde.

Die Puja war schon in vollem Gange, als die mittlerweile zwölfjährige Mädchengöttin hereingetragen und auf einen kleinen roten Thron gesetzt wurde. Dem äußeren Anschein nach verfolgte sie, von der ich seinerzeit nicht wusste, dass sie Amita heißt, die Zeremonie nahezu teilnahmslos. Fast gelangweilt nahm sie zur Kenntnis, wie erwachsene Männer sich ihr zu Füßen warfen.

In Vorbereitung meiner neuerlichen Begegnung mit diesem Mädchen, sah ich mir immer wieder die Filmaufnahmen an, die ich damals aus nächster Nähe gemacht hatte. Es schien, als ginge von diesem als lebende Göttin verehrten Mädchen tatsächlich eine geheimnisvolle Kraft aus. Aber steckte dahinter nicht nur das nachvollziehbare Selbstbewusstsein eines Kindes, dem von allen Seiten Verehrung entgegengebracht wird? Ein fragiles Selbstbewusstsein, wie man es von Kinderstars in Hollywood kennt, und das nur so lange von Dauer ist, so lange sie aus Stretch-Limousinen ins Blitzlichtgewitter der Fotografen steigen? Außerdem vernebelte das aufwändige Make-up der Kumari den Blick für die Realität. Neben dem „dritten Auge“ auf der Stirn, jenem Insignium der göttlichen Macht, verwandelten grellrot geschminkte Lippen und ein bis zu den Schläfen gezogener Kajalstrich das Mädchen zu einer heiligen Femme fatale.

War dieser scheu in die Gegend blickende, Schnute ziehende Teenager dort wirklich jene Kumari aus dem Machhendranath-Tempel? Ich machte mir klar, dass sie vor nicht allzu langer Zeit einen enormen Kulturschock verkraften musste. Den Wechsel von einer Kindheit, in der sie auf riesigen Manifestationen verehrt wurde (und selbst der König sich vor ihr verneigte), in eine kaum definierte Rolle innerhalb einer Gesellschaft, in der die Frauen vielfach noch immer nicht mit ihren Männern am gleichen Tisch speisen. Würde dieses Mädchen seine Geschichte ausgerechnet einem fremden Mann aus einer fernen Welt erzählen?

Im Vorfeld der geplanten Begegnungen ging ich davon aus, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Eltern der Ex-Kumari mit mir auch über ihre einstigen Gefühle sprechen würden. Und ich wurde damit überrascht, dass sie gerade diese Empfindungen von Anfang an in den Mittelpunkt ihrer Schilderungen stellten.

Ich rechnete damit, dass ich während meiner Gespräche mit Priestern und religiösen Funktionären – die hier solche Titel wie Badaguruju, Mul Purohit oder Raj Guru tragen – erst einmal allgemeine Worthülsen und sakrale Chiffren über mich ergehen lassen muss. Das wäre bei Kurienkardinälen vermutlich ebenso. Dann aber kam es anders. Mein nepalesischer Reporterkollege Yuvraj Acharya richtete es so ein, dass ich jenen heiligen Männern in einer jeweils gelösten privaten Atmosphäre begegnen konnte. Und das führte dazu, dass sich einige von ihnen als geradezu eloquent erwiesen und mir gar die lange geheim gehaltenen tantrischen Riten des Kumari-Kults anvertrauten. Die größte Überraschung aber bescherte mir schließlich Amita selbst – jenes Mädchen, das fast zehn Jahre die „Schutzgöttin des nepalesischen Königs“ war, und bis zu unserer Begegnung noch nie mit irgendeinem Menschen außerhalb des Kumari-Hauses (außer mit ihrer Schwester) über ihre außergewöhnliche Kindheit gesprochen hatte. Nicht einmal mit den Eltern – und es hat auch nicht den Anschein, als ob sie dies je tun würde.

Zunächst vergingen zwei entsetzlich lange Tage, an denen ich Yuvraj Acharya meine Fragen in Englisch formulierte, er diese ins Nepali übersetzte und Amita Schnuten zog. Der Vater saß immer dabei und auch Kalpana Shakya, die aus der gleichen Kaste kommt wie die Kumaris. Sie war mir schon vor Jahren bei meinen Begegnungen mit Amitas Vorgängerin Rasmila als interkulturelle Mittlerin behilflich gewesen. Hatte ich diesmal das falsche Mädchen ausgewählt? Sollte ich nicht besser Rasmilas Eltern anrufen, deren Tochter mir seinerzeit Rede und Antwort stand? Dann aber erinnerte ich mich an die augenscheinlich standarisierten Antworten der Ex-Kumari Rasmila, die sie mir und vielen anderen Journalisten gegen dreistellige Dollar-Summen als Tageshonorar verkaufte. Und immer, wenn die Fragen privater wurden, nach Gefühlen und Sehnsüchten in jener Zeit im Kumari Bahal, sprang deren eloquente, intellektuellere Schwester Pramila ein.

Die Überraschung passierte, als Amitas Vater am zweiten Tag kurz aus dem Zimmer gerufen wurde. Als habe das Mädchen nur auf einen solchen Moment gewartet, sprach es unaufgefordert einen ganzen Satz – in Newari. Auch Yuvraj versteht die Sprache der Newar nicht, jener Ureinwohner des Kathmandu-Tales. Kalpana übersetzte ihn ins Nepali und Yuvraj ins Englische: „Sometimes in Kumari Bahal I felt an awful loneliness!“

Im ersten vollständigen Satz nach zwei Tagen gesteht sie, dass sie sich manchmal furchtbar einsam fühlte! Sofort hake ich nach. In knappen Sätzen erzählt sie leise von einem vergitterten Fenster hinter dem sie oft saß und auf die Welt hinausblickte. Und sie spricht von ihrer Sehnsucht nach Durga, die wie eine ältere Schwester mit ihr im Kumari-Haus zusammenlebte. Dann kommt der Vater ins Zimmer zurück und Amita verstummt wieder.

Jetzt war mir klar, dass das Mädchen in Gegenwart des Vaters oder anderer Familienmitglieder nicht über ihre Zeit als Kumari sprechen würde. Offensichtlich aber hatte sie andererseits das Bedürfnis danach.

Amitas Vater hat mir später erzählt, dass sie schon vier Wochen, nachdem sie Kumari geworden war, während seiner Besuche nicht mehr mit ihm sprach. Als ich Amita danach frage, erklärt sie knapp: „Ich wusste nicht, worüber wir reden sollten.“

Wie würde es mir gelingen, einen traditionsbewussten newarischen Vater davon zu überzeugen, dass er seine Tochter mit mir und meinen Mitarbeitern allein lassen soll? Ich musste mein Anliegen mit einem journalistischen Prinzip begründen, denn er durfte es nicht auf sich beziehen. Also erklärte ich, dass ich alle Gesprächspartner getrennt interviewen müsse, um möglichst authentische, unbeeinflusste Aussagen zu bekommen. Und ich verband diese Erklärung mit einem Angebot. Im Gegensatz zu Rasmilas Familie hatte er nicht nach einem Honorar gefragt. Nun aber bot ich ihm eine Summe, die es Amita ermöglichen würde, nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zu machen. Fortan konnte ich mit dem Mädchen allein sprechen.

Amita blieb bei den kurzen Sätzen und Kalpana wurde offenbar ungeduldig. Bald sprach sie mehr als mein Gegenüber, und ich hegte den Verdacht, dass sie Amita Alternativantworten anbot, aus denen sie nur noch auszuwählen brauchte. Ich beschloss daher zunächst, die Arbeit mit einem Übersetzer ins Deutsche fortzusetzen, der auch Newari spricht. Yuvraj hatte dafür sofort Verständnis. Umso mehr, als er neben seiner Tätigkeit für die Kathmandu Post ohnehin genug damit zu hatte, mir den Kontakt zu den anderen Gesprächspartnern herzustellen.

Der Übersetzer, den mir das Goethe-Zentrum von Kathmandu vermittelte – ein Newar, der dort Deutsch unterrichtet –, hatte zwei Jahre in Saarbrücken gelebt. Auf der Dachterrasse meines Hotels erteilte ich dem sympathischen Jaya einen Crashkurs in Interviewtechnik, und beschwor ihn, meine Fragen möglichst kommentarlos zu übersetzen. Schon am nächsten Tag bestätigte er meinen Verdacht in Bezug auf Kalpanas „Hilfestellung“, und ich beschloss, künftig auf sie zu verzichten. Ein gewagter Schritt, denn offenbar hatte sich Amita ein wenig an Kalpanas Art der Fragestellung gewöhnt. Außerdem musste die Familie des Mädchens nun akzeptieren, dass die sechzehnjährige Tochter oft stundenlang mit zwei fremden Männern allein ist.

Amitas Zutrauen wuchs mit jedem unserer Gesprächstermine, was sicher auch damit zu tun hatte, dass wir uns auch über ganz andere Dinge unterhielten. Über indische TV-Soaps beispielsweise und über aktuelle Trends im Nepali-Pop. So erfuhr ich ganz nebenbei, dass die Cartoon-Serie Spiderman im indischen Fernsehen die Lieblingssendung der lebenden Göttin war.

Die Ex-Kumari und ihr Biograph Gerhard Haase-Hindenberg

Das Mädchen fand bald zunehmend Spaß an unseren Treffen, aber sie entwickelte ein gewisses Misstrauen gegenüber jeder Form von Methodik. Sobald sie aber das Gefühl bekam, dass wir uns nicht einfach nur unterhalten, sie vielmehr systematisch ausgefragt wird, runzelte sie die Stirn und der Mund war auf dem Sprung zur Schnute. Also erschien ich fortan ohne Manuskript, sprang in den Themen hin und her. Eines Tages machte ich ihr dann den Vorschlag, die Unterhaltung einfach mal umzukehren. Ich würde erzählen, was ich so aus unseren Gesprächen behalten hatte, und sie solle kontrollieren, ob ich auch alles richtig verstanden habe. Amita war einigermaßen überrascht, als ich ein Manuskript hervorholte und thematisch geordnet Punkt für Punkt vorlas, worüber wir in den vergangenen Wochen völlig ungeordnet gesprochen hatten. Dabei machte ihr die Rolle des „Zensors“ offenbar großen Spaß. In der Folgezeit überraschte sie mich gelegentlich sogar mit eigenen schriftlichen Aufzeichnungen, die sie für mich angefertigt hatte. Wir waren ein richtig gutes Team geworden.

Steinchen für Steinchen wurden die Informationen wie bei einem Mosaik zusammengetragen, und es entstand das Bild einer außergewöhnlichen Kindheit eines nepalesischen Mädchens, das von der Welt weitgehend isoliert als „lebende Göttin“ aufwächst. Dabei wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven geschildert – neben der des Mädchens und ihrer Familie, aus der ihrer jahrelangen Betreuerin im Kumari-Palast und aus dem Blickwinkel der religiösen und gesellschaftlichen Avantgarde Nepals. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sichtweisen ist beträchtlich. Viele Hintergründe des Kumari-Kults waren Amita übrigens bis zu unsrer gemeinsamen Arbeit unbekannt. Denn natürlich hatte es niemand für nötig befunden, eine Göttin über die Hintergründe ihrer eigenen Existenz zu informieren.

Amitas Aufzeichnungen für die gemeinsame Arbeit am Buch über ihre außergewöhnliche Kindheit

Amita besiegelt mit ihrer Unterschrift den Verkauf der Exklusivrechte an ihrer Kindheitsgeschichte

Göttin auf Zeit

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