Читать книгу Göttin auf Zeit - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 4

Rasmilas letztes Fest

Оглавление

Das Kumari-Fest an den Indra Jatra-Feiertagen haben zwar erst die Malla-Könige vor etwa vierhundert Jahren eingeführt, und sie haben auch das Kumari-Haus gebaut. Den Kumari-Kult aber gibt es seit es die vielarmige Göttin Durga gibt – also seit mindestens tausend Jahren.

Madhav Bhattarai Religiöser Ratgeber des derzeitigen nepalesischen Königs

Das Indra Jatra-Fest ist für eine Kumari der Höhepunkt des Jahres. Ich bin sicher, dass das auch jede Kumari so empfindet, denn man wird in einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren und alle Leute sind auf den Straßen und jubeln einem zu. Und das passiert auch noch an dreien der vier Festtage…

Rasmila Shakya Kumari von 1983 bis 1991, Amitas Vorgängerin

Es ist das Fest, auf dem der König bei seiner Göttin erscheinen wird. Der Oberpriester des Palastes ist zum Tempelraum der Kumari hinaufgestiegen, um das Kommen des Mousuf Sarkar („Seine Majestät“) für den letzten Tag der Indra Jatra-Feierlichkeiten anzukündigen.

Sie kennt diesen Mann dort, solange sie zurückdenken kann. Man nennt ihn Mul Purohit, und die Menschen in ihrer Umgebung haben großen Respekt vor ihm. Die Hindu-Priester aus dem Taleju-Tempel ebenso wie die Pancha Buddha-Priester, die eben noch im Agam, jenem dunklen Raum im Erdgeschoss, mit ihr gemeinsam eine Puja zelebrierten, und natürlich Durga-didi, ihre schwesterliche Freundin, die jede Nacht mit ihr im gleichen Bett schläft. Auch der Mul Purohit ist ein Priester, der Oberpriester des Königs. Und wenn er am ersten Morgen des Indra Jatra-Festes zu ihr kommt, so kündigt er den Besuch des Königs an. Vier Tage wird sie jetzt mit den Bewohnern von Kathmandu das Ende der Regenzeit feiern, dreimal wird sie in dieser Zeit auf einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren, und am letzten Tag kommt dann der König hierher und lässt sich durch ihren Segen für ein weiteres Jahr seine Macht bestätigen. Das alles weiß sie, die als lebende Göttin über das Königreich Nepal wacht, aus jahrelanger Erfahrung. Aber sonst weiß sie fast nichts über den Mul Purohit. Sie kennt nicht einmal seinen Namen.

Der würdevolle ältere Herr ist vor der Mädchengöttin niedergekniet, hat seine Stirn auf ihre Füße gelegt und dann in gebotener Distanz Aufstellung genommen. Er blickt ihr tief in die Augen. Er liest darin, dass die Empfehlung des Badaguruju, des religiösen Ratgebers des Königs, richtig war, gleich nach dem Fest die Astrologen des Hofes zusammenzurufen.

Schon oft hat sie der Mul Purohit in den letzten Jahren auf diese Weise angesehen. Immer hat sie dann die Augen niedergeschlagen oder woanders hingesehen. Heute aber hält sie dem Blick des alten Mannes stand.

Der Mul Purohit vermisst in ihren Augen den Sanftmut der Göttin Parvati, der Begleiterin des großen Gottes Schiva. Es ist in diesen Augen aber auch nicht mehr die Furchtlosigkeit der Durga zu entdecken, der anderen Existenz jener Göttin Parvati. Vielmehr strahlt dieser Blick dort die ganz profane Empfindung eines pubertierenden Mädchens aus – nämlich Auflehnung.

Plötzlich entdeckt sie, was diesen Blick so außergewöhnlich macht. Alle Menschen in ihrer Umgebung haben braune Augen. Manche sind dunkler, andere etwas heller. Die Augen des Mul Purohit aber sind grün – und das macht sie so unheimlich.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die körperlichen Merkmale dafür einstellen, was er bereits in diesem Blick erkennen kann – das Mädchen hat seine göttliche Mission erfüllt. Ein letztes Mal wird ihr auf den Straßen Kathmandus die Verehrung des Volkes zuteil werden. Dann wird Mousuf Sarkar noch einmal vor ihr niederknien und den Segen erbitten – von der Kumari, die seit der längst vergangenen Ära der Malla-Dynastie auch als Taleju, die Privatgöttin der nepalesischen Herrscher, verehrt wird. Danach aber wird der Rat der Hofastrologen zusammentreten und aus den Horoskopen von Mädchen aus der Shakya-Kaste im Alter zwischen zwei und vier Jahren eine neue Kumari bestimmen.

Vor vierhundert Jahren, so erklärt der Volksglaube die Existenz der Mädchengöttin, soll sich einer der Herrscher aus der längst untergegangenen Malla-Dynastie der Göttin Taleju beim Würfelspiel in eindeutiger Absicht genähert haben. Dieser Legende nach sei sie daraufhin erzürnt aufgesprungen und habe beim Verlassen des Palastes geschworen, künftig nur noch in Gestalt eines jungfräulichen Wesens aus der Shakya-Kaste zu erscheinen. Jener Kaste, der einst auch der historische Buddha entstammte. Fortan erscheint die Hausgöttin des jeweiligen Hindu-Königs immer in der Gestalt eines kleinen buddhistischen Mädchens. Da aber nach nepalesischer Definition mit dem Beginn der Pubertät ein Mädchen aufhört, ein jungfräuliches Wesen zu sein, ist dieses Indra Jatra-Fest das letzte Fest jener Kumari, die schon bald wieder ihren Geburtsnamen Rasmila tragen wird. Denn in der „Schwarzen Nacht“ des Dashain-Festes in einem Monat wird die lebende Göttin auf jenem Thron dort eine andere sein.

Vom kleinen Hof unten sind die schrillen Töne der Sanai-Flöten und die Trommeln der newarischen Musiker zu hören, die das Erscheinen von Ganesh und Bhairav, der beiden nur für das Indra Jatra-Fest ausgewählten Kindergötter, ankündigen. Ihnen allein ist es erlaubt, die Kumari zum Indra Jatra-Fest hinauszuführen, aus jenem Palast, den die Buddhisten Kumari Bahal nennen (nach jenem umbauten Hof, wie er bei Klöstern üblich ist) und die Hindus Kumari Ghar (Kumari-Haus). In der Verehrung der Kumari aber finden der offizielle Hinduismus und die spezielle, von den newarischen Ureinwohnern des Kathmandu-Tales praktizierte Form des Buddhismus, zu einer spirituellen Vereinigung.

Als die beiden Jungen in den Masken der Kindergötter den Tempelraum betreten, senkt der Mul Purohit endlich den Blick und nennt die Kumari „Dyo Maiju“ – Mädchengöttin.

*

In der Nacht hatte es noch einzelne Schauer gegeben. Dennoch beginnen die Bewohner des Kathmandu-Tales sich auf dem Durbar-Platz und den Straßen der Altstadt zu versammeln, um das Ende des Monsuns zu feiern. Sie werden dem Regengott Indra dafür danken, dass er die fruchtbaren Böden des Tales nicht hat austrocknen lassen. Sie werden ihm aber auch danken, dass er sie nicht weiter mit Regengüssen behelligt. Und sie werden ihrer Kumari huldigen und sie um eine reiche Ernte bitten.

Viele genießen in farbiger und leichter Kleidung die ersten Sonnenstrahlen am fast wolkenlosen Himmel. Andere vertrauen offenbar nicht ganz der Güte des Gottes Indra und haben das Haus für alle Fälle mit einem Regenschirm verlassen.

Amrit Man Shakya und seine junge Frau Mimita sind vom Nachbarbezirk Bagbazar herübergekommen. Sie haben sich mit den beiden kleinen Töchtern durch die an diesem Tag schon früh völlig überfüllte New Road gekämpft, um hier am Durbar-Platz beim Beginn der Jatra, der Prozession dabei zu sein. Und das hat einen ganz besonderen Grund. Der Sohn von Amrits Cousine wird in diesem Jahr den kleinen Gott Ganesh verkörpern, den Sohn des Götterpaares Parvati und Schiva, und die Jatra zu Ehren der Kumari mit einem eigenen Wagen anführen.

Die fast dreijährige Amita und ihre fünfzehn Monate ältere Schwester Anita konnten in der letzten Nacht vor Aufregung kaum schlafen. Aber weniger wegen des mit ihnen verwandten Ganesh, als vielmehr wegen der Kumari, die für viele Mädchen Kathmandus so etwas wie ein Idol ist. Was für ein Kleid wird sie wohl tragen? Wie wird sie geschminkt sein? Dies sind Fragen, mit denen Anita auch ihre kleine Schwester in Erregung versetzte.

Im Hof des Kumari Bahal drängen sich die Menschen, die der Kumari hier ihre Opfergaben niederlegen. Die Mutter hilft der kleinen Amita beim Tragen der mit Obst gefüllten Schale und der Vater achtet darauf, dass Anita die Öllampe gerade hält – beim Abstellen unter jenem Fenster, hinter dem sich im zweiten Stock der Thron der Mädchengöttin befindet.

Noch immer stehen entlang der Hauswand Wartende mehrerer Generationen, um ihrer Kumari Opfergaben zu bringen. Obgleich der Wächter am Eingang mehrfach darum gebeten hat, den Hof nicht mehr zu betreten, da bereits Ganesh und Bhairava eingetroffen seien, haben sich immer wieder Menschen durch das schmale Tor gedrängt. Darunter auch Angehörige der niederen Kasten, denen es nur an diesem Tag erlaubt ist, den Kumari Bahal zu betreten (auch wenn es dafür offiziell keine gesetzliche Regelung gibt). Draußen auf dem Durbar-Platz ist das Indra Jatra-Fest längst auch eine Touristenattraktion. Menschen aus vielen Teilen der Welt haben rechtzeitig auf den Stufen der drei großen Pagoden Platz genommen und halten ihre Kameras bereit.

Die beiden Shakya-Schwestern haben die Opfergaben abgestellt und hüpfen voller Erwartung umher. Mahnend werden sie vom Vater darauf hingewiesen, dass dies ein heiliger Ort sei, während seine Frau den Blick hinauf zum Fenster der Kumari richtet. Sollte womöglich im nächsten Jahr eines ihrer beiden Mädchen dort sitzen und dem König als Zeichen ihres Segens die Tika auf die Stirn drücken?

Vor einiger Zeit war die Cousine ihres Mannes, die Mutter des Jungen, der heute den Ganesh verkörpern wird, zu ihnen nach Hause gekommen. Es war aber kein üblicher Verwandtenbesuch. Sie war in offizieller Mission unterwegs gewesen und hatte um die Horoskope der beiden Töchter gebeten. Höheren Ortes gehe man davon aus, dass die Göttin Taleju schon bald den Körper der amtierenden Kumari verlassen und neu inkarnieren werde, hatte ihr die Cousine ihres Mannes mitgeteilt. Für diesen Fall wolle man im Kumari Bahal vorbereitet sein. Und da die Göttin Taleju traditionell ja nur im Körper eines kleinen Mädchens aus der Shakya-Kaste wiederkehre, der einstigen Kaste der Gold- und Silberschmiede, sei sie aufgefordert, den Hofastrologen die Horoskope von Anita und Amita zur Verfügung zu stellen.

Die Mutter der beiden kleinen Mädchen war erschrocken. Als sie am Abend ihrem Mann davon berichtete, schien er hingegen hoch erfreut: „Stell dir nur vor, was für ein Glück dies für unsere Familie wäre! Und welche Ehre!“ Seither sind drei Wochen vergangen und der königliche Palast hatte sich nicht mehr gemeldet.

Natürlich muss man es als Ehre empfinden, eine Kumari in der Familie zu haben, hatte sich die Mutter wieder und wieder selbst zugeredet. Zeigte es doch, dass Taleju das eigene Haus wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und es künftig unter ihren besonderen Schutz stellen wird. Dennoch lag sie seither an so manchem Tag apathisch auf dem Sofa in der Wohnstube und fürchtete, dass die Göttin tatsächlich die Herausgabe einer ihrer Töchter fordern würde. In der Familie aber behielt sie solche Gedanken, die ihr selbst nicht geheuer waren, für sich. Wie hätte man auch verstehen sollen, dass sie sich vor einer göttlichen Fügung fürchtete?

In den letzten Tagen wurde sie ruhiger. Wahrscheinlich hatten die Hofastrologen längst in einem anderen Mädchen die neue Göttin erkannt. Schließlich werden in achtzehn Bahals – den nach Klöstern benannten Stadtbezirken Kathmandus – Shakya-Mädchen in dem entsprechenden Alter gesucht.

Mimita Shakya weiß nicht, dass keineswegs alle Shakya-Familien der Stadt um die Horoskope ihrer Töchter gebeten werden. Vielmehr schlagen die Chitaidars, jenes Ehepaar, das gemeinsam mit seinen Kindern die Kumari betreut, den Hofastrologen ausschließlich Mädchen aus ihnen bekannten oder gar verwandten Familien vor. Die derzeit noch amtierende Kumari ist sogar eine Nichte der Chitaidar.

Für diese Art der Selektion göttlicher Fügungen gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe. Schließlich leben die Chitaidars jahrelang mit der jeweiligen Kumari zusammen. Deshalb sind sie naturgemäß an der Minimierung späterer Unwägbarkeiten interessiert – beispielsweise wenn die Eltern beginnen, sich um die Zukunft ihrer Tochter Sorgen zu machen. Dies geschieht erfahrungsgemäß wenige Jahre vor dem absehbaren Ende ihrer Kumari-Existenz, wenn also die Rückübertragung der Verantwortung auf das Elternhaus in greifbare Nähe rückt. Kritische Stimmen in Kathmandu sprechen davon, dass die Chitaidars vor allem nach Kandidatinnen suchen, deren Familien das System ihres Clans nicht hinterfragen. Längst nämlich würden sie den Kumari Bahal wie ein privates Familienunternehmen führen, gelegentlich ist gar von finanziellen Unregelmäßigkeiten die Rede – und dies offenbar mit Billigung des königlichen Palastes.

Die eineinhalbjährige Amita mit ihrer älteren Schwester Anita

Die knapp zweijährige Amita mit ihrer Mutter Mimita Shakya

Die Familie von Amrit Man Shakya ist den Chitaidars und der Priesterschaft als traditionsbewusste, religiöse und insofern zuverlässige Familie bekannt. Schließlich entstammt ja auch der diesjährige Ganesh diesem Zweig. Andere Shakya-Familien, in denen beispielsweise der soziale Aufstieg in akademische Berufe geschafft wurde und man womöglich während Studienaufenthalten in Europa oder den Vereinigten Staaten mit westlichem Gedankengut „infiziert“ worden ist, haben da kaum Chancen. Man stellt also gar nicht erst die Frage, ob sie überhaupt bereit wären, eine ihrer Töchter als lebende Göttin aus dem Haus zu geben.

Schräg gegenüber vom Kumari Bahal steht schon der Festwagen der Mädchengöttin. Unter der Aufsicht des Mul Purohit haben Priester bereits am Morgen dessen dreigeschossigen goldenen Pagodenaufbau, in welchem später die Kumari sitzen wird, rituell gereinigt. Dann haben sie an die glockenförmige Spitze, wie sie sich üblicherweise auf buddhistischen Klöstern befindet, ein rot-weißes, nach unten führendes Band angebracht, welches wiederum an eine Dhwaja erinnert – jenes breite Metallband, das an hinduistischen Tempeln den Göttern als Weg dienen soll. Momentan wird das Gefährt der Mädchengöttin von einer Gruppe von Männern mit Blumengirlanden geschmückt. Es sind Männer vom Guthi Sanasthan, dem Kumari-Komitee, das offiziell „Amt für religiöse Güter“ heißt. Man erkennt sie an der schwarzen Farbe ihres Topi, jener typisch nepalesischen Kopfbedeckung, und den großen rot-weißen Buttons am Revers.

Offensichtlich ist die Vorbereitung der Kumari-Prozession ausschließlich Männersache. Hingegen sind ganze Heerscharen von Frauen damit beschäftigt, mit Reisigbündeln den Platz vor dem Kumari Bahal zu fegen. Dabei wirbeln sie so viel Staub auf, dass die beiden Mädchen zu husten beginnen, ehe sie die Mutter erschrocken zur Seite ziehen kann.

Gleich neben dem Palast der Kumari, auf den Stufen zum dreigeschossigen Trailokya-Mohan-Narayan-Tempel, der dem Gott Vishnu geweiht ist, hat Amrit noch ein paar Lücken erspäht. Wenn die anderen Besucher etwas zusammenrücken, würde er mit seiner Frau und den beiden Töchtern Plätze mit guter Aussicht finden.

Geduldig harren die Menschen aus. Nur die Touristen äugen in Sorge um ihre kostbaren Kameras gelegentlich zu den nun aufziehenden Wolken hinauf. Erneut ertönt der krächzende Ton der newarischen Musiker, die als Erste das Tor des Kumari Bahal durchschreiten. Im nächsten Moment springt ein Tänzer hinaus, der als Dämon Lakhi maskiert, einen furchterregenden Tanz aufführt. Mit seiner fratzenhaften Maske, die von langen dunkelroten Haaren eines Yak-Bockes eingerahmt ist, blickt er in alle Richtungen. Als er auf die Stufen der Vishnu-Pagode zuläuft, klammert sich Anita erschrocken an ihre Mutter, während ihre kleine Schwester zu lachen beginnt. Erstaunt nimmt der Vater zur Kenntnis, dass Amita offenbar ein furchtloses Wesen ist.

Die Mädchen wollen alles erklärt bekommen. Ihre Eltern aber wissen auch nicht mehr, als dass Lakhi eben ein Dämon ist, die Tänzer unter dem weißen Umhang mit den kleinen Glocken darauf den mythischen Elefanten Tana Kishi darstellen und das schöne Lied, welches die Männer in den weißen Uniformen gerade spielen, die Nationalhymne ist. Als die große Mercedes-Pullman-Limousine vorfährt, klatschen die Menschen in die Hände, und als die beiden Mädchen hören, dass sich darin der König befindet, klatschen auch sie. Die Enttäuschung ist groß, als dem Wagen ein Mann entsteigt, den weder ein goldener Umhang ziert noch jene Krone mit dem langen weißen Schweif, wie auf dem Bild zu Hause im Wohnzimmer. Vielmehr trägt er einen dunklen Anzug und auf dem Kopf einen bunten Topi.

*

Auf dem Balkon an der Westseite des schneeweißen einstigen Palastes der Malla-Könige, schräg gegenüber des Kumari Bahal, haben sich neben Mitgliedern des Hofes und der nepalesischen Regierung auch ausländische Diplomaten versammelt. Auf dem davor liegenden Durbar-Platz beobachtet das Volk, wie ihr König Birendra in geschmeidiger Eleganz seiner Rolle als erster Mann des Staates gerecht wird. An seiner Seite Königin Aishwarya in einem orangegelben seidenen Sari und in gebotener Distanz schräg dahinter, ein eleganter älterer Herr, der religiöse Ratgeber des Königs. Jener Badaguruju ist auch derjenige, der den Hof gegebenenfalls über die Notwendigkeit informiert, eine Kumari abzulösen. Als Begründung wird er dafür den Verlust von Blut bei der Mädchengöttin anführen. Sei es, dass die Kumari sich verletzt oder deren erste Menstruation eingesetzt hat. In den letzten Jahrzehnten allerdings wollte man auf eine blutende Göttin lieber ganz verzichten, weshalb die Kumaris in jedem Fall mit Vollendung des zwölften Lebensjahres nach Hause geschickt wurden. Und so würde es auch in diesem Jahr sein. Bereits vor Wochen hat jener elegante Herr dort veranlasst, dass die Horoskope potenzieller Kandidatinnen eingeholt und zum Chefastrologen des Königs gebracht wurden. Gleich nach dem Indra Jatra-Fest erwartet er dessen Ergebnis.

Im Moment werden oben auf dem Balkon noch die Hände aneinander gelegt und nach allen Seiten zum Gruß vor das Gesicht geführt. Sobald der Monarch aber an die Brüstung treten und sich seinem Volk zuwenden wird, werden die Untertanen in ihm die Inkarnation des mächtigen Gottes Vishnu erkennen, den Bewahrer der hinduistischen Welt. Als solcher wird der nepalesische König jener Göttin Taleju nachher auf Augenhöhe begegnen, der sich einst einer seiner Vorgänger beim Würfelspiel in eindeutiger Absicht genähert haben soll. Die intellektuelle Elite um den Badaguruju findet den Kult um die jungfräuliche Kumari schon lange zuvor in den heiligen Schriften erwähnt. Demnach wurden, zumindest an den hohen Feiertagen, schon vor einem Jahrtausend Mädchen öffentlich als Manifestationen der Göttin Durga verehrt.

*

Die Musikanten haben neben den beiden steinernen Löwen links und rechts vom Eingang zum Kumari Bahal Aufstellung bezogen. Als sie die altertümlichen Instrumente schließlich absetzen, wird es still auf dem Durbar-Platz – die erwartungsvolle Stille vor dem Erscheinen der Mädchengöttin. Nur die Touristen führen ihre Gespräche in vielen Sprachen der Welt ungehindert in der üblichen Lautstärke fort, geben sich untereinander Tipps, mit welcher Belichtungszeit das bevorstehende Ereignis am wirkungsvollsten zu fotografieren sei.

Der kleine Ganesh wird herausgeführt. Da er im leuchtenden Rot der Kumari gekleidet und wie diese geschminkt ist, halten ihn viele der ausländischen Besucher bereits für die Mädchengöttin. Hunderte Kameraverschlüsse klicken, Camcorder beginnen zu surren. Die Verwirrung unter den Touristen ist groß, als nun auch Baihrav in gleicher Aufmachung erscheint. Amrit Man Shakya aber weiß, dass die Kumari gar nicht durch das Haupttor ins Freie treten wird. Vielmehr ist dafür jenes unscheinbare Tor schräg unter ihnen vorgesehen. Früher als die meisten anderen hier, werden seine beiden Töchter also die Kumari gleich aus nächster Nähe sehen können. Doch sie wird nicht erscheinen, solange der König auf dem Balkon dort drüben noch Konversationen pflegt. Die Mädchengöttin erwartet die ungeteilte Aufmerksamkeit des Königs. Diese aber ist nur gegeben, wenn sich Mousuf Sarkar an die Brüstung seines Balkons begibt und hinüber zum Haus der lebenden Göttin blickt.

Zunächst treten die fünf Pancha Buddha-Priester in Gewändern jener Farben auf, deren Elemente sie verkörpern: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Himmel. Wie aber sollen die Shakyas das alles ihren kleinen Töchtern erklären? Sie versuchen es gar nicht erst, sondern belassen es dabei, ihnen zu sagen, dass dies die fünf Männer seien, die die Kumari vor der Macht der Dämonen schützen.

Plötzlich ertönt auf dem Durbar-Platz lauter Jubel. Nepals Herrscher hat sich an die Brüstung des Balkons begeben. Dieser Jubel aber gilt diesmal nicht dem König, sondern der Mädchengöttin Kumari, die in diesem Moment auf starken Mannesarmen durch die kleine Seitentür in die Öffentlichkeit getragen wird. Ihre rot gefärbten Füße, die keine Schuhe tragen, dürfen den unreinen Boden nicht betreten. Von der Begeisterung, die nun auch die Menschen auf dem benachbarten Basantapur-Platz erfasst, und dem Blitzlichtgewitter der Pressefotografen wird die Kumari begrüßt, wie anderswo Kinderstars aus der Welt des Films und des Showbusiness.

Den beiden Töchtern der Shakyas aus Bagbazar stehen vor Bewunderung und Staunen die Münder offen, obgleich die Kumari doch kaum anders aussieht als zuvor Ganesh und Baihrava. Die Mädchengöttin wird zu ihrem Wagen neben dem alten Königspalast Hanuman-Dhoka hinübergetragen und dort an einen Mann vom Guthi Sanasthan weitergereicht, der oben vor dem Kumari-Thron schon auf sie wartet. Einige Minuten vergehen, in denen auf dem Wagen hektische Betriebsamkeit herrscht.

Zuerst werden die beiden kleineren Wagen von Bhairava und Ganesh über den Durbar-Platz gezogen. Dann folgt der Wagen mit dem gewaltigen goldenen Aufbau, in dem die Kumari wie ein liegen gelassenes Püppchen wirkt. Doch schon nach wenigen Metern, direkt vor dem Balkon des Königs, stoppt die göttliche Kutsche schon wieder.

Der König und seine Kumari befinden sich nun auf gleicher Höhe. Nepals Herrscher ist der Einzige, der ihr lange und tief in die Augen sehen darf, ohne den Zorn der Durga fürchten zu müssen. Von diesem Recht aber macht der Monarch keinen Gebrauch. Vielmehr lässt er sich einige Münzen reichen, die er in Richtung des Kumari-Thrones schleudert, ehe der goldene Wagen von Männern der niederen Kasten an langen Seilen in Richtung der südlichen Altstadt gezogen wird.

Amrit drängt seine Familie zum Aufbruch. Seine beiden Töchter maulen zwar, aber er möchte den Durbar-Platz unbedingt verlassen haben, ehe sich einige tausend andere auch dazu entschließen. In den nächsten Tagen wird er immer wieder zu den verschiedenen Streckenabschnitten der Kumari-Prozessionen gehen. Stumm wird er die Göttin Taleju darum bitten, eine seiner Töchter zu erwählen. Die Mutter der beiden Mädchen aber wird zu Hause auf dem Sofa liegen und hilflos einem zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Gefühl ausgeliefert sein.

Amitas Eltern zu Beginn von Amitas Kumari-Zeit (im Hintergrund ein kleiner Altar mit dem Bild der Mädchengöttin)

Göttin auf Zeit

Подняться наверх