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Experten des Königs
ОглавлениеWenn der Astrologe das beste Horoskop gefunden hat, sagt er Bescheid, und es werden die zweiunddreißig erforderlichen körperlichen Merkmale überprüft. Meine Frau untersucht das Mädchen nackt. Wenn wir damit fertig sind, sagen wir dem König, dass wir das richtige Mädchen gefunden haben.
Ramesh Prasad Pandey Mul Purohit – königlicher Oberpriester
Wenn man seine Tochter nicht als Kumari hergeben will, so ist das möglich. Aber dann darf man das Horoskop nicht aushändigen. Denn wenn die Horoskope erst mal überprüft sind und die Wahl getroffen wurde, kann man keinen Rückzieher mehr machen.
Amrit Man Shakya Amitas Vater
Sie würde nicht mitkommen in den Kumari Bahal und auch nicht in den Königspalast, um ihre Tochter dort vorzustellen. Schließlich habe sie in dieser Sache bis jetzt die Verantwortung weitgehend allein zu tragen gehabt. Er solle sich deshalb frei nehmen, um der Aufforderung des Palastes nachzukommen. Das hat sie ihrem Mann gesagt und er hat es akzeptiert. Damit war die Sache für Mimita Shakya erledigt.
Niemals zuvor hatte sie so mit Amrit gesprochen. Wollte sie auf diese Weise einem Gespräch mit ihrem Mann über Amitas Zukunft aus dem Weg gehen? Sollte so verborgen bleiben, dass hinter dem Enthusiasmus, den sie seit dem Besuch von Cousine und Schwiegermutter an den Tag legt, ein Gefühlsgeflecht von Ratlosigkeit, Sorge und Verzweiflung steckt? Oder hatte sie mit ihrer vehementen Ablehnung, gemeinsam mit Amita den Königspalast aufzusuchen, nicht vielleicht das Gegenteil beabsichtigt? Hatte sie etwa die heimliche Hoffnung, dass Amrit ihr ungewöhnliches Verhalten zum Anlass nehmen würde, um endlich mit ihr das Gespräch zu suchen?
Seit Tagen leben sie nebeneinander her, konfrontiert mit der schicksalhaften Deutung des königlichen Astrologen, und ohne ein Wort über deren Konsequenzen – nicht miteinander und schon gar nicht mit den Mädchen. Nun würde es Amrits Aufgabe sein, Amita den Zweck des gemeinsamen Besuchs im Narayanhiti Durbar, dem neuen Königspalast im modernen Teil von Kathmandu, zu erläutern.
Amrit hat seine beiden Töchter in die Wohnstube gerufen und sich dort mit ihnen auf den Fußboden gesetzt. Er hat angefangen, von der Kumari zu erzählen. Er hat erläutert, wie wichtig es ist, dass ein kleines Mädchen über das Land wacht und wie schön es für dieses Mädchen ist, von allen Menschen verehrt zu werden. Die Töchter des Amrit Man Shakya hören ihm zu, und als er an das letzte Indra Jatra-Fest erinnert, teilen sie lebhaft ihre Erinnerungen mit. Sie fallen sich gegenseitig ins Wort, sprechen von der riesigen Krone der Kumari und deren goldenen Wagen, beklagen sich, dass der König keine Krone getragen hat und sie schon so früh nach Hause mussten.
„Diese Kumari wird aber schon bald keine Kumari mehr sein“, sagt Amrit und seine Töchter sehen ihn an, als ob er den Weltuntergang verkündet hätte.
Irgendwie hat er das Gespräch falsch angefangen, geht es ihm durch den Kopf. Um eine positive Wendung hinzubekommen, ruft er ihnen zu: „Bald wird ein anderes hübsches Mädchen unsere neue Kumari!“
An den ratlosen Mienen seiner beiden Töchter kann Amrit erkennen, dass sie ihn nicht verstehen. Woher sollten sie auch wissen, dass eine Kumari nicht vom Himmel fällt, sondern ein Mädchen aus einer ganz normalen Familie ist? Eine Göttin auf Zeit.
„Die Kumari ist zwar eine Göttin. Aber sie ist auch ein Mädchen, die eine Ma und einen Baa hat. So wie ihr!“, versucht er eine Erklärung, und er ist Anita dankbar, als sie ihm mit ihrer Bemerkung fast ins Wort fällt: „Dann können wir ja auch die Kumari sein…!“
Amita springt begeistert auf, hüpft durch das ganze Zimmer und ruft: „Jaaaa, ich will eine Kumari sein!“
Anita aber lässt sich aus der Hocke nach hinten fallen und lacht.
„Du siehst ja gar nicht aus wie die Kumari!“, ruft sie. Und nachdem sie sich wieder aufgerichtet hat: „Wo ist denn überhaupt deine Krone?“
Amitas Antwort erfolgt prompt: „Ich gehe mit Ma eine kaufen!“
Amrit ruft seine jüngere Tochter zu sich und nimmt sie in den Arm.
„Du bekommst die Krone, die die Kumari am Indra Jatra-Fest getragen hat. Denn wenn sie keine Kumari mehr ist, dann braucht sie sie ja nicht mehr.“
Die beiden Mädchen sehen ihren Baa überrascht an. Auch wenn sie diese Bemerkung in ihrer ganzen Bedeutung nicht verstehen, so spüren sie offensichtlich in diesem Moment, dass dahinter keine Fantasterei steckt.
Amrit ist froh, dass es ihm fast spielerisch gelungen ist, Amita ein wenig auf ihre künftige Rolle vorzubereiten. Auch wenn es über eine verbale Ankündigung noch nicht hinausging. Während des morgigen Besuchs im Kumari Bahal wird es sicher eine Gelegenheit geben, ihr zu erklären, dass dieser Palast ihr künftiger Wohnsitz sein wird. In den nächsten Tagen wird er dann auch Anita darauf vorbereiten müssen, dass sie ihre weitere Kindheit ohne die kleine Schwester verbringen wird. Im Augenblick aber will er das Thema nicht weiter vertiefen. Es wird schließlich für alle Beteiligten noch schwer genug werden. Und Amrit ist froh, in seiner Frau eine starke Partnerin zu haben. Mit ihrer bemerkenswerten Entschlossenheit, der Göttin Taleju die eigene Tochter zur Verfügung zu stellen, hatte sie schnell seine anfänglichen, unausgesprochenen Zweifel zerstreut.
*
Der Wohnsitz der Mädchengöttin ist alles andere als ein prunkvoller Palast. Es gibt in unmittelbarer Nähe des Kumari Bahal weitaus imposantere Bauwerke als diesen quadratischen zweistöckigen Ziegelbau, den König Jaya Prakash Malla vor zwei Jahrhunderten für seine Hausgöttin errichten ließ. Wer um die Besonderheit dieses Bauwerks nicht weiß, muss schon einen Sinn für die newarischen Holzschnitzereien haben, mit denen die Fenster und das schmale Eingangstor umrahmt sind, um das Gebäude interessant zu finden. Touristen richten ihre Kameras eher auf die drei gewaltigen Pagodentempel auf dem Durbar-Platz oder auf den schneeweißen alten Königspalast, der nach Hanuman, dem Affengott, Hanuman Dhoka benannt ist. Selbst die beiden steinernen Löwen vor dem Eingang des Kumari Bahal werden von kunstinteressierten Besuchern wegen ihrer braunen Mähnen und den pinkfarbenen Brüsten bestenfalls als kitischige Kopien jener Löwenskulpturen vor dem Shiva-Parvati-Tempel am nördlichen Durbar-Platz wahrgenommen.
Besucher, die dennoch den Weg in den Innenhof des Kumari Bahal finden, wundern sich, dass das Haus der lebenden Göttin weniger ein feudales Refugium, als vielmehr ein von Taubenkot verdrecktes, dunkles Gebäude ist. Im obersten Stockwerk, neben jenem großen Fenster, hinter dem der rote Baldachin über dem Thron zu erkennen ist, sitzt meist ein grauhaariger, älterer Herr mit einer großen Brille. Eigentlich ist er lediglich der Ehemann der Chitaidar und für viele innerhalb der konservativen Priesterschaft schon deshalb ein personifiziertes Ärgernis. Traditionell nämlich wurden die Mädchengöttinnen ausschließlich von unverheirateten Frauen betreut, die ihnen rund um die Uhr zu Diensten waren. Die Mutter des grauhaarigen Herrn mit der großen Brille aber, die das Amt einst als Witwe übernommen hatte, war die letzte unverheiratete Chitaidar. Sie lebte mit dem minderjährigen Sohn im Kumari Bahal, und als dieser später heiratete, blieb er mit seiner Frau einfach dort wohnen. Schließlich machte das Kumari-Komitee die Schwiegertochter der greisen Chitaidar zu deren Nachfolgerin. Die Pragmatiker hatten sich gegen die Traditionalisten durchgesetzt. Ihrem Argument, dass nämlich die künftigen Kinder der noch jungen Chitaidar einmal ideale Spielkameraden für die Kumari sein würden, konnte man nur schwer mit dem Anspruch nach spiritueller Reinheit für das göttliche Refugium begegnen.
Mittlerweile leben drei Generationen der Chitaidar-Familie im Kumari Bahal. Das Sagen aber hatte zu keinem Zeitpunkt die Chitaidar, sondern deren Mann, weshalb die Priesterschaft schon bald begann, ihn abfällig als Chitaidar zu bezeichnen. Der grauhaarige Herr mit der großen Brille aber lässt es sich gern gefallen, dass mittlerweile kaum noch jemand seine Frau, sondern alle ihn „den Chitaidar“ nennen. Beschreibt das doch die wahren Machtverhältnisse im Haus der lebenden Göttin. Er thront auf seinem Platz neben dem Kumari-Fenster, von wo aus er das Geschehen innerhalb und außerhalb des Gebäudes argwöhnisch beobachtet.
Nach Auffassung des Raj Guru, des geistlichen Oberhauptes der Pancha Buddha-Priester, hat mit dieser Entwicklung im Kumari Bahal ein rapider Werteverfall begonnen, der mittlerweile immer gravierendere Ausmaße annimmt. Dieser Mann ohne offizielles Amt spiele sich als alles entscheidender Hausherr auf. Dabei seien es doch die Pancha Buddha-Priester, die im Erdgeschoss des Kumari Bahal den Agam, jenen dunklen Tempelraum, betreuen. Schließlich liege doch gerade dort jene spirituelle Energie verborgen, die überhaupt erst einem Shakya-Mädchen zur göttlichen Existenz verhilft. Und nur die Pancha Buddha-Priester würden über das geheime Wissen verfügen, wie ein solcher transzententaler Prozess in Gang gesetzt werden könne. Daraus leite sich ja wohl das natürliche Recht ab, dass sie bei der Auswahl einer neuen Kumari ein wichtiges Wort mitzureden hätten.
Der Chitaidar aber würde dem königlichen Astrologen von vornherein nur die Horoskope von Mädchen aus ihm genehmen Familien vorlegen. Kommt das nicht einer Bevormundung der Göttin gleich, in welchen Körper sie inkarnieren darf und in welchen nicht? Doch damit nicht genug. Nach dem Spruch des Hofastrologen besucht er auch nicht mehr, wie früher üblich, die ausgewählte Familie gemeinsam mit einem der Pancha Buddha-Priester. Wie oft aber war in der Vergangenheit gerade die spirituelle Energie eines buddhistischen Priesters vonnöten, um die Mütter der künftigen Kumari daran zu hindern, ihren Töchtern die Haare abzuschneiden. Ohne genügend Haupthaar, das sich rituell zu einem Knoten binden lässt, das wussten sie, kann ein Mädchen keine Kumari werden. Der Chitaidar aber hat diesmal den Raj Guru gar nicht erst gefragt. Stattdessen hat er lediglich eine Verwandte des ausgewählten Mädchens zu dessen Familie geschickt – wenngleich mit Erfolg.
*
Von seinem Stammplatz aus entdeckt der Chitaidar, wie Amrit Man Shakya mit seiner kleinen Tochter über den Hof kommt. Er ruft nach seiner Frau und eilt den beiden Besuchern entgegen, um zu verhindern, dass sie die Treppe bis in den Thronsaal hinaufsteigen. Die voraussichtlich neue Kumari soll der derzeitigen Mädchengöttin nicht begegnen.
In dem lang gestreckten Raum eine Etage tiefer sitzen sie sich schließlich einander gegenüber. Der Vater der künftigen Kumari ist ein bescheidener Mensch, seit vielen Jahren Busfahrer – der Chitaidar hatte Erkundigungen über ihn eingeholt. Dieser einfache, freundliche Mann sorgt für seine Familie und begeht alle Feiertage nach den strengen Regeln des von den Newar praktizierten Vajrayana-Buddhismus. Ein solcher Mann, so mag sich der Chitaidar überlegt haben, wird weder übertriebene Ansprüche noch überflüssigen Fragen stellen. Und seine Frau, die eigentliche Chitaidar, scheint keine Zweifel zu haben, dass die Gutachter des Palastes und auch der König selbst, dieses ausgesprochen hübsche Mädchen als Kumari bestätigen werden.
Sie mag es, dass die freundliche Frau dauernd zu ihr sagt, wie hübsch sie ist. Es gefällt ihr auch, wenn sie sagt, dass sie es hier ganz sicher schön finden wird, und alle, die hier wohnen, sich schon auf sie freuen. Und als der Mann mit der großen Brille erzählt, dass es im Haus auch noch andere Kinder gibt, sagt sie, dass sie ihre Schwester Anita mitbringen will. Ihre Ma will sie auch mitbringen, die kann sehr schön singen, und abends kommt Baa dann von der Arbeit und bringt für alle Erdnüsse mit… Warum aber freuen sich denn die fremden Leute nicht? Sie schaut zu ihrem Baa, aber auch der schaut ernst auf den Boden. Dann sagt der fremde Mann, sie würden jetzt zusammen zum König gehen, der möchte sie unbedingt kennen lernen. Und als sie fragt, ob er heute die Krone auf dem Kopf hat, wie auf dem Bild zu Hause, da lachen nun doch noch alle, und sie lacht auch.
Kumari Bahal – der Wohnsitz der lebenden Göttin
Neben dem Fenster der Mädchengöttin (rechts) sitzt der Chitaidar und beobachtet sowohl das Geschehen im Kumari Bahal, als auch im Hof unten
Es ist schon fast eine halbe Stunde her, seit die Frau des Mul Purohit die kleine Amita an die Hand genommen und den hohen Gang entlang geführt hat. Seitdem sitzt der Vater des Mädchens neben dem Chitaidar auf dem Flur im Königspalast und wartet. Sein Begleiter, das ist ihm schnell klar geworden, hat keine Ambitionen, sich mit ihm zu unterhalten. Wann immer Amrit Man Shakya den Ansatz dazu machte, antwortete der Chitaidar knapp und scheinbar unwillig. Warum das hier denn so lange dauern würde, wollte Amitas Vater wissen.
„Der Astrologe stellt erst noch das Horoskop vor“, bekam er zur Antwort.
Nach einer Weile fragte Amitas Vater, wer denn die zweiunddreißig für eine Kumari erforderlichen Schönheitsmerkmale an seiner Tochter überprüfen würde.
„Niemand“, sagte der Mann neben ihm auf der Bank, „die stehen alle in dem Horoskop.“
Tatsächlich aber hat die Frau des Mul Purohit eben hinter einer der raumhohen Flügeltüren genau diese Überprüfung abgeschlossen. Sie nahm es nicht mit allen Merkmalen gleichermaßen wichtig. Die absolute körperliche Unversehrtheit aber musste schon garantiert sein. Deshalb hatte sie Amita zunächst nackt ausgezogen und penibel alle Teile ihres kleinen Körpers nach möglichen Verletzungen abgesucht. Bei dieser Gelegenheit nahm sie dann auch gleich zur Kenntnis, dass man dem Kind die geforderten „wohlgestalteten, zarten und geschmeidigen Füße, die Schenkel eines Rehs, den Hals einer Muschel, tief im Becken sitzende Geschlechtsorgane und im Übrigen den Körper eines Banyanbaumes“ bescheinigen konnte. Sie hatte die Zähne nicht gezählt, doch überprüft, ob sie gerade stehen. Die Zunge war „feucht“, wie es die Vorschrift erfordert, und dass sie bei einem dreijährigen Mädchen auch „klein“ war, versteht sich von selbst.
Dann hatte die Frau des Mul Purohit das Kind wieder angekleidet. Die übrigen Merkmale würden die Gutachter des Königs nebenan, zu denen auch ihr Mann gehört, selbst in Augenschein nehmen. Sie sollen entscheiden, ob dies „die Wimpern einer Kuh, die Wangen einer Löwin und die tiefe Stimme eines Spatzes“ sind.
Als Amrit Man Shakya mit dem Chitaidar in den großen Saal gebeten wird, läuft Amita ihrem Vater entgegen und klammert sich an sein Bein. Sie lässt selbst dann nicht los, als der Mul Purohit sich zu ihr hinunterbeugt, um ihr eine Blumen-Kette um den Hals zu hängen, ihr eine Tika auf die Stirn und ein Geldstück in die Hand zu drücken. Die Münze solle sie nachher dem König geben.
Nachdem der königliche Oberpriester auch Amitas Vater und dem Chitaidar die Segnung einer Tika zuteil werden ließ, geht er zurück zu den Mitgliedern des Kumari-Komitees.
Die Herren an dem langen Tisch warten. Amrit Man Shakya und der Chitaidar warten auch. Und neben der großen Tür, durch die Amita vorhin hereingeführt worden war, wartet die Frau des Mul Purohit.
Niemand spricht. Amrid Man Shakya hat das Gefühl, als ob die Zeit stehen geblieben sei. Die alten Männer starren ohne äußerlich erkennbare Gefühlsregung auf das Mädchen, das die neue Kumari ihres Königs werden wird. Es kann daher nur spekuliert werden, welchen Gedanken sie dabei nachhängen.
Sicher ist dem Mul Purohit nicht entgangen, dass man diesmal eine besonders kleine Kumari gefunden hat. Das Mädchen ist noch nicht mal drei Jahre alt. Er mag an die positiven Erfahrungen denken, die man in der Vergangenheit mit besonders jungen Mädchen gemacht hat. Sie hatten während der Metamorphose zur Göttin nicht allzu hartnäckig an ihrem bisherigen profanen Leben festgehalten. Während der tantrischen Inthronisations-Zeremonie im Tempel, so haben ihm seine Taleju-Priester mehrfach berichtet, sei diese Veränderung vielmehr schon nach kurzer Zeit deutlich wahrnehmbar. Bei Mädchen hingegen, die schon älter als vier Jahre sind, hielten sich erfahrungsgemäß die bereits verfestigten individuellen Persönlichkeitsstrukturen der alten Existenz einige Tage länger.
Die Frau des Mul Purohit mag sich fragen, weshalb ein Mädchen unbedingt zweiunddreißig Merkmale der äußerlichen Schönheit benötigt, um zu einer Göttin befähigt zu sein. Mancher der hier versammelten Männer des Kumari-Komitees mag es hingegen geradezu als Segen empfinden, dass es diese Merkmale gibt. Vor allem wenn sie, wie im vorliegenden Fall, in einer solch optimalen Weise realisiert sind. Ein anderer mag sich vorstellen, wie die Schönheit dieses Kindes erst erblühen wird, wenn man es mit den Attributen der göttlichen Verführung ausstattet, mit den aufwändigen Schminkereien, dem Schmuck an Hals und Armen und den roten Füßen einer Braut.
Die Männer des Guthi Sanasthan mögen jenen Moment herbeisehnen, wenn sie sich vor ihr niederwerfen dürfen, um anschließend von dem Wasser, womit diese „zarten und geschmeidigen Füße“ gewaschen wurden, zu trinken. Die Kenntnisreicheren unter ihnen mögen eine gedankliche Verbindung herstellen zwischen dem Pfau, dem Emblem der Kumari, und dessen mythologischer Bedeutung als Schutztier der Kurtisanen. Sie mögen gar an die rituellen Tänze der Devadasis, jener in die Prostitution abgesunkenen indischen Tempeltänzerinnen denken, denen man trotz oder gerade wegen ihrer Unreinheit Zugang zum privatesten Heiligtum der Götter gewährte. Und vielleicht fällt ihnen dann die Rijisha ein, jene der sieben Höllen, deren Insassen wild umherirren müssen, getrieben vom schlechten Gewissen wegen sündiger Gedanken, die ihnen dort in Form von Schlangen, wilden Tieren und giftigen Insekten erscheinen.
Möglicherweise aber sind all diese alten Männer auch nur angesichts der von der Königsgöttin Taleju Auserwählten kollektiv in einen Zustand der meditativen Trance gefallen.
Sie mag es nicht, wie die alten Männer sie ansehen. Warum kann ihr Baa denn nicht endlich mit ihr nach Hause gehen? Die Frau Doktor hat sie nebenan untersucht, und nun will sie sich zu ihrer Schwester ins Bett kuscheln und mit den Puppen spielen…
*
In dem Saal mit den meterhohen Porträts einstiger nepalesischer Herrscher sitzen einander zwei Herren gegenüber, die die Welt kennen. Und die Kenntnis dieser Welt hat ihr Denken mindestens ebenso geprägt wie die heimische Tradition. Zwar tragen auch sie, wie die Männer vom Guthi Sanasthan nebenan, jene Tracht, die Doura Suruwal genannt wird, und auf dem Kopf einen Topi. Doch trotz der traditionellen röhrenförmigen Hose und dem hemdartigen Oberteil unter dem Jackett, ist die Sicht dieser Herren auf die nepalesische Gesellschaft keineswegs durch die Gebirgskette des Himalaja verengt.
Wenn diese beiden Männer die traditionellen Werte im eigenen Land hochhalten und es sogar zum einzigen „hinduistischen Königreich“ der Welt erklärten, so hat dies nicht nur religiöse Gründe. Vielmehr steht dahinter das ureigenste Interesse, die Tradition als Garant für die bestehende Ordnung zu nutzen. Gerade in einer Zeit, in der von Seiten der politischen Linken Stimmen nach Abschaffung der Monarchie laut werden, gilt es, der tiefreligiösen Bevölkerung ein Faktum in Erinnerung zu rufen: Die Kumari ist auch das leibhaftige Symbol für das Königtum!
Der Herr mit der auffallend großen Brille, der sich lässig im europäischen Biedermeiersofa zurücklehnt, hat sich seine hohe Bildung im renommierten St. Joseph’s College im indischen Darjeeling angeeignet, und am britischen Nobelinternat Eton, an der Universität von Tokio und in Harvard.
Sein Gesprächspartner darf es sich erlauben, während der Unterhaltung gelegentlich aufzustehen und durch die dünnen Gardinen vor den raumhohen Fenstern zum Durbar Marg hinüberzusehen, eine der breiten Hauptverkehrstraßen Kathmandus. Man versteht einander blendend, der gemeinsame internationale Background schwingt immer mit. Denn nicht nur der König, sondern auch der Badaguruju ist ein weit gereister Mann. Der elffache Familienvater ist exakt neunzehn Jahre und einen Tag älter als sein königliches Gegenüber. Einst hatte auch er in Indien, in Großbritannien und den USA studiert und war später viele Jahre für die UNESCO tätig gewesen. Vor einigen Jahren sogar als Leiter der „Asia Pacific Education Section“ in Frankreich.
Diese beiden Herren gelten als die mächtigsten Männer Nepals. Und das zu Recht. Der eine nämlich ist als royales Staatsoberhaupt nach wie vor befugt, jederzeit den Notstand auszurufen. Und der andere ist längst weit mehr als nur jener religiöse Ratgeber, der er als königlicher Chefpriester offiziell ist. Vom eigenen Volk aber lässt sich der eine als Inkarnation des Gottes Vishnu verehren – und der andere als „erhabener Meister“ bezeichnen.
Im Raum nebenan werden diese beiden mächtigen Männer bereits erwartet – von den biederen Traditionalisten des Guthi Sanasthan, von dem auf seine begrenzte Macht versessenen Chitaidar, vom Mul Purohit, jenem Hüter der religiösen Dogmen, und von einem Busfahrer aus Bagbazar mit seiner kleinen Tochter. Wenn in wenigen Minuten die beiden Herren in der traditionellen Doura Suruwal durch die hohe Türe treten, werden sich nicht nur verschiedene soziale Klassen begegnen, sondern auch Menschen mit gänzlich unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen.
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Die große Tür zum Saal nebenan wird geöffnet und alle Anwesenden erheben sich.
Warum schauen denn die Männer hinter dem langen Tisch da drüben plötzlich alle auf den Fußboden?
Zum ersten Mal in seinem Leben hört Amrit Man Shakya sein Herz schlagen. Es ist kein schneller Schlag, wie bei einer Aufregung oder nach einer körperlichen Anstrengung, vielmehr ein schweres, unglaublich lautes Pochen, das durch den gesamten Körper zu dröhnen scheint.
Der Mann, der neben Amita in die Hocke geht, spricht zu ihr, aber das Mädchen versteht seine Sprache nicht.
„Ich freue mich Sie zu sehen, man hat mir sehr viel Gutes und Schönes von Ihnen erzählt“, übersetzt der Chitaidar den nepalischen Satz ins Newarische.
Der Mann, der neben ihr kniet, trägt eine riesige Brille. Aber er sieht nett aus. Leise flüstert Baa ihr etwas ins Ohr. Sie soll dem Mann nun die Münze geben. Aber sie will lieber warten, bis der König kommt…
Nur widerwillig lässt sich Amita schließlich die Hand führen. Da nämlich der Herr neben ihr keine Krone auf dem Kopf hat, erkennt sie nicht, dass dies derselbe Mann ist, der zu Hause auf dem Foto in der Wohnstube abgebildet ist.
Eine „göttliche“ Adresse