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Vom Mädchen zur Göttin
ОглавлениеDie künftige Mädchengöttin kommt ja als normales Kind aus dem Kumari-Haus. Deshalb reinige ich sie mit heiligem Wasser, ehe sie in den Mul Chowk (Haupthof des Tempels) eintritt. Ich spritze Wasser auf sie zum Zeichen der Purifikation – und insofern reinige ich das ganze Land.
Uddav Karmacharya Mul Pujari – hinduistischer Hauptpriester im Taleju-Tempel
Die Newar-Familien des Kathmandu-Tales feiern Geburtstage nicht nach dem gregorianischen Sonnenkalender, auch nicht nach dem offiziellen nepalesischen Kalender, sondern nach einem eigenen Mondkalender. Danach hat Amita an „Navami“ Geburtstag, dem Tag vor der ersten Vollmondnacht des Herbstes – also jeweils zwischen Ende September und Mitte Oktober. Fortan aber wird Navami für Amita noch eine weitere Bedeutung haben. Es ist der neunte Tag des hinduistischen Dashain-Festes, an dem man in Nepal den historischen Sieg der Göttin Durga über den Büffeldämon Mahisasura feiert. Die Nacht zuvor wird Kala Ratri („Schwarze Nacht“) genannt. In dieser findet eines der seltenen Ereignisse des Jahres statt, zu denen die Mädchengöttin das Kumari-Haus verlässt: die geheimnisvolle Durga-Puja im Haupthof zwischen dem Taleju-Tempel und dem alten Königspalast Hanuman Dhoka.
Der Zusammenhang, der zwischen der kleinen Kumari und jener Durga besteht, ist selbst gläubigen nepalesischen Hindus oft nicht klar. Um ihn zu verstehen, muss man in der lokalen Religionsgeschichte weit zurückgehen. Seit mehr als einem Jahrtausend gilt die tapfere Durga – wie auch die Göttinnen Kali und Bhagwati – als furchterregende Seite von Parvati, der Gattin des Göttervaters Shiva. Damals, so besagt der Volksglaube, habe sich Durga in der Stadt Simraungardh im Süden Indiens in Form einer neuen Göttin manifestiert – der Taleju. Diese sei ursprünglich keine sichtbare Göttin gewesen, sondern eine geheimnisvolle Kraft. Als solche sei sie vor einigen Jahrhunderten ins Kathmandu-Tal gekommen, wo sie seither als Schutzgöttin der wechselnden Königsfamilien fungiert. Inzwischen aber ist die Mädchengöttin Kumari deren leibhaftige Inkarnation. So liegt es nahe, dass im Fall von deren Ablösung, die göttliche Macht eben während jener Durga-Puja in der „Schwarzen Nacht“ von einer Kumari zur anderen übertragen wird (wenn nicht ein außergewöhnlicher Anlass den vorzeitigen Wechsel erfordert).
In diesem Jahr, welches nach dem nepalesischen Kalender das Jahr 2048, nach dem newarischen 1111 und nach dem gregorianischen 1991 ist, findet Navami (am Ende des nepalesischen Monats Ashwin) Mitte Oktober statt. Seit dem letzten Dashain-Fest hat es in der ganzen Welt große politische Veränderungen gegeben. Im Osten Europas sind die kommunistischen Regime zusammengebrochen, die beiden deutschen Staaten haben sich nach vier Jahrzehnten der Trennung wieder vereinigt, in Südafrika geht die Apartheid ihrem Ende entgegen und in Israel denkt ein ehemaliger General laut über Friedensverhandlungen mit den Palästinensern nach. Auch der kleine Himalaja-Staat Nepal hat seither einige innenpolitische Veränderungen erlebt. Noch im Frühjahr des letzten Jahres hatte die königstreue Regierung die absolute Monarchie gegen friedliche Demonstranten mit Gewehrfeuer, Tränengas und Massenverhaftungen verteidigt. Der Protest aber nahm immer breitere Formen an, sodass sich der König schließlich im April 1990 über den Rundfunk an sein Volk wandte, die Aufhebung des Parteienverbots ankündigte und für das kommende Frühjahr freie Wahlen versprach. Im Mai siegte dann die Kongresspartei landesweit mit absoluter Mehrheit und stellt seither den Ministerpräsidenten.
Dennoch schlagen die Uhren in diesem Jahr 1991 in Nepal anders als in anderen Teilen der Welt, denn jeder dritte der frei gewählten Abgeordneten gehört der Kommunistischen Partei an. Wenngleich auch sie auf die religiösen Traditionen ihres Landes Rücksicht nehmen müssen und am vergangenen Indra Jatra-Fest ein Transparent vor die Parteizentrale aufgehängt hatten, mit der Parole: „Die KP Nepals grüßt die Kumari.“ Und so sitzt am Durbar-Platz, allem politischen Wandel zum Trotz, ein kleines Mädchen auf dem Thron der lebenden Göttin, auch wenn es in dieser Nacht selbst hier eine personelle Veränderung geben wird.
*
Die künftige Mädchengöttin steigt in ein klappriges Taxi, das ihr Vater an der Straße angehalten hat. Amitas Mutter folgt ihr, in der Hand eine kleine Reisetasche, in der sie nur das Waschzeug und ein wenig Unterwäsche eingepackt hat. Schließlich wird dem Mädchen künftig die Kleidung in der roten Farbe der Kumari zur Verfügung gestellt – dort, wo es jetzt mit seinen Eltern hinfährt und aller Voraussicht nach die nächsten Jahre leben wird. Die Dimension dieser langen Trennung aber haben offenbar weder Amita noch ihre größere Schwester wirklich verstanden. Denn obgleich ihr Baa es ihnen am Morgen noch einmal zu erklären versucht hatte, vollzog sich der Abschied ohne Tränen.
Am Hanuman Dhoka-Palast bezahlt Amrit Man Shakya dem Fahrer 25 nepalesische Rupien. Amita drückt beim Aussteigen ihre Puppe fest an sich, die die Mutter ihr kurz vor dem Verlassen des Hauses noch schnell in den Arm gelegt hat. Dann gehen sie zum Kumari Bahal hinüber. Vor dem schmalen Eingang steht eine ältere Frau und bietet Farbpostkarten mit dem Bild der Mädchengöttin an. Da sie ihr Geschäft fast ausschließlich mit Touristen macht, beachtet sie die Shakyas gar nicht. Mimita Shakya aber betrachtet nachdenklich die unterschiedlichen Porträtfotos, die die Frau aufgefächert in der Hand hält. Mit ausdrucksloser Miene blickt darauf die kleine Kumari direkt in die Kamera. Schon bald, so geht es Amitas Mutter durch den Kopf, wird diese Frau den Touristen aus aller Welt das Foto ihrer Tochter anbieten.
Es fällt Mimita Shakya schwer, mit ihrer Tochter die Schwelle des Kumari Bahal zu überschreiten. Sie muss an die heftigen Alpträume denken, von denen Amita in den letzten Tagen geplagt wurde. In der Nacht, nachdem das Mädchen im Palast untersucht und anschließend dem König vorgestellt worden war, fing es an. Anita hatte ihre Eltern geweckt und teilte ihnen besorgt mit, dass ihre kleine Schwester weinen und manchmal laut schreien würde. Dann haben sie Amita zu sich ins Ehebett geholt. Hier sollte sie nun die letzten Tage bis zu ihrem Umzug in den Kumari Bahal schlafen. In der nächsten Nacht ging es wieder los. Mehrfach hatten die Eltern ihre Tochter geweckt. Doch kaum war sie wieder eingeschlafen, fing sie erneut an zu wimmern und zu schreien. In seiner Hilflosigkeit hat ihr der Vater schließlich eine Ohrfeige verpasst. Aber schon im nächsten Moment tat es ihm entsetzlich Leid.
Am folgenden Morgen rief Amrit Man Shakya im Kumari Bahal an und berichtete von den nächtlichen Alpträumen seiner Tochter. Der Chitaidar aber erklärte, diese Vorgänge seien „völlig normal“. Schließlich würden sich bereits die gewaltigen Energien der Taleju und auch der Durga ankündigen, und das sei für das Mädchen natürlich ungewohnt. Dies wäre lediglich eine Übergangsphase, die ganz sicher bald vorbei sei.
Auch Amitas Vater wirkt nicht gerade entschlossen, den Kumari Bahal zu betreten. Auffällig lange betrachtet er die aufwändigen Holzschnitzereien rund um das schmale Eingangstor. Oben thront die vielarmige Durga, zu deren Füßen der Eingang zum Hof von unzähligen kleinen Totenköpfen eingerahmt ist. In ihrer Zeit als Mädchengöttin wird seine Tochter nie wieder dieses Tor durchschreiten. Für die wenigen Male, die sie im Laufe der nächsten Jahre an Zeremonien außerhalb dieses geräumigen Hauses teilnehmen wird, ist ein schmuckloser Weg über einen dunklen Nachbarhof vorgesehen. Schon heute Nacht wird Amita dort durch jene kleine Maueröffnung ins Freie gelangen, wo sie am letzten Indra Jatra-Fest ihre Vorgängerin gesehen hat. Hinter diesem eigenwilligen Vorgang steht eine Tradition, deren Herkunft niemand mehr zu benennen weiß.
*
Der Tempel der Göttin Taleju ist das höchste Bauwerk des Kathmandu-Tales. Das Heiligtum mit seinem fünfstufigen Sockel und dem filigran verzierten, dreistöckigen Dach liegt einige hundert Meter nordöstlich des Kumari-Hauses. Jedes Jahr am späten Abend des Astami, zum Ausklang des „großen achten Tages“ des Dashain-Festes, findet zwischen diesen beiden heiligen Stätten eine eigentümliche nächtliche Prozession statt. Die Kumari verlässt dann ihre Wohnstatt und geht mit ihrem Gefolge zu Fuß über den Durbar-Platz hinüber zum Tempel, um in einem speziellen Raum im Mul Chowk, dem Haupthof, an der Durga-Puja teilzunehmen. Eigenartigerweise findet diese kleine Prozession kaum öffentliche Beachtung. Die Bewohner von Kathmandu, die sich einen Monat zuvor noch glücklich schätzten, wenn sie während der Indra Jatra aus großer Entfernung einen Blick auf die Kumari erheischen konnten, hätten hier die Möglichkeit, sie aus unmittelbarer Nähe zu betrachten. Dennoch erscheinen bestenfalls einige ausländische Besucher, die von ihren Stadtführern über dieses Ereignis informiert worden waren. Für das Fernbleiben der einheimischen Bevölkerung gibt es nur eine plausible Erklärung: Es ist schließlich die furchterregende Göttin Durga, die in dieser Nacht den Weg dort hinübergeht, und ein böser Blick von ihr kann entsetzliches Leid bringen. Dies erklärt auch, weshalb jene Männer, die vor der Kumari die weißen Tücher entrollen, damit die Füße den unreinen Boden nicht berühren, niemals zu ihr aufblicken.
Im Taleju-Tempel bereitet sich die Priesterschaft auf ein ganz besonderes Ereignis vor: Ein kleines Shakya-Mädchen wird heute Nacht vom Kumari-Haus herüberkommen und nach einem geheimen Ritual als lebende Göttin dorthin zurückkehren.
Der Mul Pujari, der königliche Hauptpriester, lässt es sich nicht nehmen, die mit einem roten Tuch verhüllte Statue der Taleju höchstpersönlich vom oberen Raum des Tempels hinunter in den Hof zu tragen. Kein normaler Sterblicher, so wird behauptet, habe jemals gesehen, was sich unter dem Tuch befindet. Keiner der hinduistischen Besucher, die gestern noch daran vorbeiflaniert sind – am einzigen Tag im Jahr, an dem der Tempel für die Gläubigen geöffnet ist. Aber auch keiner der etwa fünfzig Priester, von denen jeder im Tempel seinen eigenen Verantwortungsbereich hat, durfte je einen Blick auf das Antlitz dieser Göttin werfen. Selbst von den fünf Priestern, die in der „Schwarzen Nacht“ in Anwesenheit der Kumari die nächtliche Durga-Puja zelebrieren, bekommt niemand die enthüllte Statue zu sehen. Das Bildnis der Göttin steht dabei nämlich weitgehend im Dunklen und wäre für die etwas entfernt sitzenden Priester selbst dann nur in Umrissen erkennbar, wenn sie verbotenerweise den Kopf heben würden. Allein der Mädchengöttin ist es erlaubt, einen Blick darauf zu werfen. Bevor sie auf einem kleinen Thron zu Füßen der Statue Platz nimmt, zieht der Mul Pujari mit gesenktem Haupt das Tuch weg. Ein kleines Öllicht beleuchtet spärlich die bildliche Darstellung jener Göttin, die von ihrer leibhaftigen Inkarnation kurz betrachtet und gleich darauf wieder verhüllt wird.
Wie in jedem Jahr am Morgen des Astami überquert also der Mul Pujari mit der verhüllten Göttin im Arm den Haupthof. Hier war in der Nacht zuvor der Göttin Durga ein gewaltiges Tieropfer gebracht worden. Vierundfünfzig Ziegen und ebenso viele Büffel liegen in ihrem eigenen Blut, jeweils mit einem einzigen rituellen Schwerthieb enthauptet. Ein Blutopfer, das schon seit Jahrhunderten fester Bestandteil des Durga-Kults ist.
Als junger Mann war der Mul Pujari einmal dem Gerücht nachgegangen, demzufolge es früher auch Menschenopfer gegeben habe. Er hatte historische Schriften studiert und Hinweise dafür gefunden, dass sich im 16. Jahrhundert zum Baubeginn des Tempels von Kamakhya im indischen Assam hundertvierzig Männer freiwillig haben hinrichten lassen. Ihre Köpfe waren der Shakti, dem weiblichen Gegenstück Shivas, auf Tabletts präsentiert worden. Für den Haupthof von Kathmandu aber hatte er solche Belege nicht gefunden. Seit jeher sind es offenbar Tiere, die man der Göttin Durga hier im Mul Chowk als Blutopfer bringt. Einhundertundacht Tierkadaver weisen aber nicht nur auf eine Metzelei hin, sondern auch auf eine heilige Zahl.
Nach Ansicht des Chefastrologen des Königs ist diese Zahl zusammengesetzt „aus den sieben Planeten, plus den zwei Mondphasen (zwischen Neumond und Vollmond, beziehungsweise umgekehrt) multipliziert mit den zwölf Tierkreiszeichen“. Natürlich weiß auch der Hofastrologe, dass im Sonnensystem mittlerweile neun Planeten entdeckt worden sind. Auf eine Korrektur der heiligen Zahl aber besteht er nicht, und rettet so alljährlich zwölf Ziegen und zwölf Büffeln das Leben.
Der Mul Pujari betritt jenen dunklen Tempelraum, der Aadhyro Kotha genannt wird, und stellt die verhüllte Taleju behutsam auf einen kleinen Altar. Er geht davor in die Hocke und verharrt in dem fast vollständig abgedunkelten Raum in stiller Meditation. In wenigen Stunden wird er hier ein tantrisches Ritual zelebrieren, von dessen Bedeutung für die Welt er zutiefst überzeugt ist. Auch wenn das spirituelle Wissen um jene universellen Zusammenhänge in anderen Teilen der Welt offenbar gar nicht mehr vorhanden ist. Jedenfalls weisen die Fragen westlicher Besucher, die ihn gelegentlich aufsuchen, darauf hin. Die Begriffe „Tantra“ oder „tantrisch“ werden von diesen Leuten fast immer nur mit sexuellen Praktiken in Verbindung gebracht. Das tantrische Durga-Ritual aber hat damit gar nichts zu tun. Da es aber seit Jahrhunderten von den Priestern als Geheimnis behandelt wird, kann der Mul Pujari solche, durch westliche Sichtweisen geprägten Vorurteile, auch gar nicht zerstreuen. Wie sollte er Nichteingeweihten einen Vorgang beschreiben, den er selbst nur gefühlsmäßig erlebt, in dem er abtaucht in einen transzendentalen Zustand?
Das tantrische Ritual ist eben nicht das friedliche Ritual der vedischen Puja, die überwiegend öffentlich zelebriert wird und den Frieden und die Liebe in den Mittelpunkt stellt. Die vedischen Rituale sind daher den meist christlich geprägten Menschen aus dem Westen viel leichter zu vermitteln. Der Tantrismus aber ist letztlich unvereinbar mit deren Weltbild, in dem es nur einen gerechten und verzeihenden Gott gibt. Die furchterregende Seite wird in deren Kulturkreis seinem Gegenspieler, dem Satan, zugesprochen. Blutopfer sind ihnen höchstens noch aus Bibeltexten bekannt und das Versetzen in einen transzendentalen Zustand wird bestenfalls noch von einigen fundamentalistischen christlichen Sekten oder versprengten Klostergemeinschaften praktiziert. Wie also sollte er ein Ritual beschreiben, in dessen Mittelpunkt die Furchtlosigkeit und eine gefährliche Unruhe stehen?
Der tantrische Priester beschränkt sich daher bei solchen Gesprächen meist darauf, zu erklären, dass er sich in einen Zustand versetzt, in dem die Göttin schließlich von ihm Besitz ergreift. Und jemanden wie ihn, der diesen Zustand einige hundert Mal durchlebt hat, stört dann auch nicht das oft abfällige Lächeln seiner westlichen Gesprächspartner.
Nach seinem Sieg über die Malla-Dynastie vor mehr als zweihundert Jahren hat König Prithivi Narayan aus der Shah-Dynastie die Ausübung der tantrischen Tempel-Rituale bei der newarischen Priesterschaft belassen. Da die Schah-Herrscher das Kathmandu-Tal von außen erobert haben, und nicht der Volksgruppe der Newar entstammen, waren sie im Gegensatz zu den Malla-Königen nie mit dem Tantrismus vertraut. Auch deren jeweiliger Oberpriester nicht, weshalb der Mul Purohit auch heute noch, trotz seiner hohen Stellung, akzeptieren muss, an den tantrischen Ritualen im Bereich des Taleju-Tempels nicht teilnehmen zu dürfen.
Die Durga-Puja, die immer exakt um 22.10 Uhr beginnt, ist einer der Höhepunkte des Tempeljahres. Die Inthronisation einer Kumari aber, bei der dem ausgewählten Shakya-Mädchen die Göttlichkeit der Taleju eingehaucht wird, gehört zu den wichtigsten spirituellen Erfahrungen eines newarischen Priesterlebens. Der Hauptpriester des Tempels, der vor der verhüllten Statue sitzt, hat schon viermal in seiner langen Priesterzeit jene göttliche Einhauchung erlebt, in deren Verlauf sich der Körper des Mädchens rot färbt. In der heutigen Nacht wird er dem Werden einer lebenden Göttin sicher zum letzten Mal in diesem Leben beiwohnen dürfen.
In wenigen Stunden wird er Uddav, seinen Sohn, der ihm als Assistent zur Seite stehen wird, hereinbitten und ihn mit den Handreichungen dieser ganz besonderen Puja vertraut machen. Der Sohn des Mul Pujari hat sich für diesen speziellen Anlass eine Doura Suruwal in der roten Farbe der Kumari schneidern lassen.
Vor etlichen Jahren wurde er von seinem Vater in die geheimen Riten des allgemeinen Tempeldienstes eingeweiht. Anschließend wurde ihm die Dhkysha – die Priesterweihe – verliehen. Seither hat Uddav die in Sanskrit verfassten heiligen Schriften der Veden weiter studiert, übernahm verschiedene Aufgaben im Tempel und versah gelegentlich den Priesterdienst bei der täglichen Morgen-Puja im Kumari-Haus. In absehbarer Zeit wird Uddav seinem Vater auf den Posten des Mul Pujari nachfolgen, so wie dieser das Amt einst von seinem Lehrer übernommen hatte. Noch aber sitzt der derzeitige Hauptpriester allein in der Dunkelheit des Aadhyro Kotha und bittet die Göttin Taleju um Kraft und spirituelle Eingebung für das tantrische Ritual der kommenden Nacht.
Der Haupteingang zum Hof des Kumari Bahal – darüber das Bildnis der vielarmigen Göttin Durga
Detailansicht: die vielarmige Göttin Durga
Die künftige Kumari springt vor ihren Eltern die schmale Treppe hinauf. Das Mädchen kennt das verwinkelte Haus ja bereits vom letzen Besuch. Diesmal aber wird ihr auch der Eintritt in den geräumigen Thronsaal in der oberen Etage gewährt.
Dieser Raum hier ist viel höher als bei ihr zu Hause, wo sich die Besucher an der Tür immer den Kopf anstoßen, obwohl ihnen ihr Baa sagt, sie sollen aufpassen. Und viel größer ist er auch. Die drei Fenster sind so groß, dass sie fast vom Boden bis zur Decke reichen… aber trotzdem ist es hier ein wenig dunkel.
Zielstrebig geht Amita auf den kleinen roten Thron mit den Löwenbeinen zu. Im Volksmund wird er auch Löwenthron genannt. Er dominiert den Saal allein schon durch seinen Standort in der Mitte des Raumes und dem darüber aufgespannten roten Baldachin mit den goldenen Fransen.
„Da wirst du künftig sitzen“, sagt der Chitaidar.
Amita hatte ihn sofort als jenen Mann wiedererkannt, der mit ihr und ihrem Vater unlängst im Königspalast war. Doch als Amita auf den Thron klettern will, wird sie von ihm daran gehindert.
Wann aber darf sie denn dort sitzen? Der Mann hat gesagt, er will sich erst ein wenig mit ihr unterhalten, damit sie sich besser kennen lernen. Aber sie kennt den Mann doch schon! Und als sie ihm das gesagt hat, haben alle gelacht… Warum sehen sich denn alle so komisch an? Sie hat sich doch nur auf Mas Schoß gesetzt und gefragt, wann sie wieder nach Hause gehen. Ma sagt, dass hier ganz viele Menschen herkommen werden, um sie zu besuchen. Deshalb muss sie auch immer hier sein… Die Menschen werden alle ganz lieb zu ihr sein und sie verehren, weil sie ganz, ganz wichtig für diese Leute sein wird. Aber warum sie so wichtig für diese Leute sein wird, das hat Ma nicht gesagt.
Noch hat Amita die junge hübsche Frau nicht entdeckt, die sie aufmerksam von einer Ecke des Raumes aus beobachtet. Sie ist die unverheiratete Tochter des Chitaidar-Paares, und nichts passt weniger zu dieser freundlichen Person, als ihr Name: Durga.
Sie ist fasziniert – von der Anmut des kleinen Mädchens, seinem natürlichen Lachen und dem zierlichen schmächtigen Körper. Die neue Kumari, so scheint es, ist ein verletzliches Wesen, das eines ganz besonderen Schutzes bedarf.
Durga ist in einem Alter, in dem Nepalesinnen ihre ersten Kinder gebären. Und noch bevor sie mit der neuen Kumari einen Satz wechseln konnte, hat sie an sich ein heftig einsetzendes Gefühl registriert, für das der Begriff „Zuneigung“ zu wenig wäre. Das sensible Kind dort, das spürt sie, wird sie brauchen, um sich in diesem Palast zu Hause zu fühlen und seiner göttlichen Aufgabe nachkommen zu können. Durga ist entschlossen, der Göttin eine ergebene Dienerin und dem Mädchen eine schwesterliche Freundin zu sein.
Die junge Frau in der Ecke dort kommt ihr bekannt vor. Aber sie weiß, dass sie sie noch nie gesehen hat. Sie lächelt die fremde Frau an und die fremde Frau lächelt zurück.
Niemandem im Raum ist der kurze Blickwechsel zwischen den beiden entgangen, jener emotional aufgeladene Augenblick, in dem sich eine stumme Adoption vollzog. Dabei ist keineswegs sicher, ob Durga sich darüber im Klaren ist, dass sie in diesem Moment auch für ihr eigenes Schicksal eine entscheidende Weiche gestellt hat. Zumindest im nächsten Jahrzehnt wird sie unverheiratet bleiben müssen – denn kein Ehemann würde akzeptieren, dass seine Frau das Bett nicht mit ihm, sondern mit der Kumari teilt. Aber auch keinem Mann zuliebe würde Durga den Dienst für die lebende Göttin aufgeben. Eine Herausforderung, die sie angesichts der kleinen Amita in ungewohnte Erregung versetzt.
Sie freut sich, weil diese Frau auf sie zukommt. Sie kennt diese Frau nicht, aber sie spürt, dass sie nett zu ihr sein wird. Und als die Frau sie an die Hand nimmt, rutscht sie von Mas Schoß und geht mit ihr mit.
Mimita Shakya spürt einen Schmerz, als ob ihr das Herz von einem Ring zusammengeschnürt wird. Sollte sie nicht froh sein, dass ihre Tochter jener Frau so vertrauensvoll folgt, die doch in den nächsten Jahren eine wichtige Person im Leben von Amita sein wird? Doch es setzt sich das mütterliche Gefühl der Trauer durch, darüber, dass sich für Amita der Wechsel offenbar ohne jeden Abschiedsschmerz vollzieht. Dann aber macht sich Mimita Shakya klar, dass das Kind die Dimension des Ereignisses ja im Moment noch gar nicht begreifen kann.
Das rote Kleid mit den goldenen Fäden dort ist wunderschön. Und auf einem Tisch steht die goldene Krone der Kumari mit ganz vielen bunten Steinen. Die fremde Frau sagt, dass die Krone „Mukut“ heißt. Und schon bald darf sie diese Mukut aufsetzen.
„Das Kleid aber darfst du schon jetzt anziehen“, sagt die Frau und Amita ruft: „Ohhh!!!“
*
Im Vorraum des Aadhyro Kotha hat die Frau des Mul Pujari gemeinsam mit ihrem Sohn Uddav und einem Dutzend weiterer Taleju-Priester bereits die Shagun, jene als „heiliges Essen“ bezeichneten Opfergaben, aufgebaut, die der Kumari während der Durga-Puja gereicht werden. Der königliche Oberpriester ist gekommen, um zu kontrollieren, ob alles in ausreichender Weise vorhanden ist. Denn selbst wenn die Mädchengöttin von vielen der Speisen nur wenig nehmen wird, so muss von allem genügend vorrätig sein, falls sie doch einen größeren Appetit entwickeln sollte. Außerdem wird die Göttin Durga heute Nacht erstmals in einer neuen Inkarnation erscheinen. Da sollten diesbezüglich keine unangenehmen Überraschungen passieren.
Uddav Karmacharya (Mul Pujari) – Hauptpriester im Taleju-Tempel (diesmal privat)
Die Bedeutung der tantrischen Opfergaben sind klar definiert und verschiedenen Gottheiten zugeordnet. Das Büffelfleisch steht natürlich für das Blutopfer, welches man der Durga bringt, jener furchtlosen Manifestation der Parvati. Und weil es auch für Parvatis Gatten Shiva eine solche personifizierte Manifestation gibt – den furchtlosen Bhairav nämlich –, muss auch ein Ziegenbock geopfert werden. Da es in Nepal aber mehr Büffel als Ziegenböcke gibt, begnügt man sich seit vielen Generationen damit, der Kumari das Ziegenfleisch in allegorischer Form als schwarze Bohnen zu reichen. Angeblich spenden gerade sie eine besonders starke Energie. Statt des Erpels, als weiteres Tieropfer einer weiteren Göttin, werden gekochte Enteneier serviert. Diese stammen zwar bekanntlich nicht vom Erpel, sondern von dessen weiblichen Pendant, gehören aber ohnehin zum Speiseplan der Mädchengöttin. Ob im Kuchen oder in anderen Speisen – wo immer Eier verwendet werden, stammen sie von der Ente, und das hat seinen Grund. Die Kumari darf nämlich nichts vom Huhn essen, weil das – nach Überzeugung der hinduistischen wie der buddhistischen Priesterschaft – zur geistigen Verwirrung führen würde. Zu dieser Erkenntnis ist man jedenfalls irgendwann einmal gekommen, und niemand vermag mehr zu sagen wann und warum.
Die einzelnen Opfergaben werden durch schmale Ingwerstreifen voneinander getrennt, die sie wie eine Mauer schützen, um deren spirituelle Energie zu erhalten. Ganz oben auf der tantrischen Tafel liegt dann noch gerösteter Fisch, der Lakshmi symbolisiert – die Göttin des Wohlstands. Und um alle diese Götter glücklich zu machen, werden als Beilagen Linsenkuchen, Fladenbrot und Flockenreis serviert.
Zu einer tantrischen Puja aber gehört auch jenes „heilige Wasser“, das vielfach als „Geschenk der Götter“ bezeichnet wird. Dieses heilige Wasser wird in drei verschiedenen Varianten ausgeschenkt, die ihrerseits unterschiedliche Bedeutungen und allesamt eine berauschende Wirkung haben. Nacheinander werden der Mädchengöttin Rato Rakshi (ein roter Schnaps), Jhaand (weißes Reisbier) und Ela (ein hochprozentiger Reiswein) gereicht. Die drei alkoholischen Getränke stehen ihrerseits für das Blut der Tieropfer, die Milch heiliger Kühe und im Übrigen schlichtweg für die Unsterblichkeit.
Der Mul Purohit ist mit den Vorbereitungen für die erste Durga-Puja der neuen Mädchengöttin sehr zufrieden. Gleich wird er hinübergehen in den Kumari Bahal, um dort die zeremonielle Übergabe der Yantra, der Kumari-Kette, von der alten auf die neue Mädchengöttin vorzunehmen. Es erfüllt den Oberpriester des Königs mit einem Gefühl der Zufriedenheit, dass nämlich er, dem man die Teilnahme an der nächtlichen Durga-Puja verwehrt, schon vorher diese Insignien der göttlichen Macht weitergeben darf. Ihm obliegt es, die kleine Göttin auf diese Weise willkommen zu heißen und sie damit überhaupt erst in jenen Stand zu setzen, der ihr Einlass in den dunklen Tempelraum des Aadhyro Kotha verschafft. Der Mul Purohit verneigt sich nach allen Seiten und macht sich auf den Weg.
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„Du hast wunderschönes Haar!“, sagt Durga, nachdem sie Amitas Zöpfe gelöst und damit begonnen hat, das lange schwarze Haar mit einer Bürste durchzukämmen. Sie geht dabei sehr behutsam vor. Niemals könnte sie sich verzeihen, der Kumari Schmerz zugefügt zu haben. Auch wenn Amita noch gar nicht die Kumari ist. Das nämlich ist im Moment noch Rasmila.
Durga muss daran denken, dass das Mädchen, mit dem sie die letzten Jahre das Bett geteilt hat, jetzt ein Stockwerk tiefer vor sich hin stiert und stumm auf seine Ablösung wartet. Durgas Vater, der Chitaidar, hatte Rasmila erst an diesem Morgen auf nicht sehr behutsame Weise mitgeteilt, dass dies ihr letzter Tag im Kumari Bahal sein wird. Als Durga kurz darauf zu ihr kam, begegnete sie nicht etwa einem traurigen Mädchen – vielmehr wirkte die Kumari gleichermaßen fassungslos wie verängstigt. Sie hatte sich offensichtlich entschlossen, mit niemandem mehr zu sprechen. Auch mit Durga nicht, die bisher ihre Dienerin und Freundin war. Dabei hatte gerade sie in den letzten Monaten immer wieder den Versuch unternommen, die Kumari auf ihre baldige Ablösung vorzubereiten. Durga hatte ihr von der Familie erzählt, in deren Haus sie „irgendwann einmal“ zurückkehren würde. Und während sie der Kumari Unterricht in Lesen, Schreiben und den Grundrechenarten erteilte, hatte sie ihr von deren klugen Schwester berichtet. Sie hatte erzählt, dass sie Pramila heißt und Mathematik studiert. Sie würde ihr, „wenn sie mal nicht mehr hier wohnen wird“, sicher helfen, eine gute Schülerin zu werden. Die Kumari aber hat diese Signale offenbar nicht zur Kenntnis genommen.
Während Durga noch einmal die letzten Wochen vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lässt, bürstet sie in gleichmäßigen Bahnen das lange Haar jenes Mädchens, welches in wenigen Stunden Rasmilas Nachfolgerin werden wird.
Es ist schön, wie diese Frau, die Durga heißt, aber die sie Durga-didi (Durga – große Schwester) nennen darf, das Haar bürstet. Es tut überhaupt nicht weh. Und wenn man die Augen zu macht, ist es sogar noch schöner. Durga-didi hat gesagt, dass sie das jetzt jeden Morgen machen will. Was wird wohl Ma dazu sagen, wenn man nun jeden Tag hierher fahren muss? Aber hat Ma nicht gesagt, dass sie jetzt hier wohnen soll?
Durga empfindet es als einen wahrhaft erregenden Vorgang, daran mitzuwirken, aus diesem kleinen, anmutigen Mädchen eine lebende Göttin zu machen. Auch wenn die Vergöttlichung selbst natürlich in der Hand der Priesterschaft liegt, so bereitet sie doch das Mädchen zumindest äußerlich darauf vor. Mit einem Blick kontrolliert Durga noch einmal, ob alles dafür bereit liegt – das Öl, mit welchem sie das Haar einreiben, das rote Tuch, mit dem sie es zu einem Knoten hochstecken wird. Und die Schminkutensilien, mit denen sie später, vor dem nächtlichen Gang zum Taleju-Tempel, das kindliche Gesicht in ein göttliches Antlitz verwandeln wird. Jeder Handgriff ist eingeübt, war in der Vergangenheit schon hunderte Male bei Rasmila erfolgt, seit Durga vor einigen Jahren die Betreuung der Kumari von ihrer Mutter übernommen hatte. Ambika und Sita, ihre beiden älteren Schwestern, hatten sich schon früh entschieden, eine eigene Familie zu gründen. Durga aber hat es nie bereut, sich in den Dienst der Dyo Maiju, der Mädchengöttin, gestellt zu haben. Und als sie heute die künftige Kumari, dieses fröhliche und verletzlich wirkende kleine Mädchen gesehen hat, fand sie wieder einmal bestätigt, dass ihr Platz an deren Seite ist.
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Über Nepals Hauptstadt ist bereits die Dunkelheit hereingebrochen. Aber noch immer sind die Straßen sehr belebt, an diesem Astami, dem achten Tag des – nach Indra Jatra – zweitwichtigsten religiösen Festes. Die Stufen der gewaltigen, dreihundert Jahre alten Maju-Deval-Pagode auf dem Durbar-Platz sind an diesem Abend Treffpunkt der Jugend von Kathmandu. Die Teenager in Bluejeans und T-Shirts mit den aufgedruckten Fotos internationaler Popstars unterscheiden sich äußerlich kaum von ihren Altergenossen am Times Square oder dem Piccadilly Circus. Nur wenige Meter entfernt, stellt sich das traditionelle Nepal in Reih und Glied an, um in den Kumari Bahal eingelassen zu werden. Und gelegentlich mischen sich diese beiden Gruppen. Wenn die Besucher im Hof des Kumari-Hauses ihre Schuhe ausziehen, so ist manche Reebok-Kopie darunter, abgestellt von jungen Männern, die sich die Ray-Ban-Sonnenbrille aus chinesischer Produktion lässig ins gegelte Haar hochgeschoben haben. Niemandem von ihnen wird die Kumari heute eine Tika auf die Stirn drücken, und niemand ist mit dieser Absicht hergekommen. Sie wissen, dass sie in dieser Nacht eine neue Kumari bekommen und stellen im Hof unter deren Fenster ihre Opfergaben nieder. Und niemand kann sagen, ob es die letzten Opfergaben der scheidenden oder die ersten der neuen Mädchengöttin sind.
Einige der Besucher haben aber auch ein ganz anderes Ziel. Wie in jedem Jahr an Astami sitzen nämlich im Stockwerk unter dem Thronsaal acht lebende Kopien der königlichen Kumari. Diese werden Gan-Kumaris genannt – kindliche Göttinnen für einen Tag. Es heißt, sie würden gemeinsam mit der Taleju die insgesamt neun Hausgöttinnen der einstigen Malla-Könige repräsentieren. Kaum jemand in Kathmandu aber kennt sämtliche Namen dieser neun Göttinnen. Ähnlich wie es vielen Bewohnern der christlichen Länder Schwierigkeiten bereiten dürfte, die Namen aller zwölf Apostel zu nennen. Vielfach aber werden die Gan-Kumaris auch als Verkörperung der acht verschiedenen Aspekte der Göttin Durga angesehen. Doch sie dürfen die königliche Kumari nicht zu Gesicht bekommen. Die offizielle Begründung dafür lautet, dass jenes dritte Auge, das auch jeder Gan-Kumari auf die Stirn geschminkt worden ist, niemals in das der Kumari blicken dürfe. Ansonsten würde deren göttlicher Blick verloren gehen.
Die acht Shakya-Mädchen werden im ersten Stock des Kumari Bahal gemeinsam zu Tagesgöttinnen geweiht. Viele Familien sind stolz, wenn die eigene Tochter, Enkelin oder Cousine auf einem der Throne für die Gan-Kumari Platz nehmen darf. Anschließend werden sie von ihrem Vater oder einem anderen männlichen Familienmitglied zum Taleju-Tempel hinübergetragen, wo sie von Priestern in einer eigenen Puja verehrt werden.
Die kleinen Tagesgöttinnen und ihre Familien wissen nicht, dass mancher der Priester heute lieber nicht die Puja der Gan-Kumaris zelebrieren würde. Denn keiner, der hierfür eingeteilt ist, darf in der Nacht auch noch an der Durga-Puja im Aadhyro Kotha teilnehmen – an dem sich dort vollziehenden spirituellen Erlebnis einer transzendenten Vermischung des Menschlichen mit dem Göttlichen.
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Im großen Saal in der zweiten Etage des Kumari Bahal hat mittlerweile die noch amtierende Mädchengöttin mit unbewegtem Gesicht auf dem Löwenthron Platz genommen. Sie ist jetzt zwölf und auf den Tag genau seit acht Jahren die königliche Kumari von Kathmandu. Heute Morgen hat ihr der Chitaidar nicht nur mitgeteilt, dass sie die rote Kleidung der Kumari nur noch vier Tage tragen dürfe, sondern auch, dass sie diese bereits im Haus ihrer Eltern verbringen wird.
Ihrer Eltern? Sind das etwa diese kleine rundliche Frau im grünen Sari dort drüben, die ihr ständig zunickt, und der Mann mit dem kurzen Schnurrbart neben ihr? Und wer ist das Mädchen mit der kreisrunden Brille? Ihre Schwester, die Studentin? Alle diese Leute gehören zu ihrer Familie. Denn die Frau dort, von der man ihr seit jeher sagt, sie sei ihre Ma, kennt sie vor allem als Schwester der Chitaidar. Deshalb sagt sie ja zur Chitaidar „Kaki“ (newarisch: Tante) und zum Chitaidar sagt sie „Kaka“ (newarisch: Onkel). Und da sind noch Durga-didi und ihre Schwestern – und die beiden Brüder von Durga-didi, die vor einiger Zeit geheiratet haben und seither mit ihren Familien in einem Flügel des Kumari Bahal wohnen. Drei Kinder sind während ihrer Kumari-Zeit hier geboren – Sourav und Gaurav und im letzten Monat die kleine Garima. Das ist ihre Familie!
Auf einem schmalen Hocker neben der Kumari sitzt Amita in dem neuen Kleid aus rotem und goldenem Brokat. Eigentlich lümmelt sie eher darauf, denn noch hat ihr niemand gezeigt, wie sich eine Göttin würdevoll verhält. Auch sonst hat sie, trotz der roten Kleidung, noch nichts von einer Göttin. Die Kleine wirkt auf ihre Eltern eher kostümiert.
Zwei Taleju-Priester murmeln die Mantras vor sich hin, jene seit vielen Generationen mündlich überlieferten heiligen Sprüche. Noch einmal verneigt sich der königliche Oberpriester vor jenem Mädchen, welches die vergangenen acht Jahre die königliche Kumari von Kathmandu war. Dann nimmt er ihr die grobgliedrige Kumari-Kette vom Hals und legt sie Amita um. Sofort beginnt das kleine Mädchen neugierig das schwere Schmuckstück, das immerhin die Macht der Göttin Taleju symbolisiert, zu untersuchen. Aufgeregt blickt sie zu ihren Eltern hinüber und beginnt mit dem Yantra zu spielen, jenem goldenen Anhänger in Form eines Donnerkeils, dem man eine magische Kraft nachsagt. Nun wird ihr auch die Nagmala um den Hals gelegt, jene hölzerne Schlange, deren Funktion der Schutz der künftigen Mädchengöttin vor der Macht der Dämonen ist.
Zwischen den Eltern der scheidenden und denen der neuen Kumari findet kein persönlicher Kontakt statt, wenngleich man sich aus den Augenwinkeln heraus beobachtet. Amitas Vater fällt auf, dass beide Elternpaare selbst für nepalesische Verhältnisse auffallend klein sind. Aber er verbindet diese Beobachtung nicht etwa mit der Frage, ob dahinter etwa ein Kalkül stecken könnte. Es käme dem tief gläubigen Amrit Man Shakya nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, ob der Chitaidar oder das Kumari-Komitee ganz profan nach besonders kleinen Kumari-Eltern Ausschau gehalten haben könnten – im Hinblick darauf, dass dann auch das Mädchen möglichst lange einen besonders kindlichen Eindruck machen würde. Jedenfalls fällt Amrit Man Shakya auf, dass auch der Vater der langjährigen Kumari nicht nur klein, sondern, wie er selbst, ausgesprochen schmächtig ist. Und es ist nicht zu übersehen, dass sich an seiner Frau bereits erste Anzeichen zu einer rundlichen Figur zeigen, wie sie bei jener Kumari-Mutter dort bereits ausgeprägt sind. Da dies aber hierzulande als Zeichen von Wohlstand gewertet wird, ist Amrit Man Shakya darauf sogar ein wenig stolz. Er weiß nicht, womit der Vater der nun scheidenden Kumari sein Geld verdient, um die Familie zu ernähren. Ihm aber ist es gelungen, mit dem Job als Busfahrer des nepalesischen UN-Quartiers sogar etwas Geld zur Seite zu legen, um in absehbarer Zeit am Stadtrand ein kleines Haus zu erwerben. Erst in diesem Moment fällt ihm ein, dass Amita am Ende ihrer Kumari-Zeit wohl nicht mehr dorthin zurückkehren wird, von wo sie an diesem Morgen gemeinsam aufgebrochen waren.
Amitas Mutter hingegen stellt sich die Frage, wer sich eigentlichen glücklicher schätzen darf: sie, deren Tochter gerade die göttlichen Insignien erhält, oder die Mutter jenes Mädchens, der in diesem Augenblick eine Tochter zurückgegeben wird?
Das Mädchen, das bis eben die königliche Kumari war, wird zu der kleinen rundlichen Frau und dem Mann mit dem Schnurrbart geführt. Gleich wird man sie in einer Sänfte zum Haus dieser ihr fremden Menschen tragen.
Amita aber ist noch immer eine Kumari auf Widerruf. In dieser „Schwarzen Nacht“ wird sich zeigen, ob sie sich des Kumari-Thrones als würdig erweist. Doch keiner der anwesenden Priester will das bevorstehende grausige Defilee, vorbei an den einhundertacht geköpften Tieren, als eine weitere Prüfung verstanden wissen. Niemand hier im Thronsaal hegt irgendeinen Zweifel daran, dass der Hofastrologe mit seiner Analyse richtig gelegen und die wahre Kumari gefunden hatte.
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Gegen 22 Uhr ist der Durbar-Platz wie leer gefegt. Die Jugendlichen sind um diese Uhrzeit – anders als ihre Altersgenossen in den westlichen Metropolen – längst zu Hause. Nur im benachbarten Stadtbezirk Thamel haben noch einige Bars geöffnet. Doch die Preise in den Etablissements des Touristenviertels, die „Full Moon“ oder „Via Via“ heißen, sind für die meisten einheimischen Teenager unbezahlbar.
In den Seitengassen westlich des Durbar-Platzes aber ertönt in dieser Feiertagsnacht überall noch Musik. Vor dem Kashtamandap, jener überdachten Plattform aus dem 14. Jahrhundert, dem Kathmandu seinen Namen verdankt, und wo sonst Gemüsehändlerinnen ihre Waren feilbieten und streunende Hunde Mittagsschlaf halten, haben Menschen verschiedener Kasten um eine Gruppe newarischer Musiker Platz genommen. Weiter nördlich, in der Nähe des Krishna-Tempels, wird in dieser Nacht eine riesige, mit Ziegenfell bespannte Trommel geschlagen, um die bösen Geister fernzuhalten. Denn immerhin ist es ja einst in der „Schwarzen Nacht“ gewesen, in welcher der Büffeldämon Mahisasura sein Unwesen trieb. Kaum jemand aber nimmt zur Kenntnis, wie sich neben dem Kumari Bahal eine kleine Tür öffnet und zunächst ein newarisches Musikanten-Trio, dann zwei Männer mit riesigen Stoffballen im Arm und schließlich die neue Kumari mit dem weiteren Gefolge erscheinen. Ein ernst blickender Mann mit einem bunten Topi auf dem Kopf hält eine große, von einem Akku gespeiste Neonröhre in die Höhe. Vor Amita werden bahnenweise Tücher entrollt, über die sie barfuß schreitet, an beiden Seiten von zwei Frauen an den Händen geführt. Sie haben dafür Sorge zu tragen, dass die – künftige – Mädchengöttin nicht strauchelt.
In dieser Nacht, das spüren alle in dieser kleinen Gruppe, ist das gesamte Universum in eine ganz besondere Stimmung getaucht. Noch hat die Göttin Taleju zwar nicht von jenem kleinen Mädchen Besitz ergriffen, das schon die Insignien der Göttlichkeit um den Hals trägt. Doch die Göttin hat die Aura dieses außerordentlich hübschen Kindes bereits erreicht, bereit sich in dieser Nacht mit ihr zu vereinen. Man befindet sich in dieser Twilight Zone, in dem sich das Potenzial großer Veränderungen formiert. Denn durch jede neue Kumari werden auch neue Energien mobilisiert.
Es ist aber auch die Zeit der Bilanzen. Und so werden in dieser Nacht von vielen Nepalesen, die weltweiten und nationalen Veränderungen der letzten Monate mit dem Wirken und Sein der nun scheidenden Kumari in Verbindung gebracht. Manch einer aus Amitas kleinem Gefolge mag sich die zwischen Hoffnung und Sorge angesiedelte Frage stellen, wie wohl in einigen Jahren die Bilanz dieser Kumari aussehen wird. Das Land jedenfalls, dessen Schutz sie heute Nacht übernehmen wird, gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, und es hätte dringend Veränderungen zum Guten nötig.
Durga-didi hat ihr erzählt, dass die Männer das mit den Tüchern machen, weil ihre Füße den Boden nicht berühren sollen. Doch dann hat sie zu Durga-didi gesagt, dass sie ja einfach nur die Schuhe anziehen muss. Da hat Durga-didi gelacht und den Kopf geschüttelt. Und dann hat sie gesagt: „Das geht nicht! Eine Kumari trägt nämlich keine Schuhe!“
Die beiden Männer haben zwei etwa zehn Meter lange weiße Stoffbahnen dabei. Um eine verzögerungsfreie Prozession zu gewährleisten, müssten immer dann, wenn die Kumari eine der beiden Stoffbahnen betritt, zwei Männer nach hinten laufen, um die eben überschrittene Bahn nach vorn zu holen. Dazu aber hätte es insgesamt vier Männer bedurft, statt jener zwei, die eben noch – statt nach hinten zu laufen – mit dem Ausbreiten der vorderen Stoffbahn beschäftigt sind. Seit Jahren stört es alle, die an diesem Zug teilnehmen, dass die Prozession zwischendurch immer wieder ins Stocken gerät. Aber niemand fühlt sich dafür verantwortlich, zwei weitere Männer mit dieser Aufgabe zu betrauen. Die Einzige, die daran keinen Anstoß nimmt, ist Amita.
Immer wenn alle stehen bleiben, dreht sie sich zu ihrer Ma um, die dann lacht und ihr zunickt. Und Baa läuft dauernd neben dem Zug her und knipst mit seinem Fotoapparat. Manchmal blitzt er ihr auch direkt in die Augen. Aber nicht mit Absicht. Wo ist denn Durga-didi? Als der Zug wieder stoppen muss, weil die Männer mit den Tüchern nicht nachkommen, entdeckt sie Durga-didi ganz hinten, wo es ziemlich dunkel ist. Durga-didi nickt ihr zu. Sie würde ihr gern zuwinken, aber die beiden Frauen neben ihr halten die Hände fest.
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Der alte Hauptpriester des Taleju-Tempels hat die fünf Priester, die ihm assistieren werden, zu einer kurzen Puja in den Aadhyro Kotha gebeten. Der sakrale Raum wird nur durch kleine Öllichter, die zwischen den Hörnern von neun Büffelköpfen aufgestellt wurden, spärlich beleuchtet. Die verhüllte Statue der Göttin ist mehr zu erahnen als zu sehen.
Der Tempel der Göttin Taleju (Außenansicht)
In wenigen Minuten wird Uddav das Mädchen am Tor zum Hof in Empfang nehmen. Dann werden sie gemeinsam auf dem roten Läufer im Uhrzeigersinn an den getöteten Tieren vorbeilaufen. Das Mädchen wird keine Angst haben, da ist sich der junge Priester sicher. Denn nicht er wird es an den Kadavern vorbeiführen, sondern bereits die unsichtbare Energie der furchtlosen Durga.
Eben hat Uddav die rituellen Gegenstände unweit des kleinen Throns unter der verhüllten Taleju-Statue aufgebaut, von wo aus er sie später seinem Vater reichen wird. Einige dieser Gegenstände hat er noch nie zuvor gesehen, weiß nicht einmal etwas über ihre Funktion – die Patro beispielsweise, eine mit Silber ausgeschlagene Gehirnschale eines Menschen, an deren Rändern kleine Totenköpfe eingraviert sind. Oder das zur Rute gebundene heilige Gras „kusa“, welches Botaniker unter dem Namen Eragrotis cynasuroides kennen. Seiner spirituellen Wirkung wegen wird es normalerweise zur Purifikation im Tempelraum ausgestreut. Uddav aber fragt nicht nach der Bedeutung dieses nun zur Rute gebundenen Grasbüschels. Jeder Priester soll nämlich nur so viel von den tantrischen Geheimnissen wissen, wie es für seine Tempelarbeit notwendig ist.
Sie blickt zu dem riesigen Tempel hinauf, der in der Dunkelheit richtig gefährlich aussieht… Einer der beiden Männer, die die Tücher ausgerollt haben, hebt sie nun hoch. Plötzlich kann sie auf Ma und Baa herunterschauen… und auch auf Durga-didi, die immer noch im Dunkeln steht.
Am Tor zum Mul Chowk, dem Haupthof vor dem Taleju-Tempel, setzt der Mann das Mädchen ab, welches bereits wie die Kumari gekleidet und geschminkt und doch noch immer die kleine Amita aus dem Stadtbezirk Bagbazar ist. Dunkel hebt sich der große Hof, an dessen Tor die Gefolgschaft des Mädchens zurückbleiben muss, vor der weißen Rückfront des Hanuman Dhoka-Palastes ab. Obgleich Amitas Mutter weiß, was sich an Astami im Mul Chowk abspielt, bekommt sie beim Anblick der vielen toten Tiere einen gewaltigen Schreck. Wie wird Amita diesen entsetzlichen Anblick verkraften? Für einen kleinen Moment durchzuckt sie die Hoffnung, das Mädchen werde sich losreißen und schreiend in ihre Arme fliehen. Niemals werde die Priesterschaft oder gar Mousuf Sarkar ein solch ängstliches Kind als Inkarnation der furchtlosen Göttin Durga akzeptieren. Doch Amita lässt sich von dem Taleju-Priester ohne Probleme über den roten Läufer führen, vorbei an all den Tierkadavern.
Sie bleibt stehen und blickt nach hinten zu dem Tor vor dem großen Tempel. Und weil niemand mehr ihre Hände festhält, winkt sie Durga-didi zu. Aber nicht Durga-didi winkt zurück, sondern ihre Ma.
Die Mutter der künftigen Kumari beginnt zu zittern. Es ist ein heftiges Zittern, und trotz der lauen Oktobernacht ist ihr plötzlich sehr, sehr kalt. Ihr Mann legt sanft den Arm um sie und führt sie weg von diesem grauenvollen Ort. Als Buddhisten haben sie nur wenig Verständnis für dieses hinduistische Schlachtritual. Als Amrit Man Shakya seine fröstelnde Frau aus dem Tempelbezirk hinaus auf die Straße führt, ist in einiger Entfernung die große Trommel des Krishna-Tempels zu hören.
Durga bemerkt, wie sich das kleine Mädchen, das ihr in den wenigen Stunden ans Herz gewachsen ist, vor dem Betreten des Aadhyro Kotha noch einmal zu ihr umdreht. Trotz der Entfernung und trotz der Düsternis spürt sie die starke emotionale Verbundenheit zu diesem Kind. Wenn dieses Mädchen nachher den Tempelraum wieder verlassen wird, wird es nicht mehr die gleiche Person sein. Dann wird sie der Kumari in einem der Nebenräume auf Anweisung des Mul Pujari die Mukut auf den Kopf setzen. Abermals wird sich Durga als ergebene Dienerin der einzigen lebenden Göttin der Welt erweisen.
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Ein kühler Herbstwind pfeift über den nächtlichen Durbar Platz. Mimita Shakya zieht den breiten Paschminaschal enger um den Hals und schmiegt sich dicht an ihren Mann. Auf dem Weg nach Hause war sie vorhin plötzlich stehen geblieben und hatte erklärt, sie wolle in dieser „Schwarzen Nacht“ die Kumari sehen. Sie sprach nicht von Amita, sondern von der Kumari. Amrit hatte sofort zugestimmt, und war mit ihr zum Durbar-Platz zurück gelaufen.
Seit über einer Stunde sitzen die beiden nun schon im Dunkeln zwischen den gewaltigen Löwenstatuen am Fuße des Shiva-Parvati-Mandir-Tempels. Nur die kleinen Strahler zwischen den fünf Bögen über ihnen streuen ein wenig Licht. Sie wissen, dass man ihre Tochter in diesen Minuten in einem geheimen tantrischen Ritual zur Kumari weiht. Und sie wissen auch, dass sie auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnstatt den Durbar-Platz wieder überqueren muss. Das Mädchen aber wird ihre Eltern hier im Dunkeln nicht entdecken.
Mehrmals schon hat gleich hinter ihnen die gewaltige Taleju-Glocke geschlagen, und jedes Mal ist Amitas Mutter zusammengeschreckt. Was das Schlagen der Glocke zu bedeuten habe, hatte sie ihren Mann gefragt. Der aber hat nur mit den Schultern gezuckt. Stattdessen erzählte er seiner Frau, dass ihre Tochter während der Puja von den alten Erfahrungen gereinigt werde, damit die Göttin Taleju in einen reinen Körper Einzug halten könne. Wie aber diese Verwandlung genau vor sich gehe, dürfe niemand außerhalb der Priesterkaste wissen.
Beinahe lautlos verlässt die kleine Gruppe das weitläufige Areal des Taleju-Tempels. Die neue Kumari sitzt in einer roten Sänfte, die von vier kräftigen Männern getragen wird. Der Kopf der kleinen Mädchengöttin vermag die gewaltige Mukut kaum zu tragen, weshalb die beiden Frauen nun neben der Sänfte hergehen, um sie festzuhalten. Der ältere Herr mit dem bunten Topi auf dem Kopf erhellt mit seiner Leuchtstoffröhre die eigenwillige Szenerie. Langsam bewegt sich die kleine Gruppe in Richtung Durbar-Platz. Vor der Taleju-Glocke bleibt sie stehen. Dreimal nun ertönen deren dumpfe Schläge. Einige zufällig vorbeikommende Passanten rufen angesichts des sehr kleinen Mädchens eher erstaunt als ehrfurchtsvoll: „Dyo Maiju!“
Das Erste, was Amitas Eltern wahrnehmen, ist ein kleiner Lichtschein am Boden. Schon der dreimalige Schlag der Taleju-Glocke und die Rufe der Passanten haben ihnen das Erscheinen der neuen Kumari angekündigt. Nun ist sie selbst zu sehen, aufrecht in der Sänfte sitzend, flankiert von den zwei ernst dreinblickenden Frauen im roten Sari mit breitem weißen Schal, die sie vorhin über die Stoffbahnen geführt haben. Ist das etwa ihre Tochter Amita? Diese kleine, energisch geradeaus blickende Person mit der riesigen Mukut auf dem Kopf, dem gold umrandeten roten Dreieck und dem dritten Auge auf der Stirn ist ohne jeden Zweifel die zur Mädchengöttin inkarnierte Taleju.
Plötzlich springt Mimita Shakya auf, wird aber im nächsten Moment von ihrem Mann wieder zurückgezogen. Es ist kurz nach Mitternacht an diesem Navami des Jahres 1111 des newarischen Kalenders, dem dritten Geburtstag jenes Mädchens, das bis gestern Amita Shakya hieß. Dieser Name aber wird für Jahre getilgt sein. Schon bald wird sie ihn vergessen haben, und selbst wenn ihre Eltern sie im Kumari Bahal besuchen, werden sie sich vor ihr verneigen und sie Dyo Maiju nennen.
Amita am Tag ihrer Inthronisation als Kumari – noch muss die schwere Krone festgehalten werden