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Traum und Wirklichkeit

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Im Agam führe ich der Kumari durch ein tantrisches Ritual die göttliche Energie in den Körper. Ich benutze dazu ein Werkzeug, das Yantra heißt, eine Art Donnerkeil mit magischer Kraft. Mit den Mantra-Sprüchen aus dem „Zeitalter der Wahrheit“ nehme ich mit der Göttin Vajra Devi den Kontakt auf und führe sie mit dem Mädchen zusammen.

Puspa Ratna Vajracharya Raj Guru – Oberhaupt der Pancha-Buddha-Priester

Der Raj Guru hat Ihnen alles erzählt – das ist seine Entscheidung. So weit will ich nicht gehen. Denn wenn ich alles erzählen würde, gäbe es kein Geheimnis mehr. Die Puja der Pancha Buddha-Priester unterscheidet sich aber komplett von der unseren.

Uddav Karmacharya Mul Pujari – hinduistischer Hauptpriester im Taleju-Tempel

Die Kumari schläft sehr unruhig. Immer wieder wälzt sie sich von einer Seite zur anderen. Manchmal schnauft sie nur tief, oftmals aber wimmert sie leise. Durga, die wach neben ihr liegt, weiß, dass der Übergang von der kindlichen zur göttlichen Existenz nicht konfliktfrei vor sich geht. Das war damals bei Rasmila auch nicht anders. Wenngleich sie das nur vom Hörensagen kennt, denn als die kleine Rasmila in den Kumari Bahal gekommen war, war sie ja selbst noch ein Mädchen gewesen.

Kaum hörbar beginnt die Kumari zu sprechen, murmelt eher unverständliche Worte. Offenbar durchlebt die Mädchengöttin in diesem Moment heftige Träume.

Überall Blut und Tiere ohne Köpfe. Riesige Augen in den abgeschlagenen Köpfen der Büffel und Ziegen starren sie an. Plötzlich taucht der Metzger auf, der seinen Laden gleich neben dem Haus hat, wo sie mit Ma und Baa und Anita wohnt. Der kleine dicke Mann hat den Kopf einer Ziege in der Hand. Dabei lacht er ganz laut. Sie hört Baas Stimme: „Wenn die Tiere tot sind, können sie dir nichts tun! Du musst keine Angst haben.“ Sie hat auch gar keine Angst, und das will sie ihrem Baa sagen. Doch als sie sich zu dem Tor vor dem großen Tempel umdreht, ist Baa nicht mehr da. Und Ma auch nicht. Nur ihre neue Freundin, die Durga-didi, steht dort…

Auf der dünnen weißen Gardine vor dem vergitterten unverglasten Fenster brechen sich die roten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zwischen dem nahen Durbar-Platz und der entfernteren New Road erwacht bereits der Verkehr. Das Knattern der Motorräder und das Klingeln der Rikscha-Fahrer dringt bis hinauf in den Khopi, dem Schlafraum der Mädchengöttin. Aus den Morgennachrichten erfahren die Menschen im erwachenden Kathmandu, dass das kleine Himalaja-Königreich eine neue Kumari hat.

Noch kann Durga die kleine Göttin neben sich ein wenig schlafen lassen. Der Tag wird ohnehin lang und aufregend für das Mädchen werden. Nach der nächtlichen Durga-Puja wird es am Vormittag in dem dunklen Tempelraum ein Stockwerk tiefer eine weitere, diesmal buddhistische Zeremonie geben. Dem folgt die Kumari-Puja oben im Thronsaal, wie sie künftig zweimal am Tag zelebriert werden wird. Danach wird die neue Kumari bereits ausgewählte Gläubige empfangen und von ihrem Thron aus segnen. Und dann hat die Kumari heute auch noch Geburtstag. Bei einem kleinen Fest am späteren Nachmittag soll sie die anderen Kinder kennen lernen, die im Kumari Bahal leben. Durga ist sicher, dass die Kumari sich mit den Kindern ihrer beiden Brüder verstehen wird.

Eine schwarz gekleidete Frau hat ihr das schöne rote Kleid weggenommen. Jetzt hat sie gar nichts mehr an. Ein Mann in einem roten Anzug gießt aus einer komischen Vase Wasser über sie, und sie fängt an zu frieren. Ein ganz alter Mann beugt sich zu ihr herunter. In der Hand hat er eine Rute mit langem Gras. Damit berührt er sie überall – auf dem Kopf und an den Schultern, am Bauch und zwischen den Beinen. Die ganze Zeit murmelt er irgendetwas in einer Sprache, die sie nicht versteht. Was wollen denn alle diese fremden Menschen von ihr?

*

Noch vor dem Sonnenaufgang hatte der Raj Guru, das religiöse Oberhaupt der newarisch-buddhistischen Priesterkaste, jenen Raum im Erdgeschoss des Kumari Bahal betreten, der Agam genannt wird. Nur wenige Stunden nach der Zeremonie seines hinduistischen Priesterkollegen drüben im Aadhyro Kotha, suchte auch er die Dunkelheit eines sakralen Raums, um mit seiner Göttin in Kontakt zu treten. Nur ist es in seinem Fall die Gottheit Vajra Devi. Bevor er sie aber in einem tantrischen Ritual anrufen kann, muss er den Platz, auf welchem er pünktlich um neun Uhr das Mädchen empfangen wird, spirituell reinigen. Und erst wenn es den Agam wieder verlässt, hat die Nation, aus Sicht des Raj Guru, eine neue Kumari – unabhängig davon, dass die hinduistischen Taleju-Priester ihre eigene Zeremonie schon in der Nacht zuvor durchgeführt und die Nachrichtensendungen dies bereits verkündet haben.

Auch in diesem dunklen Raum liegen überall die Köpfe von Büffeln herum, mit kleinen Flammen zwischen den Hörnern. Männer sitzen da und murmeln und schauen auf den Boden. Der alte Mann hebt ein Tuch hoch und darunter ist etwas, das sie nicht genau erkennen kann. Es sieht aus wie ein langes Schwert oder eine ganz dünne Frau oder… Dann wird das Tuch wieder darüber getan. Dauernd bietet man ihr etwas zu essen an. Und man hält ihr eine große Schale hin, die außen ganz hässlich aussieht, innen aber silbern glitzert. Als sie daraus trinkt, muss sie sich schütteln. Trotzdem wird ihr von dem Mann im roten Anzug die große Schale immer wieder an den Mund gehalten. Das Murmeln der Männer wird immer lauter und lauter, und die Köpfe der Büffel mit den Flammen fangen an zu fliegen. Sie fliegen durch den ganzen Raum und brüllen in dieser fremden Sprache, die sie nicht verstehen kann. Sie hält sich die Ohren zu, und dann schreit auch sie ganz laut.

Erschrocken ist Durga hochgefahren. Sie war noch einmal eingenickt. Hatte sie etwa geträumt oder hat die Kumari eben wirklich geschrien? Sie blickt das Kind neben sich an, das heftig atmet. Nach einer kleinen Weile aber wird der Atem ruhiger und plötzlich huscht der kleinen Göttin sogar ein Lächeln über das Gesicht. Leicht wiegt sie den Oberkörper hin und her.

Die ganze Welt um sie herum tanzt. Nicht nur die Menschen, auch die Häuser, die Tempel – einfach alles. Sie blickt von ihrem hohen Sitz auf die Leute herunter. Auf die starken Männer, die ihren Stuhl auf den Schultern tragen, und auf die Frauen, die sie festhalten, damit sie nicht herunterfällt, und auf Durga-didi, die vor ihr herläuft und sich manchmal zu ihr umdreht und lächelt. Plötzlich hört sie die Stimme ihrer Ma, wie sie sagt, dass alle es gut mir ihr meinen und sie ganz, ganz wichtig für diese Menschen sein wird. Aber diese Stimme ist weit weg, und sie weiß auch nicht, was das bedeutet, was Ma da sagt. Dann wird die Stimme immer leiser und sie kann Ma nirgendwo mehr sehen und Baa auch nicht. Aber sie hat keine Angst, denn Durga-didi ist ja da.

Als Durga der Kumari sanft über das schwarze Haar streicht, schlägt die Mädchengöttin die Augen auf und blickt sie ungläubig an.

„Guten Morgen, Dyo Maiju! Du hast geträumt, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht… ?!“

Noch sind die Augen der Kumari klein und verschlafen.

„Durga-didi!?“

„Ja, Dyo Maiju?“

Warum sagt sie Dyo Maiju? Hat sie ihren Namen vergessen? Was machen sie beide überhaupt hier… in diesem Raum… und in diesem Bett?

Die Kumari hat sich ruckartig aufgesetzt und blickt sichtlich irritiert im Zimmer umher.

„Wo ist denn Anita-didi?“

„Du suchst deine Schwester, wie!?“

„Wo ist sie denn?“

Die Dienerin der Kumari nimmt die kleine Göttin in den Arm und flüstert ihr ins Ohr: „Deine Anita-didi ist zu Hause bei deiner Ma und deinem Baa…“

„Können wir da jetzt auch hingehen?“

Durga Shakya – Amitas Dienerin im Kumari-Palast

Wortlos gießt Mimita Shakya den Tee auf. Seit dem Aufstehen haben sie und ihr Mann nur wenige Worte gewechselt, und über Amita haben sie überhaupt nicht gesprochen. Niemand im Haus hat an diesem Morgen über Amita gesprochen – die Großmutter nicht, keiner von ihren beiden jüngeren Brüdern, die in der obersten Etage wohnen, und selbst Anita verhält sich ungewöhnlich zurückhaltend. Man spielt einander eine Normalität vor, die (noch) keine Normalität ist.

Mimita schenkt ihrem Mann Tee ein, stellt Fladenbrot auf den Tisch und schält einen Apfel. Sie funktioniert – und sie leidet. Sie wird von einem Gefühl gequält, als ob ihrem Körper etwas amputiert worden ist. Der Phantomschmerz ist fast unerträglich. Sie weiß, dass natürlich jeder hier an Amita denkt. Und dies ist auch der Grund, weshalb diese gespenstische Stille herrscht, die kaum auszuhalten ist.

Erstmalig ist Amrit froh, dass sich sein Arbeitgeber – eine Unterorganisation der UN-Vertretung drüben in Patan – nur bedingt um nationale Feiertage kümmert und er auch an den Festtagen des Dashain den Bus fahren muss. Noch im letzten Jahr hatte er bedauert, am Geburtstag seiner Tochter nicht zu Hause sein zu können. Heute, so hofft er, würde ihn seine Tätigkeit wenigstens ein paar Stunden auf andere Gedanken bringen. Vorerst aber macht er sich Sorgen um Amitas Ernäherung. Er weiß, dass die Kumari vor der morgendlichen Puja nicht essen darf. Aber ein kleines Mädchen muss doch ein Frühstück bekommen. Überhaupt muss es regelmäßig essen. Warum nur hat er darüber nicht mit dem Chitaidar gesprochen?

Anita versteht nicht, warum alle an diesem Morgen schweigen. Sie spürt diese seltsame Atmosphäre und fühlt sich unbehaglich. Wenn jetzt Amita-bahini (Amita – jüngere Schwester) da wäre, könnten sie sich hier in der Küche in einer der Ecke setzen und spielen. Weil sie aber nicht ahnt, dass Amitas Abwesenheit der Grund für diese seltsame Stimmung ist, spricht sie aus, woran jeder denkt: „Warum ist denn Amita-bahini nicht da?“

Einen Moment erstarren alle Familienmitglieder. Mimita schießen Tränen in die Augen und sie läuft aus der Küche.

„Ich habe dir doch erklärt, dass deine Amita-bahini jetzt woanders wohnt. So, und jetzt muss Baa zur Arbeit“, sagt Amrit und verlässt ebenfalls den Raum.

Anita wundert sich, dass ihre Eltern vor ihr weglaufen. Als sie ihre Großmutter ansieht, macht diese ein freundliches Gesicht und fragt: „Willst du ein Glas Saft?“

Dies also ist der Augenblick, von dem Durga seit langem wusste, dass er unvermeidlich kommen würde. Immer wieder hat sie ihn gedanklich durchgespielt, und sie weiß auch, dass ihr nun ein argumentativer Spagat bevorsteht. Wie erklärt man einer lebenden Göttin, dass sie eine Göttin ist? Und wie vermittelt man ihr, dass sie einerseits eine unanfechtbare Autorität darstellt, sich andererseits aber gewissen Regeln unterwerfen muss? Zunächst mal gilt es, einem kleinen Mädchen beizubringen, dass es fortan in einem geweihten Palast wohnen wird, statt in jener vertrauten Umgebung, in der es gelebt hatte, ehe es eine Göttin wurde.

„Ich weiß, dass du etwas ganz Besonderes bist, Dyo Maiju…“, beginnt Durga zögernd.

„Aber ich heiße doch Amita…“

„Das weiß ich. Aber ich sage Dyo Maiju, weil ich dich verehre, und auch andere Leute werden das zu dir sagen. Und die Kinder, die hier mit dir spielen werden, werden dich Kumari-didi nennen. Wir alle verehren dich, weil du eben etwas ganz Außergewöhnliches bist.“

„Was denn?“

Das Mädchen sieht Durga erwartungsvoll mit seinen schwarzen, inzwischen wachen Augen an.

Leise beginnt Durga: „Das werden wir gemeinsam herausfinden. Ich weiß aber jetzt schon, dass die große Göttin Taleju, die auf unseren König aufpasst und auf das ganze Land, sich dieses kleine Mädchen ausgesucht hat, damit sie sich darin verstecken kann und keiner der Dämonen sie finden wird.“

Dabei piekt Durga bei jedem Halbsatz mit dem Zeigefinger ein wenig in den Bauch des Mädchens. Und weil das kitzelt, muss die Kumari kichern. Im nächsten Moment geht Durga vor ihr auf die Knie, und während sie weiterspricht, beugt sie den Kopf mehrfach bis hinunter zu Amitas kleinen Füßen.

„Und weil dieses kleine Mädchen überhaupt keine Angst kennt, verehren wir es und nennen es Dyo Maiju. Und weil dieses kleine Mädchen ein ganz besonderes Mädchen ist, werde ich ihm gleich die schönen langen Haare bürsten. Und weil dieses kleine Mädchen heute Geburtstag hat, gibt es später einen großen Kuchen!“

Nun sieht Durga in das überraschte Gesicht der Kumari und im nächsten Augenblick lachen sie beide los.

*

Auf einem kleinen Altar im Vorraum zum Agam sitzen fünf Buddha-Figuren, die von den Gläubigen Dhyani-Buddhas genannt werden. Sie gelten nach der Lehre des Vajrayana-Buddhismus als die „Schöpfer des Universums in verschiedenen Zeitaltern“.

Die Figuren, die nur wenige Zentimeter groß sind, unterscheiden sich farblich voneinander und auch durch die Stellungen ihrer Hände. An diesen beiden Merkmalen kann man deren inhaltliche Bedeutung ablesen.

Der grüne Buddha hat eine Hand in den Schoß gelegt, während er dem Betrachter die andere Handfläche entgegenhält. Er repräsentiert „die Wahrheit und das Wesentliche der Rede“.

Der Himmel steht für die Konzentration, und der blaue Buddha drückt dies dadurch aus, dass er eine Handfläche auf dem Knie und die andere im Schoß abgelegt hat. Das durch den roten Buddha versinnbildlichte Feuer steht für die Meditation, die allein dadurch „zur Unsterblichkeit führt, weil die Kraft der Ewigkeit im Körper spürbar wird“. Seine Hände hält der rote Buddha mit nach oben geöffneten Handflächen im Schoß.

Der gelbe Buddha hingegen hat nur eine Hand geöffnet. Diese weist gleichermaßen auf ein Geben und Nehmen hin, denn der gelbe – oder auch goldene Buddha – wird mit dem Geld in Verbindung gebracht, welches der Reiche einnimmt, um es dann unter den Armen zu verteilen.

In der Mitte sitzt der weiße Buddha, der beide Handflächen nach außen gerichtet vor die Brust hält, was man leicht als abwehrende Geste fehlinterpretieren könnte. Doch soll ihn genau diese Geste als „Buddha der Reinheit und des Friedens“ auszeichnen, der zugleich „das Prinzip der Gleichheit“ repräsentiert.

Die fünf Dhyani-Buddhas gelten nach der Lehre des newarischen Vajrayana-Buddhismus als die „Schöpfer des Universums in verschiedenen Zeitaltern“

Puspa Ratna Bajracharya (Raj Guru) – Oberhaupt der Pancha Buddha Priester

Von Kindesbeinen an hat sich Durga für die Bedeutung und die Geschichte der fünf Dhyani-Buddhas interessiert. Eine besondere Faszination ging für sie dabei immer von der Herkunftslegende aus. Demnach seien die fünf Erleuchteten nicht etwa auf natürliche Weise in die Welt gekommen, sondern vielmehr vom Adi-Buddha erschaffen worden. Dieser Ur-Buddha wiederum habe sich sogar selbst erschaffen und sei beim Ausbruch eines infernalischen Feuers auf die Welt geschleudert worden. In der Vorstellung der kleinen Durga tauchte dabei immer ein Lava speiender Vulkan auf.

Der Funke der Begeisterung will nicht recht auf die Kumari überspringen, die in vollem Ornat und geschminkt, aber mit leerem Magen, neben Durga steht. Fühlt sich das kleine Mädchen durch die detaillierten Erläuterungen überfordert? Oder verschweigt eine wissende Göttin höflich, dass Durgas Ausführungen für sie keine nennenswerten neuen Informationen enthalten? Die Dienerin jedenfalls ist irritiert, als sie bemerkt, dass sich die Kumari schließlich mehr dafür interessiert, was sich unter dem bodenlangen Tuch befindet, mit dem der Altar abgedeckt ist. Deren Interesse an der Legende der Dhyani-Buddhas vermag Durga erst zu wecken, als sie ausführt, dass jedes der fünf göttergleichen Wesen ein eigenes Reittier hat.

Die Kleine ist zwar nicht sehr erstaunt darüber, dass der blaue und der gelbe Buddha auf einem Elefanten und einem Pferd reiten, dass die anderen sich jedoch auf einem Löwen, auf dem Vogelmenschen Garuda und sogar auf einem Pfau fortbewegen sollen, will sie kaum glauben.

„Der Buddha ist doch viel zu schwer für den kleinen Pfau“, sagt die Kumari.

Die gleichermaßen unbekümmerte wie nahe liegende Bemerkung aus dem Mund der lebenden Göttin bewirkt, dass erstmalig auch Durga Zweifel an der Richtigkeit der Legende kommen.

Die irdischen Vertreter der fünf Dhyani-Buddhas versehen ihren priesterlichen Dienst normalerweise in Alltagskleidung. Zur Feier des Tages aber tragen die fünf Pancha Buddha-Priester an diesem Morgen ihre bodenlangen Gewänder in den Farben jener Elemente, die sie verkörpern. Zudem haben sie ihre goldenen Kronen mit bunten Blumen geschmückt. Ein solches Ornat tragen die Pancha Buddha-Priester üblicherweise nur während der Indra Jatra-Prozessionen – und am Weihetag einer neuen Kumari.

In wenigen Minuten wird der Raj Guru das erwählte Mädchen empfangen, um ihr in einem aufwändigen tantrischen Ritual die göttlichen Kräfte der Vajra Devi einzupflanzen. Ihm wird dabei von einem der Pancha Buddha-Priester assistiert. Die drei anderen Priester werden zuvor den Agam verlassen. Vorerst aber benötigt der Raj Guru noch deren spirituelle Energie, um gemeinsam die Göttin anzurufen und ihre Kräfte zu empfangen. Kein leichtes Unterfangen, denn keiner von ihnen ist in der privilegierten Lage der Taleju-Priester, die jene spirituelle Tätigkeit hauptberuflich ausüben. Diese sind in der Situation, ihre gesamte Lebensenergie in den tantrischen Ritualen zu konzentrieren. Die Pancha Buddha-Priester aber haben nicht den Königspalast als Sponsor im Rücken, und so müssen sie neben dem Tempeldienst einem ganz normalen Broterwerb nachgehen. Mehrfach hat sich der Raj Guru im Kreis seiner Priesterkollegen darüber beklagt, dass seine Tätigkeit als Chef einer Firma für Elektroinstallationen derart viel von seiner Energie absorbiert, dass er ernsthaft den Verlust der tantrischen Fähigkeiten befürchtet. Fähigkeiten, die er sich in jahrelanger Übung unter Anleitung seines Vaters – des einstigen Raj Guru – erworben hat.

Im ansonsten dunklen Tempelraum brennt nur ein winziges Öllicht vor einer kleinen Stupa, jenem kuppelartigen Gebilde, in welchem heilige Reliquien aufbewahrt werden. Die buddhistischen Priester stehen nebeneinander und sprechen gemeinsam die alten Verse der Mantras. Für den Erfolg des tantrischen Rituals ist es unerlässlich, dass sie dabei in einen gemeinsamen Atemrhythmus kommen. Deshalb heben sie bei jeder Einatmung gemeinsam die Arme und halten dann den Atem kurz an, während sie fünfmal die Hände ruckartig in die Luft schleudern. Mit der langsamen Ausatmung senken sie die Arme wieder und sprechen dabei die mantrischen Texte. Es dauert lange, bis es den einzelnen Priestern gelingt, jegliche gedankliche Tätigkeit auszuschalten und das Ich aufs pure Gefühl zurückzuführen. Schließlich aber erreichen sie jene „spirituelle Einheit mit den göttlichen Kräften“. Ein Zustand, der von säkularen Interpreten profan als „Trance“ bezeichnet wird.

Die Tür öffnet sich ein wenig und durch einen schmalen Spalt verlassen die Priester den Agam. Stumm und mit zum Boden gerichteten Blick treten sie zur Seite, um der Mädchengöttin Platz zu machen.

Die Kumari spürt, wie Durga die Hand auf ihre Schulter legt und sie in den dunklen Tempelraum schiebt. Die Tür schließt sich hinter ihr und dem Mädchen fällt es schwer, sich zu orientieren. Ein paar Meter entfernt brennt ein einzelnes Öllicht. Schräg davor steht der Raj Guru, ein kleiner Mann, auf dessen Kopf die blumengeschmückte Krone überdimensional wirkt.

Das Mädchen wird von kräftigen Männerarmen, die überraschend aus der Dunkelheit auftauchen, hochgehoben und zu einem Sitzkissen getragen.

Die Blumen auf der Krone von diesem alten Mann sehen schön aus. Aber warum ist es denn so dunkel? Man kann die Krone ja gar nicht richtig sehen. Und warum ist Durga-didi nicht mitgekommen? „Ich warte hier draußen auf dich“, hat sie vorhin leise gesagt.

Die Kumari hat das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Die Arme, die sie einfach hochheben, der alte Mann, der vor einem brennenden Öllicht steht und in einer fremden Sprache murmelt. Aber sie erinnert sich nicht, dass sie erst in der letzten Nacht gleich zweimal eine vergleichbare Szene erlebte – während der nächtlichen Durga-Puja und in ihrem morgendlichen Traum.

Der gleichmäßige Singsang des buddhistischen Priesters gibt dem Mädchen das behagliche Gefühl eines In-sich-Ruhens. Ein Gefühl, welches den Körper schließlich ganz schwer werden lässt, wie man es oft kurz vor dem Einschlafen erlebt. Dabei ist sie gar nicht müde. Die Kumari schließt die Augen und genießt diese angenehme Stimmung.

Der Raj Guru spürt, dass sein Körper angefüllt ist mit der göttlichen Energie der Vajra Devi. In den Händen hält er nun den Jwala-nhyanka, jenen Spiegel mit dem silbernen Feuerkranz. Fast tonlos beginnend und dann immer lauter werdend, skandiert der alte Priester die magische Silbe „Om…!“, während er mit dem Finger über den Feuerkranz streicht. Dann greift er zu der Muschel mit dem geweihten Wasser, die ihm der assistierende Priester hinhält. Langsam lässt er das Wasser über den Spiegel laufen. Schließlich wendet er sich dem Mädchen zu und hält ihm den Spiegel direkt vor das Gesicht. Nun entdeckt er, wie sie mit geschlossenen Augen und hochkonzentriert vor ihm sitzt – ganz offensichtlich bereit, die göttliche Weihe in Empfang zu nehmen. Es ist ein erregender Augenblick für den Raj Guru. Denn er erkennt in diesem auffällig kleinen, auffallend schönen Mädchen, in dem vom Schein des Öllichts nur spärlich beleuchteten Gesicht, unverkennbar – die königliche Kumari.

Kultgegenstände wie sie im buddhistischen Tempel während einer Puja (Gottesdienst) in Anwesenheit der Kumari verwendet werden

Langsam öffnet sie die Augen und plötzlich entdeckt sie in einem kleinen silbrigen Bild: die Kumari! So nah hat sie sie noch nie gesehen. Vor Erstaunen öffnet sie den Mund – und der rote Mund der Kumari auf dem Bild da vor ihr öffnet sich auch. Und als sie die Augen aufreißt, werden auch die Augen der Kumari mit der schwarzen Ummalung ganz groß. Jetzt weiß sie, dass es wahr ist, was der Baa ihr gesagt hat und auch Durga-didi – sie ist selbst die Kumari!

Die lebende Göttin muss an die andere Kumari denken, die sie am letzten Indra Jatra-Fest gesehen hat. Und es fällt ihr das Mädchen ein, dem man gestern auf dem Thron die Ketten abgenommen hat. Aber sie denkt nicht darüber nach, weshalb dieses Mädchen keine Kumari mehr ist.

Auch sie wird einmal in einem goldenen Wagen durch die Stadt gezogen. Der König wird ihr Münzen zuwerfen und die Menschen werden ihr zujubeln. „Wir alle verehren dich, weil du etwas ganz Besonderes bist“, hat Durga-didi gesagt. Sie freut sich so, wie sonst, wenn sie eine neue Puppe bekommen oder ihr Baa eine Tüte leckerer Cashewnüsse mitgebracht hat. Sie will nachher unbedingt die Durga-didi fragen, ob sie mit ihr auf dem goldenen Wagen mitfahren wird.

Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben verspürt Amita jenes Glücksgefühl, das ihr der Astrologe schon kurz nach der Geburt als bestimmendes Lebensgefühl prophezeit hatte. Zum ersten Mal aber empfindet sie es, ohne dass ihre Mutter in der Nähe ist. Vor allem aber wird sie dieses Gefühl heute mit einer Person teilen, die sie noch gestern gar nicht gekannt hat – mit jener Frau, die sie Durga-didi nennt.

*

Die Großmutter hat sich mit Anita auf das Bett gesetzt und spielt mit ihr und den beiden Puppen. Das hat sie bisher noch nie getan. Sie aber will nicht, dass Anita nach nebenan zu ihrer Mutter geht und sie dort weinen sieht.

Die ältere Frau ist noch immer sehr überrascht, dass ihre Tochter Mimita auf diese Weise reagiert. Hatte sie doch in den letzten Wochen allen im Haus das Gefühl vermittelt, sehr glücklich darüber zu sein, dass die Wahl der Taleju auf Amita gefallen ist. Konnte sie sich in Mimita so sehr täuschen?

Während sie ihrer Enkelin vorspielt, dass sie eine der Puppen in den Schlaf wiegt, überstürzen sich ihre Gedanken. Wie hätte sie denn seinerzeit reagiert, wenn man von ihr verlangt hätte, eine ihrer Töchter als Kumari wegzugeben? Wäre es ihr schwer gefallen? Nun hatte sie allerdings vier Kinder, sodass die Zurückgebliebenen nicht so allein gewesen wären wie jetzt die kleine Anita. Wie wird es wohl ihrer Enkelin im Kumari Bahal ergehen – an diesem ersten Tag als lebende Göttin, der zudem auch noch ihr Geburtstag ist? Ob deren Gedanken in diesem Moment wohl bei der Familie sind? Oder ob die neuen Einflüsse dort so gewaltig auf das Mädchen einwirken, dass solche Überlegungen gar nicht erst aufkommen?

*

Die göttlichen Energien der Göttin Vajra Devi haben seinen gesamten Körper zum Zittern gebracht. Der buddhistische Oberpriester muss regelrecht physische Kraft aufwenden, um dem Mädchen diese Energie mit dem Yantra einzupflanzen. Immer wieder richtet er die Spitze des tantrischen Werkzeugs auf die Brust des Mädchens, und unter lautem Ausstoßen mantrischer Verse verwandelt er das Kind in die göttliche Persönlichkeit der Kumari. Dann hängt er der kleinen Göttin die Blumen-Mala um den Hals und verstreut Reis um ihren Thron.

Völlig erschöpft tritt der Raj Guru schließlich einige Schritte zurück, lässt sich vom assistierenden Priester das Sinhamu reichen – das reichlich verzierte silberne Gefäß, in dem sich zinnoberrotes heiliges Pulver befindet. Er taucht den Mittelfinger der rechten Hand in den Sinhamu und drückt der nun göttlichen Jungfrau die Tika auf die Stirn. Dann fällt der alte Mann vor seiner Kumari auf die Knie.

Sie weiß nicht, warum der alte Mann vorhin so geschrien hat… und auch nicht, warum er jetzt vor ihr kniet. Aber sie weiß, dass man es Tika nennt, wenn man einen roten Punkt auf die Stirn bekommt. Das hat Baa bei Ma auch immer so gemacht und auch bei ihr und bei Anita…

Und weil der alte Mann immer noch vor ihr kniet und weil es so aussieht, als ob ihr der Mann das rote Pulver hinhält, steckt sie einen Finger hinein und malt auch ihm eine Tika auf die Stirn. Plötzlich – ein riesiger Schreck. Der alte Mann hat sich ganz tief zu ihren Füßen gebeugt, und jetzt küsst er sie sogar. So wie Durga-didi vorhin. Aber das war ja nur Spaß…

Der Raj Guru glaubt, das unverkennbare, ruckartige Zeichen verspürt zu haben, mit dem sich die Göttin Vajra Devi endgültig im Körper des Mädchens manifestiert hat. Der heilige Mann ist fest davon überzeugt, eine wichtige Arbeit geleistet zu haben – für das Tal, das Land und den Planeten. Diese Arbeit hat den Raj Guru zwar körperlich erschöpft, aber auch ausgefüllt mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.

Als ihr die Opfergaben gereicht werden, greift die Mädchengöttin mit beiden Händen zu. Gierig stopft sie den Linsenkuchen in den kleinen Mund, nimmt Stücke vom getrockneten Fisch und Schnitze eines geschälten Apfels. Zwischendurch spült sie die Speisen mit Milch hinunter. Nicht ohne Wohlwollen beobachtet der Raj Guru, wie seine Opfergaben von der Kumari auf geradezu genussvolle Weise angenommen werden. Und er empfindet eine große Freude, als sie auch zu den weißen, gebrannten Reisflocken greift, die für „die Reinheit der Herzen“ stehen.

Der Priester in der roten Robe des Elementes Feuer, der dem Raj Guru während der Puja assistiert hatte, öffnet die beiden Flügel der Tür. Die schräg in den Hof des Kumari Bahal einfallenden Strahlen der Mittagssonne fallen auf die Schwelle hinter der Durga wartet. Als das Mädchen sie entdeckt, läuft es auf seine Freundin zu und lässt sich von ihr mit einem Schwung auf den Arm nehmen.

Stunden nachdem der Raj Guru den Agam betreten hatte, tritt das Oberhaupt der newarischen Buddhisten nun hinaus in die Helle des Tages. Neben der frisch geweihten Kumari blickt er hinauf in den wolkenlosen Himmel. Er weiß, dies ist nicht nur der erste Tag des Herbstes – es ist auch der Beginn einer neuen Ära.

Göttin auf Zeit

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