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Die Auswahl

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Ich lese die charakterlichen Merkmale der Mädchen exakt aus dem Horoskop. Eine Kumari benötigt nämlich höhere charakterliche Qualitäten als der König, damit er sie verehren kann. Das ist wichtig für unser Land.

Mangal Raj Joshi Königlicher Chefastrologe

Der Astrologe, der Amitas Horoskop einst erstellt hat, hatte daraus nicht ersehen können, dass sie eine künftige Kumari ist. Er hatte nur davon gesprochen, dass sie außergewöhnliches Glück haben wird.

Mimita Shakya Amitas Mutter

In der Ecke eines dunklen Hinterhofes in der Altstadt von Patan, der früheren Königsstadt südöstlich von Kathmandu, lebt und wirkt der Chefastrologe des Königs. Aber auch Menschen aus der normalen Bevölkerung können zu ihm kommen. Und da es der Schicksalsgläubigkeit und auch der Tradition der Nepalesen entspricht, bei der Geburt eines Kindes ein Horoskop erstellen zu lassen, erarbeitet sich der Hofastrologe auf diese Weise ein nicht zu verachtendes Zubrot.

Allerdings ist Mangal Raj Joshi trotz der Anerkennung des Monarchen und dem zusätzlichen Salär durch seine Klienten offensichtlich ein bescheidener Mensch geblieben. Nichts in diesen beengten Wohn- und Arbeitsverhältnissen deutet darauf hin, dass jener greise Mann, der auf dem Fußboden hinter einer schlichten Holzkiste über seinen Berechnungen sitzt, ein für die Geschicke des Staates einflussreicher Mann ist.

Der alte Herr stammt aus einer Astrologendynastie und war schon als Kind in die schicksalsstiftenden Konstellationen der Gestirne eingeweiht worden. In den dreißiger Jahren hatte er in der heiligen Stadt Benares in Indien studiert, ehe er in seiner nepalesischen Heimat zum Universitätsprofessor und königlichen Astrologen aufstieg. Es gibt kaum eine politische Entscheidung die der König trifft, ohne ihn zuvor um den Blick in die Sterne zu bitten.

Schon seit Stunden brütet der Astrologe über den Horoskopen von kleinen Mädchen aus der Shakya-Kaste. Eine von ihnen, daran glaubt er fest, ist zur nächsten Kumari des Königs bestimmt. Dieser unerschütterliche Glaube lässt für den Astrologen von vornherein gar nicht erst die Möglichkeit zu, etwa alle Aspirantinnen für ungeeignet zu halten.

Seine Aufgabe ist es, ehe er sich mit seinen Kollegen im königlichen Palast endgültig beraten wird, eine astrologische Analyse zu erarbeiten. Sein Wort wird bei der Auswahl Gewicht haben, niemand wird ernsthaft an der Analyse des weisen Mannes zweifeln. Schon gar nicht die drei anderen Hofastrologen, die einst allesamt seine Schüler waren. Und so entscheidet sich in diesem Moment in einem dunklen Hinterhof in Patan das Schicksal eines kleinen Mädchens, das zu diesem Zeitpunkt noch irgendwo in Kathmandu im Kreise seiner Familie lebt.

Mangal Raj Joshi – Zu Amitas Kumarizeit war er Chefastrologe des nepalesischen Königs

In einem Flügel des geräumigen Königspalastes hat der Chefastrologe seine Berechnungen entlang der Wand aufgehängt. Keiner der drei anderen Astrologen weiß, wessen Horoskop sich hinter den Ausarbeitungen ihres Meisters befindet. Deren Blicke nämlich sollen sich ausschließlich auf die Konstellation der Gestirne richten. Doch ehe der Chefastrologe seine Kollegen nach vorn bittet, um die Ausarbeitungen vorzustellen, gefällt er sich noch einmal in der Rolle des Lehrers. Auch wenn alle Anwesenden längst Meister ihres Fachs sind, referiert Mangal Raj Joshi zunächst über die große Weisheit des Universums. Er spricht über die Bedeutung der Sonne im Verhältnis von hell und dunkel, heiß und kalt, gut und böse. Schließlich ermahnt er seine Kollegen angesichts der bevorstehenden Aufgabe, sich der großen Verantwortung bewusst zu sein. Dann tritt er an die Ausarbeitungen heran und erläutert insbesondere die unterschiedlichen Konstellationen von Sonne, Mond und Jupiter, verweist auf die störenden oder positiven Aspekte anderer Gestirne. Durch die Art und Weise aber, wie er die einzelnen Konstellationen deutet, gibt es kaum einen Zweifel, welches Horoskop wohl am ehesten jenen edlen Qualitäten entspricht, die sie „Rajuk“ nennen. Sie müssen höherwertiger als die des Königs sein. Neben den körperlichen Voraussetzungen, die andere zu beurteilen haben, sind die geistigen und charakterlichen Qualitäten, die eben dem Horoskop zu entnehmen sind, für eine Kumari unerlässlich. Genau dies herauszufinden, ist die Aufgabe des hier versammelten Gremiums.

Jeder der Astrologen tritt einzeln zu den Berechnungen und betrachtet die Ausarbeitungen aus nächster Nähe. Gelegentlich schreibt sich einer etwas auf, bevor er die anderen Planetenkonstellationen betrachtet und mit den Notizen vergleicht. Endlich notiert jeder die Nummer seines favorisierten Horoskops auf einen Zettel und legt ihn gefaltet auf den Tisch des Chefastrologen. Langsam und mit würdiger Miene öffnet der alte Mann endlich einen Zettel nach dem andern, betrachtet ihn jeweils kurz und legt ihn zustimmend zur Seite. Schließlich stellt er befriedigt Einstimmigkeit fest.

Dabei hätte es genügt, wenn nur einer der drei anderen Astrologen zum gleichen Ergebnis wie er gekommen wäre. Die Bestimmung besagt nämlich, dass die einfache Mehrheit genügt, im Fall eines Patts jedoch die Stimme des Chefastrologen den Ausschlag gibt.

Mit dem Gestus der Gelassenheit nimmt der oberste Sterndeuter des Königs das ausgewählte Horoskop von der Wand und steckt es in einen großen braunen Umschlag. Er verneigt sich zum Dank und zum Abschied vor seinen Kollegen. Dann geht Mangal Raj Joshi hinüber in den Raum, wo der Badaguruju und der Mul Purohit bereits auf ihn warten. Er überreicht ihnen den Umschlag, in dem sich das Horoskop der fast dreijährigen Amita Shakya aus dem Stadtbezirk Bagbazar befindet.

*

Als die Cousine und die Schwiegermutter ins Zimmer treten, weiß die Mutter der beiden Mädchen sofort, was deren Besuch zu bedeuten hat. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie fast tonlos fragt: „Wer von den beiden?“

Der Enthusiasmus der Cousine wirkt ein wenig übertrieben, als sie jubelt: „Amita!“

Die Mutter fühlt, wie die Beine schwach werden, und ohne den Besucherinnen einen Platz anzubieten, setzt sie sich auf den Rand des Sofas. Warum ist Amrit jetzt nicht da, ihr Mann? Schon als die Horoskope abgeholt wurden, musste sie die Entscheidung allein treffen. Warum kommen die Frauen auch nicht am Abend, wenn die Männer zu Hause sind?

„Freust du dich denn nicht?“, wird sie von der Cousine gefragt. Hilflos erwidert Mimita Shakaya: „Ich will das nicht allein entscheiden.“

Und dann kommt der Satz, der für immer unwidersprochen bleiben wird: „Es ist bereits entschieden! Der Hofastrologe hat die Sterne befragt.“

Es ist die Schwiegermutter, die diesen Satz ausspricht. Niemand wird gegen diese unanfechtbare Autorität der Familie das Wort erheben – auch Amrit nicht. Wortlos steht Mimita Shakya auf und lässt die beiden Frauen allein in der Wohnstube zurück. Eine Etage höher sieht sie von der Tür des beengten Kinderzimmers aus zu, wie die beiden Mädchen mit ihren Puppen spielen. Die Kinder nehmen sie gar nicht wahr. Irgendwann fällt unten die Haustür ins Schloss.

Kann man diese beiden kleinen Mädchen voneinander trennen? Wie soll man Amita erklären, dass sie künftig für viele Jahre in einem anderen Haus leben wird, mit fremden Menschen? Und Anita, dass sie ihre Spielkameradin erst wiedersehen wird, wenn sie beide keine kleinen Mädchen mehr sind?

Nach einer Weile steigt die Mutter der Mädchen die steile Treppe wieder mit leisen Schritten nach unten. Sie fühlt sich vollkommen leer, als sie sich auf das Sofa setzt und an der gegenüberliegenden Wand auf ihr Hochzeitsbild stiert. Das ist nun sechs Jahre her! Warum hatte sie nie in Erwägung gezogen, dass die Göttin Taleju eine ihrer Töchter auswählen könnte? Immerhin stammt sowohl ihre als auch Amrits Familie seit mehreren Generationen aus der Shakya-Kaste, der einstigen Gold- und Silberschmiede – eine wesentliche Voraussetzung für die Auswahl zur königlichen Kumari.

Warum Amita? Weil sie für ihr Alter schon erstaunlich gut sprechen kann? Weil sie ein fröhliches Kind ist, das gern durch die ganze Wohnung tanzt? Weil sie unlängst vor dem Buddha-Schrein dort drüben kokett gesungen hat: „Ich bin eine kleine Göttin…?“ Konnte Mangal Raj Joshi, der Sterndeuter des Königs, das alles in ihrem Horoskop lesen?

Schon unmittelbar nach Amitas Geburt hatte ihr ein anderer Astrologe ungewöhnliches Glück vorausgesagt. Aber ist es ein Glück für ein kleines Mädchen, nicht bei seiner Familie aufzuwachsen, um die Kindheit als lebende Göttin in einem Palast zu verbringen – abgeschieden von der realen Welt?

Der Mutter laufen Tränen übers Gesicht. Zunächst schluchzt sie noch leise in sich hinein. Dann aber bricht der Schmerz in einem gewaltigen Schrei aus ihr heraus. Erschrocken horcht sie im nächsten Moment, ob die Mädchen sie womöglich gehört haben und die Treppe heruntergestürzt kommen. Vor der Tür aber ist alles still. Mit dem Handrücken wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Wer ist sie denn schon, dass sie eine göttliche Fügung in Zweifel ziehen dürfte? Wird es doch ein großes Glück für ihre Tochter sein, von der ganzen Nation verehrt zu werden. Die Menschen werden zu der kleinen Amita „Dyo Maiju“ sagen, und sie werden wissen, dass sie über das Land wacht. Der König höchstpersönlich wird vor ihr auf die Knie gehen, um von ihrer Hand die Tika zu empfangen.

Mimita Shakya beschließt, sich umzuziehen. Sie will ihrem Mann die frohe Kunde in einem roten Sari mitteilen, der Farbe der Kumari. Sie nimmt sich vor, den heutigen Abend als den schönsten ihres bisherigen Lebens zu begehen.

Schmuckgeschäft in Thamel/Kathmandu: nur wenige Shakyas – die einstige Kaste der Gold- und Silberschmiede – gehen diesem Gewerbe noch nach

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