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Auch der Dorfschuhmacher oder Schuster war ein Allrounder. In seiner Werkstatt war er zugleich Hersteller und Reparateur von Schuhen, Taschen und Gürteln.

Von der Schmiede zur Kfz-Werkstatt

Handwerk und Gewerbe auf dem Land von 1950 bis heute

Noch 1950 war es für jedes mittelgroße Dorf eine Selbstverständlichkeit, einen Schneider, einen Schuhmacher, einen Schreiner, einen Schmied, einen Bäcker, einen Metzger und ein Baugeschäft zu haben.

Sie alle arbeiteten ausschließlich für das eigene Dorf. Das ist Geschichte – viele Handwerksbetriebe sind ganz verschwunden, andere haben sich behauptet und modernisiert. Sie haben nur noch selten dörfliche, sondern überwiegend regionale Kundenkreise.

Dafür sind ganz neue Branchen ins Dorf eingezogen: Spezialfirmen für regenerative Energien oder für Soft- und Hardwareentwicklung residieren heute nicht selten in ehemaligen Bauernhöfen.

Die frühen 1950er Jahre: ein Blick in mein westfälisches Heimatdorf Fürstenberg, das damals etwa 2000 Einwohner hatte. Das Dorf war voller Arbeitsplätze, praktisch alle hier lebenden Erwerbstätigen arbeiteten im Ort. Es gab so gut wie keine Auspendler. Deutlich führender Wirtschaftszweig war seinerzeit, wie in den meisten deutschen Dörfern, die Land- und Forstwirtschaft. Aber immerhin existierte damals in jedem dritten Haus ein Handwerks- oder Gewerbebetrieb. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich noch eine kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln. Gut ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitete in einem der lokalen Handwerksbetriebe. Alle wichtigen Gewerbezweige waren im Ort mindestens einmal vertreten. So gab es im Dorf u.a. sieben Schneider, sieben Schuhmacher, sechs Schreinereien, vier Schmieden, zwei Baugeschäfte, zwei Klempner, zwei Bäckereien, einen Landmaschinenbetrieb, eine Raiffeisengenossenschaft, einen Zimmereibetrieb, einen Malerbetrieb, einen Fotografen, einen Sattler, einen Uhrmacher, einen Friseur und einen Hutmacher. Dazu kamen sechs Gasthöfe (drei davon mit Hotelbetrieb), vier Lebensmittelläden, zwei Textilgeschäfte, ein Buch- und Papiergeschäft, eine Apotheke, eine Drogerie, eine Tankstelle, zwei Banken, eine Landwirtschaftsschule, eine Realschule, eine katholische und eine evangelische Volksschule, ein Kindergarten, eine Post, ein Polizeiposten und ein Krankenhaus.

Das knapp skizzierte Dorf der 1950er Jahre war vor allem durch sein breites Angebot an handwerklichen und gewerblichen Betrieben wirtschaftlich unabhängig. Es konnte sich weitgehend mit Gütern und Dienstleistungen selbst versorgen und war somit autark wie die meisten Dörfer ab etwa 500 Einwohnern in Deutschland. Ein kurzer Blick in die Gegenwart meines Heimatdorfes lässt die dramatischen Verluste der zurückliegenden Jahrzehnte erkennen. So sind heute gerade die traditionellen Dorfhandwerke wie Schneider, Schuster, Schmied und Sattler längst ganz aus dem Dorf verschwunden. Die Zahl der übrigen Gewerbezweige und -betriebe hat sich drastisch reduziert. Vergleichbare Beobachtungen kann man in den meisten Dörfern in Deutschland machen.

Was ist passiert seit der letzten »Blütezeit« des Dorfhandwerks in den frühen 1950er Jahren bis heute? In den Jahrzehnten ab etwa 1955 erfolgte in Deutschland der zweite und endgültige Industrialisierungsschub, der durch die beiden Weltkriege eine Verzögerung erfahren hatte. Technisierung und Motorisierung erfassten bald auch das Land und zwangen das dörfliche Handwerk zu einem radikalen Strukturenwandel. Es kam einerseits zu gravierenden Schrumpfungsprozessen, andererseits aber auch zu expandierenden und neuen Handwerks- und Gewerbezweigen auf dem Land.

Weitgehend verschwunden aus den Dörfern sind neben dem klassischen Dorfhandwerk auch randliche Berufssparten wie Bierbrauer, Seiler, Korbflechter oder Hausschlachter. Stark rückläufig ist – durch den Einzug der Großmärkte auf das Land – auch das Bäcker- und Metzgerhandwerk. Ebenfalls abnehmend sind die Zahlen der Betriebe und Beschäftigten im Bauhandwerk, nachdem die Baubooms der 50er, 70er und 90er Jahre vorbei sind. Die Abgänge der genannten handwerklichen Betriebe und Beschäftigten sind, bei vorsichtiger Schätzung, bei 60–80 % anzusetzen. Derartige Verluste sind nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auch in unseren Nachbarländern zu beobachten.

Zu den auch auf dem Land expandierenden Gewerbezweigen gehören die durch die moderne Technik geprägten »industriellen Folgehandwerke«: das Elektrohandwerk, die Radio-, Fernseh- und Computertechnik, die Sanitärund Heizungstechnik, das Kraftfahrzeughandwerk. Häufig sind derartige Handwerkszweige aus Betrieben des traditionellen Handwerks hervorgegangen. Inzwischen sind sie mit modernsten Maschinen ausgestattet und nicht selten auf bestimmte Produkte oder Dienstleistungen spezialisiert. So wurden alte Schmieden häufig zu modernen Kfz-Werkstätten mit Tankstellen umfunktioniert, andere spezialisierten sich auf Kunstschmiedearbeiten oder die Restaurierung von Oldtimern. Traditionelle Schreinerbetriebe haben sich dagegen auf die Herstellung von Fenstern, Türen, Treppen, Kleinmöbeln oder auch Wintergärten konzentriert. Verstärkt in die Dörfer eingezogen sind gewerbliche Angebote im Gesundheits-, Wellness- und Freizeitbereich: Physiotherapeutische und logopädische Praxen, Altenpflegeeinrichtungen, Sonnenstudios, Schönheitsfarmen und Fitnesscenter gehören in den größeren Dörfern und Kleinstädten des ländlichen Raumes heute bereits zum Standard.


Aus dem traditionellen Dorfhandwerk haben sich manchmal moderne Folgebetriebe entwickelt, so wurden aus Schmieden Kfz-Werkstätten mit Tankstellen, wie hier im Landkreis Vechta.

Einen nicht zu unterschätzenden Impuls hat der ländliche Raum seit den 1960er Jahren durch Industriansiedlungen erfahren, die häufig mit staatlichen Programmen gefördert worden sind. Außerdem haben großräumige Verkehrsprojekte, wie neue Autobahnen oder Regionalflughäfen, der wirtschaftlichen Entwicklung vieler ländlicher Regionen genutzt. Diese Förder- und Infrastrukturprogramme entsprechen einem Grundanliegen der Raumordnungspolitik, gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilgebieten des Staates zu schaffen. Insgesamt haben die staatlichen Investitionen dazu beigetragen, auch abgelegene ländliche Regionen zu stabilisieren und Abwanderungsverluste der Bevölkerung zu begrenzen.


Das Elektro- und Sanitärhandwerk ist auf dem Land gut vertreten. Häufig werden ehemalige Bauernhöfe genutzt, wie dieses Beispiel in Grafenberg bei Metzingen zeigt.


In vielen deutschen Dörfern gibt es den einen mittelständischen Betrieb, in dem ein Großteil der lokalen Bevölkerung beschäftigt ist. Wie hier im oberfränkischen Treppendorf, wo Europas größter Musikhändler angesiedelt ist.

Eine neuere Entwicklung hingegen ist die Ansiedlung von kleinen Dienstleistungsfirmen in den Dörfern nach dem Motto »Kühe raus – Computer rein«. Die oft nur kleinen Büros sind medien- und kommunikationstechnisch bestens ausgestattet und in ihrem räumlichen Aktionsradius überregional, manchmal sogar europa- und weltweit ausgerichtet. Die »Neuen Dienstleister« sind z.B. in den Bereichen Handel (Agrartechnik, Energieprodukte, Computertechnik, Kosmetik/Körperpflege, Metallverarbeitung u.a.) oder fachspezifische Dienstleistungen und Beratungen (Bildung/Forschung, Versicherungen, Ingenieursdienstleistungen, Redaktionstätigkeit, Jobvermittlung u.a.) tätig.

Dass manchmal auch große und überregional bedeutende Gewerbebetriebe in Dörfern residieren, ist keine Seltenheit. So berichtete die FAZ am 20.3.2010 unter der Überschrift »Klangvoll und bodenständig«81 von Europas größtem Musikhändler, der sein Geschäft im oberfränkischen 150-Seelen-Dorf Treppendorf 20 km westlich von Bamberg betreibt. 55.000 Artikel (Musikinstrumente, Musikund Bühnentechnik) werden hier vorgehalten. Allein 6000 Gitarren und Bässe sind am Lager, von denen 1400 in einer der Spezialabteilungen präsentiert werden. Das Dorfgeschäft begann 1954 mit der Ausstattung einer dörflichen Blaskapelle und beschäftigt heute 600 Mitarbeiter. Der Firmengründer war ein leidenschaftlicher Trompeter, die fünf Kinder, die heute in der Firma arbeiten, haben alle ein Blasinstrument gelernt. Man kann die FAZ-Überschrift fortsetzen: Klangvoll, bodenständig und erfolgreich – und gut für das Land!

Im Rückblick der vergangenen 50 Jahre sind die Veränderungen des dörflichen Gewerbes gewaltig. Einige traditionelle Zweige wurden von der Industrieproduktion zurückgedrängt und z.T. ganz beseitigt. Andere konnten sich durch Nutzung des technischen Fortschritts, durch Motoren und Maschinen völlig neue Aufgaben und Schwerpunkte erschließen. Grundsätzlich hat sich das ländliche Gewerbe von seiner früheren Verquickung mit landwirtschaftlicher Tätigkeit gelöst und als eigenständiger Berufsstand emanzipiert. Sein Kundenkreis ist über das eigene Dorf hinausgewachsen. Es hat seine Nische neben der industriellen Massenproduktion gefunden und eine wirtschaftlich gestärkte Position eingenommen. Unter den Wirtschaftssektoren im ländlichen Raum besitzt die gewerbliche Wirtschaft heute bereits eine führende Position – gegenüber der Land- und Forstwirtschaft! Zur Stabilisierung von Handwerk und Handel hat sicherlich auch deren Selbstverwaltung beigetragen. So ist das deutsche Handwerk seit 1897 durch die Handwerkskammern organisiert, die u.a. die Lehrlings- und Meisterausbildung durchführen und darüber hinaus zahlreiche Bildungsprogramme anbieten. Dies trägt dazu bei, dass das (ländliche) Handwerk in Deutschland einen weltweit beachteten hohen Standard besitzt.

Insgesamt haben viele ländliche Regionen in Deutschland in jüngerer Zeit eine über dem Bundes- und Landesdurchschnitt liegende Entwicklung genommen. Schwerpunkte des deutschen Maschinenbaus oder der Elektroin dustrie befinden sich z.B. in ländlichen Regionen Baden-Württembergs, Westfalens oder Niedersachsens. So sitzen in zahlreichen Dörfern des abgelegenen Sauerlandes oder Emslandes hoch spezialisierte Firmen, die sich mit ihren Hightechprodukten auf dem Weltmarkt behaupten (»Hidden Champions«). Der ländliche Raum verfügt vielfach über eine robustere Wirtschaftstruktur als manche Verdichtungsgebiete, was vor allem auf die hier vorherrschenden flexibel agierenden mittelständischen Betriebe sowie seine zuverlässigen und bodenständigen Mitarbeiter zurückgeführt wird.

Das Dorf

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