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Die neue Lebensader vieler Dörfer
ОглавлениеTourismus als Alternative zu wirtschaftlicher Verarmung
Die Schönheit und Natürlichkeit des ländlichen Raumes hat immer schon die Menschen angezogen. Zu den ersten Touristen in Deutschland gehörten englische Adlige und Künstler, die bereits im 18. Jahrhundert das romantische Mittelrheintal entdeckten. Heute präsentieren sich fast alle ländlichen Regionen als touristische Ziele. Doch schöne Dörfer und Landschaften allein sind nicht genug – sie müssen auch zugänglich gemacht werden und besondere Attraktionen bieten: durch Hotels, Rad- und Wanderwege, Uferpromenaden, Seebrücken, Kurparke, Bäder, Eislaufhallen oder Skilifte. Nur so können Dörfer und Kleinstädte vom Tourismus heute profitieren.
Die Entwicklung der modernen Gesellschaft zu immer mehr Freizeit, Erholung und Reisen kommt in erster Linie dem ländlichen Raum zugute. In manchen ländlichen Regionen ist der Tourismus heute bereits der führende Wirtschaftszweig. Er gilt als neue Lebensader, nachdem Landund Forstwirtschaft, Fischerei oder Bergbau vielerorts ihre frühere Bedeutung verloren haben. Die Entwicklung begann punkthaft im 18. Jahrhundert in Badeorten mit Heilquellen wie Driburg oder Kissingen, im Mittelrheintal, auf Bauernhöfen am Alpenrand sowie in Fischerdörfern an der Küste und auf den Inseln der Nord- und Ostsee. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste der Fremdenverkehr immer größere Landstriche und stieß auch in die Mittelgebirge wie Harz oder Schwarzwald vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Tourismus nahezu flächendeckend im ländlichen Raum. Es gibt heute kaum eine ländliche Region in Deutschland, die sich nicht als lohnenswertes Fremdenverkehrsgebiet darstellt und um Gäste wirbt.
Viele Bürgermeister und Regionalpolitiker befassen sich regelmäßig mit der Frage, wie sie ihre Gemeinde oder Region touristisch entwickeln können. Im Vordergrund steht dabei zunächst der Blick auf das natürliche und kulturräumliche Erholungspotenzial einer Landschaft. Hier kann der ländliche Raum mit seinen typischen Standortvorteilen besonders punkten. Für eine hohe natürliche Erholungseignung sorgen vor allem Gewässer- und Waldränder. Außerdem steigern die Vielfalt und der Kontrast der Landnutzung (z.B. Grünland, Ackerland, Moor, Heide) und der Topographie (z.B. Tal- und Bergzüge) den Erholungswert einer Landschaft. Nicht zuletzt zählt ein gesundes Klima. Das höchste natürliche Erholungspotenzial haben in Deutschland neben den Küstenlandschaften und dem Hochgebirge vor allem die seereichen Landschaften, Mittelgebirge, Flusstäler und besonders auch die Weinbauregionen. Relativ gering hingegen ist die natürliche Erholungseignung z.B. bei den monoton genutzten Ackerbaulandschaften der Börden. Neben dem natürlichen hat auch das kulturräumliche Erholungspotenzial für die Entwicklung des Tourismus eine hohe Bedeutung. Hierzu gehören vor allem schöne Orts-, Flur- und Waldbilder, aber auch einzelne Bau- und Naturdenkmäler wie Burgen, Schlösser, Mühlen, Ruinen, Parkanlagen und Quellteiche sowie nicht zuletzt Brauchtum und historische Feste.
Um das vorhandene natürliche und kulturräumliche Potenzial einer Landschaft für den Tourismus zu nutzen, sind eine Reihe von öffentlichen und privaten Einrichtungen und Leistungen erforderlich. An erster Stelle steht hier das Übernachtungs- und Gastronomiegewerbe: Hotels, Pensionen, Gaststätten, Restaurants, Cafés. Dazu kommt die Verkehrserschließung in Form von Zufahrten, Parkplätzen, Wanderwegen usw. Besonders wichtig sind nicht zuletzt die spezifischen Angebote eines Ortes oder einer Region – z.B. für Sport und Spiel: Frei- und Hallenbad, Tennis- und Golfplätze, Reithalle, Eissporthalle und Skilifte; für Unterhaltung und Kultur: Bücherei, Museum, Vorträge, organisierte Führungen und Wanderungen; für medizinische und gesundheitsfördernde Behandlungen: Kurmittelhaus, Trinkhalle, Wellness- und Kneippanlagen.
Die immer weitere Erschließung natürlicher Landschaften kann zu einer Beeinträchtigung des Erholungswertes einer Landschaft führen und damit dem Tourismus selbst schaden. Darauf hat bereits 1975 Jost Krippendorf mit seinem Buch »Die Landschaftsfresser« aufmerksam gemacht. Heute gilt daher die Zielvorgabe des sanften bzw. nachhaltigen Tourismus. Dieser wendet sich gegen allzu rigide Erschließungs- und Baumaßnahmen und versucht, die Erhaltung der Natur mit den Ansprüchen der Bewohner und der Gäste in Einklang zu bringen.
Die große Masse der deutschen Freizeit- und Erholungsorte liegt im ländlichen Raum, d.h. in Dörfern und Kleinstädten. Nach den jeweils in einem Ort vorherrschenden natürlichen und »entwickelten« Angeboten unterscheidet man Kurorte, Seebäder, Sommererholungsorte und Wintersportorte.
Die Kurorte basieren in der Regel auf Heil- oder Thermalquellen. Sie haben sich mit ihren hoch qualifizierten Angeboten wie Spezialkliniken, Sanatorien, Kurheimen, Wandelhallen, Bade- und Kurmittelhäusern meist auf einen ganzjährigen Kurverkehr eingerichtet. Heilbäder und Kurorte sind heute in allen ländlichen Regionen Deutschlands – z.T. in erstaunlicher Dichte – anzutreffen. Die Entwicklung des Kur- und Badetourismus begann vielerorts bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so z.B. in Pyrmont, Meinberg, Driburg, Lauchstädt, Hofgeismar oder Kissingen. In diesen neuen »Sommerfrischen« kamen vornehmlich der Adel und das gehobene Bürgertum zusammen, um sich in gleichgesinnten Kreisen und in ungezwungenem Rahmen austauschen zu können. Sie brachten eine Prise Urbanität auf das Land, von der die aufgesuchten Dörfer und Kleinstädte mittel- und langfristig profitieren konnten. In manchen dieser frühen Kur- und Badeorte haben sich bezaubernde architektonische Ensembles mit historischen Brunnen-, Bade- und Logierhäusern sowie Wandelhallen und Theaterbauten bis heute erhalten.
An nahezu allen deutschen Flüssen, wie hier im Altmühltal, finden sich heute Radwanderwege. Sie sind gut ausgebaut, beschildert und sehr beliebt bei Jung und Alt.
Die touristisch geprägten Küsten- und Inseldörfer haben ihr Flair häufig durch die historische Bäderarchitektur, die vorwiegend im 19. und frühen 20. Jahrhundert enstanden ist. Hier ein Blick in die Strandpromenade von Binz auf Rügen.
Nach den Küsten und Inseln gehören die Mittel- und Hochgebirge zu den beliebtesten Tourismusgebieten, vor allem im Winter. Hier ein Blick vom Berggasthof Seeweg bei Oberstdorf auf das Skigebiet Söllereck in den Deutsche Alpen.
Wichtige Impulsgeber für das moderne Reisen in Deutschland waren im 18. Jahrhundert auch englische Adlige und Künstler, die auf ihrer Grand Tour (Bildungs- und Erlebnisreise) zu den Alpen und nach Italien das Mittelrheintal zwischen Godesberg und Rüdesheim bereisten und begeistert davon berichteten: Der Fluss in seinem felsigen Tal, romantische Orte und burgenbewehrte Höhen, Weinberge an steilen Hängen. Dichter und Maler schufen aus diesen Bildern die »Rheinromantik«, ein Motiv der Sehnsucht nach urwüchsigen Landschaften und fernen Zeiten (z.B. die »Loreley«), das bis heute für viele Reisen Gültigkeit hat.82
Seebäder sind in Deutschland an den Küsten sowie auf den Inseln der Nord- und Ostsee fast linienhaft anzutreffen. Ihre Entwicklung begann 1793 in Heiligendamm an der Ostseeküste, breitete sich aber schnell auf nahezu alle Küsten und Inseln der Nord- und Ostsee aus (Norderney 1797, Travemünde 1799, Lauterbach auf Rügen 1816). Ehemalige Fischer- und Bauerndörfer wie Nebel auf Amrum, Nieblum auf Föhr oder Keitum auf Sylt gehören heute zu den beliebtesten Touristenzielen und zugleich begehrtesten Immobilienstandorten in Deutschland. Die Saison der deutschen Seebäder waren zunächst weitgehend auf die Sommermonate beschränkt, was die Auslastung der Gästebetten und touristischen Angebote erheblich reduzierte. Gleichwohl haben auch die Seebäder ihre Ausstattung ständig verbessert und erweitert und damit auch die Saisonzeiten ausgedehnt. So wurden Uferpromenaden errichtet, ausgebaut oder modernisiert, Rad- und Wanderwege sowie Campingplätze angelegt, Bahnstrecken reaktiviert oder erneuert, die alten Seebrücken auf den Inseln Rügen und Usedom renoviert oder wiederhergestellt. Eine besondere Attraktion der Küsten- und Inselorte ist die sog. »Bäderarchitektur« im verspielten Historismus oder Jugendstil mit ihren Loggien, Balkonen und Veranden sowie Erkern, Türmchen und Säulen. In den typischen Wintergartenvorbauten, die zunächst aus Holz und später aus Eisen mit feinsten Schmuckelementen errichtet wurden, konnten und können die Feriengäste bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit geschützt sitzen, lesen, speisen oder einfach nur auf das Meer schauen und die Zeit genießen.
Ostseeküste zwischen Ahrenshoop und Prerow im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Maßvoller Tourismus und strenger Naturschutz sind hier nebeneinander möglich.
Die Sommererholungsorte haben ihre Standortqualitäten schlicht in der »schönen Kulturlandschaft« und »gesunden Luft«. Sie sind flächenhaft im ländlichen Raum verbreitet. Bevorzugte Gebiete sind allerdings die meist dünn besiedelten Mittel- und Hochgebirge, größere Wald- und Heidelandschaften sowie Binnenseen wie der Bodensee oder die ausgedehnte Mecklenburgische Seenplatte. Wie bei den Seebädern ist die Saison meist relativ kurz und auf die wärmere Jahreszeit konzentriert. Eine seit Jahrzehnten bestehende Angebotsnische sind die »Ferien auf dem Bauernhof«, die besonders bei Familien mit Kindern beliebt sind. Touristische Magnete auf dem Land sind auch die zahlreichen regionalen Freilichtmuseen sowie die modernen Erlebnisparks wie z.B. der Erlebnispark »Schloss Thurn« in Heroldsbach/Franken. Auch die Sommererholungsorte haben in den letzten Jahrzehnten vielerlei Anstrengungen zur Steigerung ihrer Attraktivität unternommen. Ein Trend ist die Koordinierung und Vermarktung der lokalen und kommunalen Sehenswürdigkeiten und Angebote durch überkommunale Tourismusverbände, die dann ihre regionalen »Marken« wie »Sächsische Schweiz«, »Weinfranken« oder »Pfälzer Wald« gebündelt bewerben können. In ähnlicher Weise sorgen »Themenwege« wie »Straße der Romanik«, »Deutsche Mühlenstraße« oder »Deutsche Burgenstraße« für eine touristische Durchdringung des Landes. Ebenfalls profitieren die Sommererholungsorte von den inzwischen dichten Netzen von Fahrrad- und Wanderwegen, die die ländlichen Regionen durchziehen und miteinander verbinden. So werden heute alle größeren und mittleren Flüsse in Deutschland nahezu komplett von der Quelle bis zur Mündung mit Rad- und Wanderwegen begleitet. Auch Gebirgszüge wie der Thüringer Wald, das Rothaargebirge oder die Alpen sind von überregionalen Kamm- oder Gebirgsrandwegen für den Fernwanderer erschlossen worden. Nicht zuletzt bleiben die zahllosen Fahrgastschiffe auf Rhein, Main, Donau, Mosel, Weser und Elbe zu nennen, die in den Sommermonaten immer wieder gern zu Ausflugsfahrten genutzt werden. Ein neuer Trend sind Flusskreuzfahrten, die vor allem bei ihren Wegen durch die Mittelgebirge an die Erlebnisse, Gesänge und Bilder der reisenden Romantiker um 1800 anknüpfen.
Das Dorf Oberhof im Thüringer Wald ist ein traditionsreicher Wintersportort im Deutschen Mittelgebirge. Seit 2009 ist hier Deutschlands größte Skisporthalle für Spitzensportler und Hobbyskifahrer in Betrieb und ermöglicht ein ganzjähriges Skilaufen.
Die Wintersportorte sind in der Regel an Höhenlagen ab 800 m gebunden. Sie finden sich deshalb neben den Alpen nur in den höheren Mittelgebirgen wie Schwarzwald, Thüringer Wald, Erzgebirge, Rothaargebirge, Bayerischer Wald und Harz. Die meisten Wintersportorte haben neben ihrer Hauptsaison auch im Sommer »geöffnet«. Gerade im Wintersport zeigt sich die große Bedeutung neu geschaffener Angebote. Zahlreiche ländliche Orte in den Mittelgebirgen und Alpen wie Oberhof, Willingen oder Oberstdorf haben sich mit ihren Wintersportangeboten zu Zentren für Sport und Tourismus entwickelt, was vor Jahrzehnten noch kaum jemand für möglich gehalten hätte. Moderne Anlagen für Skispringen, Eislauf, Biathlon, Rennschlitten- oder Bobsport, Abfahrts- oder Langlauf (oft beleuchtet bis spät in den Abend) gehören vielfach bereits zum Standard. Dazu kommen Rodel- und Wanderstrecken, die maschinelle Beschneiung und nicht zuletzt die diversen Liftanlagen.
Ein Beispiel ist das gut 1500 Einwohner zählende Dorf Oberhof im Thüringer Wald: Hier wurde im Juli 2009 neben einer bereits bestehenden Sprungschanze, einer Rennschlitten- und Bobbahn, einer Biathlonanlage und beleuchteten Skipisten eine neue, 400 m lange und 14,4 Mio. Euro teure Skisporthalle eröffnet (die erste in Mitteleuropa, nach Vorbildern in Schweden und Finnland). Mehr als 50 Spitzen- oder Freizeitsportler können hier gleichzeitig 365 Tage im Jahr auf 30 cm Schnee bei minus vier Grad und 70–90 % Luftfeuchtigkeit Ski laufen. Für die Wintersportler, ob Langläufer, Kombinierer oder Biathleten, ist die neue Skihalle ein enormer Standortvorteil. Oft sind sie auf der Suche nach Schnee Tausende von Kilometern unterwegs. Außerdem lassen sich hier die Trainingseinheiten optimal kontrollieren: 32 Kameras leuchten jeden Winkel aus, die technische Detailarbeit auf Skiern lässt sich sofort per Videoanalyse überwachen. Am großen Monitor an der Wand im Konferenzraum kann jeder Schritt in der Halle genau verfolgt werden. Die Tourismusmanager von Oberhof setzen aber nicht nur auf die Spitzensportler, sondern auch auf Hobbylangläufer und Besucher. Die DKB Skihalle in Oberhof wird heute etwa zu gleichen Teilen von Leistungs- und Freizeitsportlern genutzt. Bisher ist man mit deren Nachfrage sehr zufrieden.83
Im Ganzen hat der moderne Tourismus zur ökonomischen, baulichen und sozialen Stabilisierung des ländlichen Raumes beigetragen. Viele ehemalige Bauern-, Waldarbeiter-, Fischer- und Bergbaudörfer, die mit der Schrumpfung ihrer früheren Hauptwirtschaftszweige in eine Existenzkrise geraten waren, haben durch den Tourismus ihre verloren gegangenen Erwerbsmöglichkeiten ersetzen können. In manchen ländlichen Regionen – so im Harz, im Alpenraum oder auf den Nord- und Ostseeinseln – ist der Tourismus heute häufig die einzige Alternative zur wirtschaftlichen Verarmung und Entsiedlung.