Читать книгу SoKo Heidefieber - Gerhard Henschel - Страница 3
1
ОглавлениеIn der Buchhandlung Patz in Bad Bevensen klirrten die Gläser.
»Liebe Freundinnen und Freunde des gepflegten Buches«, rief der Geschäftsführer Detlev Patz in die Runde, »normalerweise stoßen wir hier ja erst nach dem Ende einer Veranstaltung miteinander an, aber wie Sie alle wissen, ist es schon Tradition, daß die Lesungen des Autors Armin Breddeloh bei uns auf seinen Wunsch mit einem Sektempfang beginnen. Also Prost!«
Die Büchertische und die Ständer waren beiseite geräumt worden, damit genug Stuhlreihen Platz fanden, und ganz hinten wurden immer noch weitere Klappstühle aufgestellt, denn der Andrang war immens. Nach »Heideblut« und »Heidejagd« spielte auch Breddelohs dritter Kriminalroman »Heidefieber« in Bad Bevensen, einem Städtchen in der Lüneburger Heide, das in Wirklichkeit nur selten als Tatort grausamer Verbrechen von sich reden machte. Vielleicht gefielen diese Krimis den Einwohnern gerade deshalb so gut. In Breddelohs Büchern gingen Mörder mit Eispickeln und Kettensägen auf einheimische Orthopäden, Kassiererinnen, Bäcker, Busfahrer und Bademeister los, und das Blut sprudelte an Orten, die jeder kannte – im Rosenbad, am Elbeseitenkanal, im Kloster Medingen, im Baumarkt an der Ludwig-Ehlers-Straße oder auf der Klein Bünstorfer Heide. Und zwar in Strömen, denn Breddeloh war »kein Kind von Traurigkeit«. Das hatte er in einem Interview mit dem Uelzener Anzeiger betont.
Auch in seinem neuen Roman, aus dem er jetzt las, richtete jemand gleich auf der ersten Seite ein Blutbad an. In der Jod-Sole-Therme am Kurpark schlich der Täter sich an eine Rentnerin heran, die nichts Böses ahnte: »Sie hatte es sich in ihrer Wickelpackung auf der Thermo-Spa-Liege bequem gemacht und genoß mit geschlossenen Augen den Duft der Aromaöle«, las Breddeloh vor. »Die Wärme, die harmonische Musik und die sanften Schwingungen der Liege verliehen ihr die Illusion der Schwerelosigkeit. Einen Moment lang dachte sie noch an ihre nächste Wurzelkanalbehandlung und an den Appetitmangel ihres geliebten Zwergschnauzers Kalimo, aber dann überkam sie eine Seligkeit, neben der alles andere verblaßte. Die Klangwellen flossen so zart über sie hinweg wie Mondlicht, und ihr war, als schwebte sie nun selbst so leicht dahin wie der Samenfaden einer Pusteblume im Sommerwind. Sie sah sich über eine grüne Wiese gleiten, auf den Horizont zu, der in Blau und Gold erstrahlte. Und so tief war sie in diesen Tagtraum versunken, daß sie nicht merkte, wie der Schatten eines Hammerbeils auf ihre Lider fiel. Der erste Hieb durchtrennte den Kehlkopf, die Halsschlagader, die Luftröhre, die Speiseröhre und sämtliche Halsmuskelstränge, und der zweite teilte auch die Nackenwirbelsäule in zwei Hälften. Dieser Vorgang hatte nur ein paar Sekunden gedauert, aber einen großen Schwall von Blut verursacht. Es ergoß sich auf den Boden, und es tropfte von dem Beil. Der Mann wischte die Klinge an der Aromawickelpackung ab. ›Das hast du davon, daß du mich damals auf Gomera mit Aids angesteckt hast‹, sagte er zu der Leiche. ›Und jetzt kümmere ich mich um deine Kinder. Und um deine Enkelkinder. Die lieben Kleinen freuen sich bestimmt schon auf den Mann mit dem Hackebeilchen …‹«
Breddeloh blickte auf. Und er konnte zufrieden sein: In den Gesichtern malten sich Abscheu und Angstlust.
In dem Kapitel, das er vortrug, schlug der Mörder am Ende ein zweites Mal zu, doch die Tatwaffe war eine andere. Diesmal bediente er sich eines Bolzenschußgeräts, um den jüngsten Sohn der geköpften Rentnerin, einen Jugendtrainer, im Vereinsheim des BSV Union Bevensen von allen Sorgen zu erlösen.
»Nach getaner Tat«, las Breddeloh weiter vor, »trat der Mann einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Es behagte ihm ganz ausgezeichnet. Vor allem das gespenstische Grinsen, zu dem sich der Mund des Opfers verzogen hatte. ›Saubere Arbeit‹, dachte der Mann. ›Ich werde immer besser …‹ Er nahm dieses Bild in sich auf und schloß einen Moment lang die Augen. Dann drehte er sich um, verließ das Stadion an den Sandschellen und ging pfeifend die paar hundert Meter zum DRK-Waldkindergarten hinüber, wo es auch noch etwas zu tun gab. Allerdings erst später. In den nächsten Tagen würde es hier von Polizisten wimmeln, und für das, was der Mann sich vorgenommen hatte, brauchte er ein wenig Abgeschiedenheit. Heute wollte er nur schon einmal das Gelände sondieren. Denn es sollte ja eine gelungene Überraschung werden, wenn er aus sicherer Entfernung die Armbrust auf die kleine Emilia anlegte. Oh, wie würden sie da staunen, die Erzieherinnen, wenn der Pfeil einschlug! Und Emilia selbst erst! Und die anderen Kinder! Es sollte für sie alle ein unvergeßlicher Tag werden. Und für Emilia der letzte ihres Lebens.«
Breddeloh klappte das Buch zu und trank einen Schluck Sekt, während das Publikum applaudierte.
Detlev Patz erhob sich. »Vielen Dank, Herr Breddeloh, für diesen schaurigen Einblick in die Unterwelt von Bad Bevensen, in der es offenkundig gefährlicher zugeht, als die Polizei erlaubt! Und vielen Dank auch Ihnen, meine Damen und Herren, daß Sie so zahlreich erschienen sind. Gestatten Sie mir noch den Hinweis auf die nächste Veranstaltung: Am Freitagabend nächster Woche wird der renommierte Hamburger Schriftsteller Frank Schulz hier bei uns aus seinem Kriminalroman ›Onno Viets und der Irre vom Kiez‹ lesen. Beehren Sie uns dann bitte wieder! Und bevor ich gleich das kleine Büfett eröffne, das wir für Sie angerichtet haben, wird Herr Breddeloh gewiß gern einige Bücher signieren. Oder möchten Sie vorher vielleicht noch die eine oder andere Frage an ihn richten? Ja? Der Herr dort hinten in dem grünen Jackett?«
Ein Mittfünfziger stand auf und sagte: »Herr Breddeloh, in dem Abschnitt, den Sie heute vorgelesen haben, kommt zweimal die Formulierung ›einen Moment lang‹ vor. Ist das Absicht oder Einfallslosigkeit?«
Breddeloh lief rot an. »Sie scheinen zu glauben, daß Sie meine Romane besser schreiben könnten als ich selbst«, erwiderte er. »Aber das Urteil über meine literarischen Fähigkeiten können Sie getrost meinen Leserinnen und Lesern überlassen!«
Dafür gab es abermals Beifall, und als Breddeloh die Bücher signierte, bekam er viele Komplimente zu hören. »Sie haben so eine samtige Stimme«, sagte eine freundliche ältere Dame, die sich auf ihren Rollator stützte. »Machen Sie auch Hörbücher, Herr Breddeloh?« Ein junger Mann teilte ihm mit, daß er niemals etwas Geileres gelesen habe als die Schilderung des Amoklaufs in der Fritz-Reuter-Schule in dem Roman »Heidejagd«. »Wie da die Lehrer in der Mensa umgenietet werden – das hätte nicht mal Stephen King besser hingekriegt!« Und eine Buchhändlerin aus Lüneburg, Ende zwanzig, sommersprossig und strohblond, reichte ihm ihre Visitenkarte, lud ihn zu einer Lesung ein und fragte ihn, ob denn auch schon ein vierter Roman in Arbeit sei.
»Oja«, sagte Breddeloh. »Der wird ›Heidegold‹ heißen. Da geht es um die Verwicklung eines Juweliers aus Bad Bevensen in illegale Geschäfte mit Edelmetallen aus dem Amazonasbecken. Ich arbeite mich gerade in diese Materie ein …«
Trotz des Zuspruchs konnte man ihm deutlich ansehen, daß ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. In Gestalt des Herrn mit dem grünen Jackett. Der nun auch noch die Frechheit besaß, die nette Buchhändlerin aus Lüneburg in ein Gespräch zu ziehen, obwohl Breddeloh ihr gern noch etwas mehr von seinen Recherchen für das neue Buch berichtet hätte.
Leise grummelnd ging er zum Büfett und angelte sich eine Cocktailtomate.
»Und?« sagte Detlev Patz. »Geht’s jetzt auf große Lesereise?«
»Erst Dienstag. Deutschland, Österreich und die Schweiz. Vier Wochen lang.«
»Ist das nicht langweilig, immer dieselben Sachen vorzulesen?«
Breddelohs Miene verdüsterte sich weiter. Ein Wort der Bewunderung für die Reichweite seiner Lesetour hätte ihm besser gefallen. Was sollte er auf diese unverschämte Frage antworten?
Ihrer Ansicht nach, warf eine keck frisierte Dame ein, sei Harry Rowohlt ja der beste Vorleser aller Zeiten gewesen. »Haben Sie den mal kennengelernt?«
»Nein«, sagte Breddeloh, wobei es ihm mühelos gelang, seine Stimme eisig klingen zu lassen.
»Und Sie haben auch nie eine Lesung von ihm besucht?«
»Nicht daß ich wüßte.« Die Stimme noch fünf Grad kälter.
»Da haben Sie was versäumt! Der Mann war einfach göttlich …«
Harry Rowohlt habe auch mal in Bad Bevensen gelesen, sagte Patz. »Da hat er erzählt, daß er sich ganz komisch gefühlt habe, als er hier aus dem Zug gestiegen sei, und erst nach zehn Minuten sei er darauf gekommen, woran das lag: Er war überall der Jüngste!«
In das Gelächter, das diese Anekdote auslöste, stimmte Breddeloh nicht ein. Man hatte ihn in der vergangenen Viertelstunde zu oft gedemütigt. Er schützte vor, daß er heute noch arbeiten müsse, kassierte sein Honorar und setzte seinen 595 Euro teuren Kaninchenfilzhut von Hermès auf. Dann schwang er sich in seinen vor der Buchhandlung geparkten Citroën C5 Aircross, um in den Nachbarort Bienenbüttel zu fahren, wo er eine Villa mit zwölf Zimmern, Fitneß-Studio, Dachgarten und Außenpool bewohnte.
Aber er kam nie dort an.
»Wer hat ihn entdeckt?« fragte Hauptkommissar Gerold die Polizisten, die das Schutzzelt über dem Nixengrund aufbauten.
»Das Ehepaar da oben am Kopf der Treppe …«
Gerold seufzte. Wie es sich für einen Hauptkommissar gehörte, war er ein breitschultriger Bär von einem Mann mit einem Nervenkostüm aus korrosionsfreiem Stahl, aber wenn es etwas gab, das ihm fast so viel zu schaffen machte wie das Überbringen einer Todesnachricht, dann war es die Befragung von Spaziergängern, die einen grausigen Fund gemacht hatten. Sicherlich, sie standen unter Schock, diese Leutchen, und das mußte man verstehen. Schwer erträglich war es jedoch, wenn sie die einfachsten Fragen nur mit einem Stammeln beantworten konnten. Oder wenn sie sich, schlimmer noch, so großspurig wie der Meisterdetektiv Kalle Blomquist aufspielten. Hin und wieder war es auch vorgekommen, daß sie jede Auskunft verweigerten und ihren Anwalt zu sprechen wünschten.
Doch in diesem Fall erwiesen sich die Zeugen als gescheit und zurechnungsfähig. Die beiden Eheleute – ein Forstrat und eine Lehrerin aus Klein Bünstorf, einem Vorort von Bad Bevensen – sagten in aller Ruhe aus: Sie hätten an diesem schönen Frühlingsmorgen eine Wanderung zu dem beliebten Ausflugsziel Sängershöh unternommen, einer hochgelegenen Uferböschung über der Ilmenau, und dort bemerkt, daß im Nixengrund, einem Tümpel unterhalb der Anhöhe, eine Leiche liege, woraufhin sie mobiltelefonisch die Polizei verständigt hätten.
»Haben Sie den Toten angefaßt?« fragte Gerold.
»Wo denken Sie hin!« sagte die Frau, und ihr Mann lachte auf und stellte fest, daß sie weder blöd noch nekrophil seien.
»Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen«, sagte Gerold. »Sie haben alles richtig gemacht, und wir sind Ihnen dankbar.«
»Chef?« rief die Oberkommissarin Fischer von unten herauf. »Können Sie mal kommen? Wir haben hier was Merkwürdiges gefunden …«
Es war ein menschlicher Augapfel. Zehn Meter vom Fundort der Leiche entfernt.
»Hier liegt noch einer!« rief einer der Polizisten, die den Boden absuchten. »Und der wird gerade von zwei Würmern belutscht!«
Angesichts der obduzierten Leiche aus dem Nixengrund fiel es dem Pathologen Dr. Hans-Werner Büthers nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Armin Breddeloh, sagte er, sei durch Strangulation zu Tode gekommen. »Die Gewalteinwirkung auf das Zungenbein und das Kehlkopfgerüst ist unübersehbar. Insofern ist das alles nicht ungewöhnlich. Aber womit Sie sich noch beschäftigen müssen, ist der Fakt … ich meine, der Umstand …«
»Machen Sie’s nicht so spannend«, sagte Kommissar Gerold. Er saß wie auf heißen Kohlen, denn er hätte seinen Sohn Fabian schon längst aus dem Kegelverein abholen müssen. Noch drei Sekunden länger, und er hätte gesagt: »Spucken Sie’s aus, Doc!«
»Um es kurz zu machen«, sagte Dr. Büthers, »verhält es sich so: Die in der Nähe des Fundorts der Leiche geborgenen Augäpfel sind dem Opfer mit einem Instrument unbekannter Bauart entnommen worden, und dann hat man ihm zwei Glasaugen eingesetzt.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Nein. Diese Leiche hat zwei Glasaugen.«
»Und die hat ihr der Mörder eingepflanzt?«
»Entweder der oder eine andere Person.«
»Vor oder nach dem Mord?«
»Post mortem. Also danach.«
Gerold atmete tief ein. Und wieder aus. »Gibt’s auch irgendwelche guten Nachrichten? Verwertbare Spuren zum Beispiel?«
»Bisher nicht. Der Täter muß einen Weltraumanzug getragen haben. Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber der Todeszeitpunkt läßt sich jetzt eingrenzen: zwischen Donnerstagabend um neun und Freitagmorgen um drei.«
Immerhin etwas, dachte Gerold und rief Kommissarin Fischer an. »Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen erzähle, was sich bei der Obduktion ergeben hat …«
Weder in Breddelohs Gemächern noch auf seiner Festplatte stießen die Beamten auf weiterführende Anhaltspunkte. Fündig wurde Kommissarin Fischer ganz woanders, und sie eilte in Kommissar Gerolds Büro. »Chef? Ich hab hier was …«
»Seien Sie doch bitte so nett, mich nicht mehr ›Chef‹ zu nennen«, sagte er. »Mein Name ist Gerold. Vorname Gerold, Nachname Gerold. Gerold Gerold.«
»Im Ernst? Also, ich heiße Ute. Wie Sie ja schon wissen. Angenehm. Aber ich heiße nicht Ute Ute, sondern Ute Fischer. Wie Sie ebenfalls schon wissen. Und wir kennen uns zwar erst seit vierzehn Tagen, aber in Zukunft werde ich Sie mit Gerold ansprechen, Chef.«
»Und was haben Sie?«
»Ich hab Breddelohs Roman ›Heidefieber‹ gelesen. Da wird ein Mordopfer im Nixengrund in Bad Bevensen aufgefunden. Mit zwei Glasaugen, die der Mörder der Leiche eingesetzt hat.«
O Himmel, dachte Gerold. Was ist das für eine kranke Scheiße?
Im Beisein von Detlev Patz sahen Kommissar Gerold und Kommissarin Fischer sich das Video von Armin Breddelohs letzter Lesung an. Die Überwachungskamera hatte alles aufgezeichnet.
»Wer ist denn dieser Meckerpott in dem grünen Jackett?« fragte Gerold.
Patz zuckte die Achseln. »So ’n Journalist aus Lüneburg, glaub ich. Der war ab und zu schon mal hier. Alwin Peters oder so. Haben Sie den etwa im Verdacht?«
»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein«, sagte Kommissarin Fischer. »Ist Ihnen an dem Abend hier was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«
Da müsse er passen, sagte Patz. »Es war alles wie immer. Von den Leuten, die hier gelesen haben, ist vorher noch nie einer umgebracht worden, und soweit ich weiß, ist von unseren Kunden auch noch nie einer auf einem Steckbrief aufgetaucht …«
»Spulen Sie mal vor«, sagte Gerold. »Bis zu der Stelle, wo dieser Grünspecht Ihren Laden verläßt.«
Das war um 21.57 Uhr gewesen. Zwanzig Minuten nach Armin Breddelohs Abgang.
»Dann sollten wir jetzt vielleicht doch diesem Peters auf den Zahn fühlen«, sagte Gerold und reckte seine ansehnlichen Schultern. Dabei blieb sein Blick an einem Tisch mit Kriminalromanen hängen: »Heidegrab«, »Heideglut«, »Heidezorn«, »Heidefluch«, »Heidefleisch«, »Eisheide«, »Mordheide«, »Blutheide«, »Killerheide« … Er griff eines der Bücher heraus, schlug es auf und las die Sätze:
Der Mörder schlug den Mantelkragen hoch und stapfte durch den Schafkot zur Bushaltestelle. Irgendwo bellte ein Hund.
»Verkaufen Sie viele von diesen Heidekrimis?« fragte Gerold.
Patz nickte. »Hunderte.«
»Und wie viele Breddelohs haben Sie im letzten Quartal verkauft?«
»Jedenfalls mehr als die von seinem schärfsten Konkurrenten Waldemar König aus Schneverdingen. Der schreibt auch nur lauter Heidekrimis. Für die haben wir einen eigenen Tisch eingerichtet. Wollen Sie mal sehen?«
Es lagen dort Bücher mit Titeln wie »Die zersägte Äbtissin«, »Die Heidegrabschänder« und »Die Blutmühle von Barum« aus.
»Das scheint ja ein einträgliches Marktsegment zu sein«, sagte Kommissarin Fischer.
»Segment?« Detlev Patz lachte so trocken auf, wie er konnte. »Das ist kein Segment! Die Kunden kaufen praktisch überhaupt keine anderen Bücher mehr! Versuchen Sie mal, denen was von Goethe oder Arno Schmidt schmackhaft zu machen!«
Kommissar Gerold sah ihn groß an. »Arno wer?«
»Arno Schmidt«, sagte Patz. »Der hat auch in der Lüneburger Heide gewohnt. Aber nicht, daß Sie den jetzt auch noch verdächtigen. Arno Schmidt ist schon 1979 gestorben.«
Kommissarin Fischer empfing einen Anruf und sagte dann: »Chef? Ich meine, Gerold?«
»Ja?«
»Neuigkeiten. Wir haben Breddelohs Wagen. Leider ausgebrannt. Auf einem Acker zwischen Becklingen und Bostelwiebeck.«
»Zwischen wo?«
»Zwischen Becklingen und Bostelwiebeck.«
»Sie sehen mich so an, als ob Sie sich vorstellen könnten, daß ich einen Schimmer davon hätte, wo das ist, meine liebe Frau Fischerin, aber da irren Sie sich! Ich bin selbst erst vor drei Jahren in diese entlegene Gegend gezogen …«
Bevor sie losfuhren, um Alwin Peters zu verhören, drückte Kommissarin Fischer ihrem Chef im Auto Armin Breddelohs Roman »Heidefieber« in die Hände. Auf Seite 204 stand:
Mit einem Schuhlöffel klaubte Lamborghini-Uwe dem Posaunisten das rechte Auge heraus.
»Haben Sie doch Erbarmen«, wimmerte der Musiker. »Ich bin ein Vater von drei Kindern!«
»Nein, von drei Halbwaisen«, sagte Lamborghini-Uwe und riß ihm auch das andere Auge heraus. Dann setzte er ihm mit einer Spezialzange zwei Glasaugen ein und schnitt ihm die Kehle durch. Weil er das cool fand. Und weil er die Bullen damit schocken wollte.
»Adieu, Monsieur«, sagte er und warf den Toten in den Nixengrund.
Es stiegen drei, vier Wasserblasen auf, und dann versank die Leiche im Morast.
»Das ist ja grauenhaft schlecht geschrieben«, sagte Gerold. »Und was soll das für eine Zange gewesen sein?«
Kommissarin Fischer meinte, daß Herr Breddeloh da wohl zu faul zum Googeln gewesen sei. »Wohingegen unser Täter genau gewußt hat, wie man in so einem Fall vorgehen muß. Er hat das getan, wovon Breddeloh nur phantasiert hat.«
»Na, wenn das Schule machen sollte, sehe ich schwarz für unsere Krimischreiber«, sagte Gerold. »Dann können sie einpacken!«
Unterwegs trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad und singsangte: »Pampa dammtamm, pada tamm, pampa dammtamm, pada tamm …«
Im Profil sieht er noch ganz passabel aus, dachte Kommissarin Fischer. Kein schöner Mann, aber einer mit einem markanten Kinn, und er hatte sich gut rasiert, im Gegensatz zu den meisten Jünglingen, die ihr nachstellten. In den letzten zwei, drei Jahren waren mehr als genug Verehrer mit Grätenhals um sie herumscharwenzelt. Mit ihren Männerbekanntschaften hatte sie bislang nicht viel Glück gehabt. Zwei Pharmaziestudenten, ein italienischer Jungkoch und ein freischaffender Künstler trauerten ihr nach. Sie selbst hatte beschlossen, sich nach oben zu orientieren und sich nicht noch einmal mit einem beruflich ungefestigten Mann einzulassen.
Links und rechts sausten die Maisfelder und die Birken vorbei.
»Pampa dammtamm, pada tamm«, sang Kommissar Gerold vor sich hin.
»Ist das irgendein Geheimcode?« fragte Kommissarin Fischer.
»Quatsch. Ich brüte nur gerade die Melodie für einen Song aus. Ich hab da so ’ne Garagenband. Schon seit Jahren …«
»Und wie heißt die?«
»Das wollen Sie nicht wissen.«
»Doch.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. Eine Liaison mit dieser jungen Kollegin kam nicht in Frage. Erstens würden sich alle darüber das Maul zerreißen, zweitens gab es da den Altersunterschied, und drittens …
»Reden Sie sich’s von der Seele, Chef. Sie wissen doch, wie sehr einen Geständnisse erleichtern.«
»Sie sollten Gerold zu mir sagen.«
»Gut. Ich merk’s mir. Und wie heißt nun Ihre Band?«
»Gerold Gerold and the Middle Agers.«
Es entging ihm nicht, daß sie sich auf die Unterlippe biß.
»Und wovon handelt der Song?« fragte Kommissarin Fischer.
»Von einem Computerspiel. Fortnite.«
»Nie gehört.«
»Kombiniere, kombiniere: Sie haben keine Kinder.«
»Richtig.«
»Ich schon. Und mein fünfzehnjähriger Sohn spielt Tag und Nacht Fortnite. So’n Killerspiel. Da murksen sich einhundert Gamer gegenseitig ab, bis nur noch einer von ihnen lebt.«
»Und das halten Sie für bedenklich?«
»Sagen wir’s mal so: Es kotzt mich an. Und der Refrain ist schon fast fertig: ›Fort mit Fortnite, weg damit! Spiel nicht diesen Killefit!‹«
»Killefit?«
»Kennen Sie das Wort nicht?«
»Nein.«
Kommissar Gerold kratzte sich am Kiefer und fragte sich, ob diese Frau überhaupt von irgendwas eine Ahnung hatte.
Alwin Peters lachte lange und herzlich, nachdem er begriffen hatte, daß er verdächtigt wurde, Armin Breddelohs Mörder zu sein. »Entschuldigen Sie bitte meine Heiterkeit«, sagte er und hielt sich seinen dicken, vor Vergnügen bebenden Bauch. »Aber da sind Sie auf dem Holzweg! Ich habe Herrn Breddeloh immer für einen Dünnbrettbohrer gehalten, aber ich habe ihm nie nach dem Leben getrachtet.«
»Sie haben die Buchhandlung Patz um kurz vor zehn verlassen«, sagte Kommissarin Fischer. »Wo sind Sie dann hingegangen?«
»Zum Bahnhof. Und um zehn nach zehn bin ich in den Metronom gestiegen. Die Fahrkarte müßte hier noch irgendwo rumliegen. Ich kann Ihnen sogar zwei Zeugen für mein Alibi nennen, denn der Schaffner, der meine Fahrkarte kontrolliert hat, ist ein Vetter von mir, und der Taxifahrer, der mich heimgefahren hat, ist ein Schwager meiner Nachbarin.«
»Gibt es einen tieferen Grund dafür, daß Sie Herrn Breddeloh vor versammelter Mannschaft angegriffen haben?« fragte Kommissar Gerold.
Peters räusperte sich. »Ich bin Literaturkritiker«, sagte er. »Ich habe Herrn Breddeloh wegen seiner Schlamperei zur Rede gestellt. Das wird ja wohl noch erlaubt sein. Wenn ich jeden Autor ermorden wollte, dessen Romane ich schlecht finde, hätte ich mehr zu tun als ein einarmiger Akkordeonspieler …«
Kommissar Gerolds Blick schweifte über die Rücken der Bücher in den Regalen. »Haben Sie die alle gelesen?« fragte er.
»Chef, ich meine, Gerold«, sagte Kommissarin Fischer, als sie wieder im Wagen saßen, »jetzt mal ernsthaft: Was wollten Sie mit dieser bescheuerten Frage bezwecken?«
»Das hat mich halt interessiert«, sagte er. »Wenn einer seine Bude dermaßen mit Büchern vollstopft, kann man das doch fragen …«
»Aber uns ist hoffentlich beiden klar, daß Alwin Peters als Verdächtiger ausscheidet.«
»Ja. Leider. Und jetzt sollten wir uns mal diesen Waldemar König vornehmen.«
»Den fragen Sie dann aber bitte nicht, ob er die Bücher, die ihm gehören, alle gelesen hat.«
»Und wieso nicht?«
»Weil das nur Idioten fragen.«
Er sah sie an, doch sie blickte geradeaus, und er musterte ihre Adlernase. Andere Frauen hätten sich einen solchen Höcker wegoperieren lassen, dachte er. Aber dafür mußte man wohl ein klein wenig mehr verdienen. Und bei Licht betrachtet sah sie gar nicht so verkehrt aus, diese Nase. Irgendwie indianisch. Oder persisch. Doch man hieß nicht mit Nachnamen Fischer, wenn man indianische oder persische Gene hatte. Es sei denn, daß sich irgendwann eine Indianerin oder eine Perserin in den Stammbaum verlaufen hatte …
Kommissar Gerold schnallte sich an und straffte sich, wobei ihm auffiel, daß es klüger gewesen wäre, sich erst zu straffen und dann anzuschnallen. Im unangeschnallten Zustand hätte er beim Straffen mehr Bewegungsfreiheit gehabt und das Augenmerk der Fischerin leichter auf seinen Brustkorb lenken können, für dessen Umfang er vor zehn, zwölf Jahren viel getan hatte, an der Kraftstation, als seine Ehe noch nicht im Eimer gewesen war.
Am Rande von Schneverdingen bewohnte Waldemar König, 48, ein »Nurdachhaus«, das so hieß, weil es keine Seitenwände hatte, und er servierte seinen Besuchern Fencheltee in selbstgetöpferten Keramiktassen. Das alles hätte schon genügt, um Kommissar Gerolds Stimmung zu dämpfen, aber König trug außerdem einen Schnurrbart zur Schau, der waffenscheinpflichtig zu sein schien: ein beidseitig in eine neunfache Spiralform gezwirbeltes Ding, das starke Zweifel an der Intelligenz seines Besitzers nährte.
»Kannten Sie Breddeloh persönlich?« fragte Kommissarin Fischer.
»Nein«, sagte König, und Kommissar Gerold sah angewidert zu, wie der Befragte ein Schlückchen Fencheltee schlipperte und es dabei sorgfältig vermied, seine Barthaare zu benetzen.
»Haben Sie denn mal ein Buch von ihm gelesen?«
»Ja. Diesen Fehler habe ich jedoch nur ein einziges Mal begangen. Über Breddelohs Charakter steht mir kein Urteil zu, aber als Autor ist er ein Stümper gewesen.«
»Und wo waren Sie in der Tatnacht?« fragte Kommissar Gerold. »Zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens?«
»In einem Puff in Soltau«, sagte König und lächelte. Vielleicht aus stiller Freude über die Verblüffung, die seine Antwort ausgelöst hatte, vielleicht aber auch nur wegen der süßen Erinnerung an seine Erlebnisse in der Soltauer Lustoase. »Dort hat man mich schon um zwanzig Uhr willkommen geheißen, und wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, bin ich erst um fünf Uhr morgens wieder gegangen. Das können Mandy, Pamela, Daisy und Coco bezeugen.« Er zückte ein Kärtchen und reichte es Kommissar Gerold. »Hier finden Sie alle notwendigen Angaben, was diesen kleinen, exklusiven Club betrifft. Sie können die Damen von mir grüßen. Doch ich warne Sie: Die Tarife, die man dort verlangt, liegen ein paar Zentimeter oberhalb Ihrer Gehaltsstufe …«
Das Lächeln, das Königs Lippen unterhalb seiner Bartgirlanden umspielte, wurde breiter, aber Kommissar Gerold blieb bei der Sache. »Wir werden das überprüfen. Und lassen Sie uns nochmal auf Ihr Verhältnis zu Armin Breddeloh zurückkommen. Seine Krimis sind größere Verkaufsschlager als Ihre eigenen. Sehe ich das richtig?«
Wenn König sich von dieser Bemerkung vor den Kopf gestoßen fühlte, wußte er es gut zu verbergen. Es sei ihm begreiflich, sagte er, daß ein schlichtes Polizistengehirn ihn für den Mörder halte und ihm als Motiv den Neid auf Breddelohs Bestseller unterschieben wolle. »Sehen Sie sich doch mal das Ranking bei Amazon an. Im Hinblick auf Armin Breddelohs Buchverkäufe ist seine Ermordung der größte Glücksfall seines Lebens. Bei den Krimis steht sein neuer Roman jetzt auf dem ersten Platz, und Sie dürfen mir glauben, daß ich keinen Finger gerührt hätte, um irgendetwas zu diesem Hype beizutragen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
»Dieser ekelhafte, selbstgefällige, fenchelteeschlabbernde Hurenbock mit seinem Kotzbrockenbart!« schrie Kommissarin Fischer, als sie neben Kommissar Gerold wieder im Wagen saß. »Wieso haben wir den nicht gleich in Beugehaft genommen? Wenn ich den mal als Falschparker erwischen sollte, dann gnade ihm Gott!«
Kommissar Gerold unterbrach sie nicht. Er aß ein Snickers, schaute aus dem Fenster und wartete das Ende des Wutausbruchs ab.
Doch sie war noch lange nicht fertig. »Glaubt dieser Pestfetzen im Ernst, daß er was Besseres ist als Armin Breddeloh? Und daß er mit seinem Heidegrabschändermüll den Literaturnobelpreis abgreifen kann? Und was sollte das anzügliche Geläster über Ihre Gehaltsstufe? Darauf ist er wohl auch noch stolz, dieser miese, eingebildete, vernagelte und arrogante Schmierlappen, der sich heute abend wahrscheinlich wieder in Soltau gesundstößt! He leeft as ’n Graf un geiht in Samt un Siede, aver fründelk is he as ’n Arm vull Slangen!«
»Stammen Sie aus Ostfriesland?«
»Jau!«
»Eigentlich schade, daß Sie Herrn König das alles nicht ins Gesicht gesagt haben.«
»Dat haar ick man daun sullt …«
»Fertig?«
»Weet ick noch neet.«
»Statt zu schimpfen, sollten Sie lieber ein stilles Gebet sprechen und den lieben Gott darum bitten, daß Königs Alibi wasserdicht ist. Oder würden Sie ihn gern ein zweites Mal verhören?«
»Das nicht. Aber Handschellen würde ich ihm schon gern anlegen …«