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ОглавлениеIn der Gärtnerei Döring Algenkalk zur Bekämpfung der leidigen Buchsbaumzünsler kaufen und im Bad Belziger Baumarkt Justierklötze und Massivholzdielen, den Elektroschrott entsorgen, die alten Gardinenleisten und die Kinderschubkarre bei Ebay einstellen, Oma Neschholz zum Geburtstag gratulieren, Vanessa zum Geigenunterricht fahren, Leon vom Fußball abholen, den Rasen mähen, die Betten demontieren, die Unterlagen für die Umsatzsteuererklärung zusammensuchen und die Sache mit Bärbel klären: Kurz vor seinem Umzug von dem brandenburgischen Kuhdorf Gömnigk nach Berlin-Mitte hatte Benno Druschke sich mit einer langen To-do-Liste herumgeplagt, aber damit war Schluß, seit er gefesselt im Kofferraum seines Kia Picanto lag und alle Zeit der Welt hatte, über sein Leben nachzudenken. Und über seinen Tod.
Nie wieder, dachte Druschke, würde er beim Einladen von Massivholzdielen Hilfe annehmen! Von dem Fremden hatte er eins auf die Zwölf bekommen, das wußte er noch. Und jetzt ging’s volle Fahrt voraus.
Aber wohin?
Druschke wußte leider nur zu gut, daß es sich nicht gelohnt hätte, ihn und seine Familie zu erpressen. Mit seinen Romanen »Die toten Augen von Bad Belzig«, »Endspiel in Neschholz« und »Reimt Crime sich auf Burg Rabenstein?« hatte er Achtungserfolge erzielt, aber viel Geld war bei ihm nicht zu holen.
Wenn es der Serienmörder war, der ihn entführt hatte, stand Druschke ein böses Ende bevor. Er zählte nach, wie viele Menschen in seinen Romanen über die Klinge gesprungen waren. Und er erschauderte, als er an die Methoden dachte, die er selbst beschrieben hatte. In »Die toten Augen von Bad Belzig« wurde ein Polizeispitzel von einem chinesischen Mädchenhändler zerhackt und gegrillt, in »Endspiel in Neschholz« erwürgte ein rumänischer Psychopath eine Nonne im Kloster Lehnin mit einer Garotte, und in »Reimt Crime sich auf Burg Rabenstein?« hauchte ein verdeckter Ermittler sein Leben aus, als der obere Teil des Stamms einer tief im Wald zwischen Gömnigk und Neschholz gefällten Eiche punktgenau auf seinen Schädel krachte.
Der Wagen bog ab. Auf einen Waldweg, wie es schien, denn es wurde holprig. So wie in Druschkes jüngstem Roman, in dem es hieß:
Der Wagen bog ab. Auf einen Waldweg, wie es schien, denn es wurde holprig.
Ein Steinkauz flog auf, als das fahle Scheinwerferlicht auf eine angesägte Eiche fiel. Der Wagen hielt. Der Fahrer, der einen schwarzen Kapuzenpullover trug, schaltete den Motor aus, zog die Handbremse an, stieg aus, ging um das Auto herum und öffnete die Kofferraumklappe.
Dort lag der Ermittler Johannes Krause. Ein Häufchen Elend, das sich eingenäßt hatte.
»Lassen Sie mich laufen, wenn ich Ihnen verrate, wer das Komplott gegen Ihre Connection mit den Russen geschmiedet hat?« fragte Krause.
»Negativ«, sagte der Kapuzenmann. Er beugte sich über den Kofferraum, hob Krause heraus, warf ihn sich über die Schulter wie einen Winterschal und trug ihn fort.
»Sie müssen das nicht tun«, krächzte Krause und spuckte einen seiner lockergeschlagenen Zähne aus. C13. Der hatte ihm schon öfters Ärger bereitet. Weg damit. Nicht schade drum! »Ich weiß, daß Sie im Kern ein guter Mensch sind«, fügte Krause hinzu, während ihm das Blut aus dem Mund tropfte. »Aber ich will jetzt gar nicht von Ihrem Seelenheil reden. Ich will vielmehr darauf hinaus, daß wir Ihnen einen Deal anbieten können: Sie geben uns die Namen der Attentäter, die das Bordell von Lackschuh-Werner in die Luft gejagt haben, und wir garantieren Ihnen, daß Ihrer Braut nichts geschieht. Und daß Sie nach drei oder vier Jährchen wieder auf freiem Fuß sind!«
Der Kapuzenmann legte Krause nieder und bettete den Kopf seines Opfers auf einen Baumstumpf.
»Sie machen einen großen Fehler!« rief Krause. »Der Staatsanwalt weiß sowieso schon Bescheid über Ihre Nebengeschäfte!«
Das ließ den Kapuzenmann kalt. Er hob eine Betonplatte an, packte sie Krause auf den Bauch und sagte: »Eine kleine Ruhepille. Damit du nicht so herumzappelst, wenn die Party beginnt!«
Krauses Augen traten weit hervor, als er zum allerletzten Mal in seinem Leben all das Schöne hörte, sah und roch, was ein Wald zu bieten hat: Blätterflirren, Kuckucksrufe, Baumharz, Rascheln, Mückensirren und das eintönige Klopfen eines Spechts.
Dann heulte eine Motorsäge auf, und Krause hob den Kopf.
Den Stamm der Eiche sah er wie in Zeitlupe herabstürzen. In den letzten Sekunden seines Lebens fragte er sich unnötigerweise, wie er als Toter die neue Heizölrechnung bezahlen könnte, und dann war es um ihn geschehen, denn der Eichenstamm schlug seinen Kopf zu Brei.
Der Wagen hielt. Benno Druschke hörte, wie der Fahrer den Motor ausschaltete, die Handbremse anzog, ausstieg, um das Auto herumging und den Kofferraum öffnete.
Ein Taschenlampenlichtstrahl blendete Druschke. Von dem Mann, der die Taschenlampe in der Hand hielt, war nur der Umriß seiner Kapuze auszumachen.
»Lassen Sie mich laufen, wenn ich Ihnen verrate, wer das Komplott gegen Ihre Connection mit den Russen geschmiedet hat?« fragte Druschke auf gut Glück, obgleich ihm nichts über eine solche Connection bekannt war.
»Negativ«, sagte der Kapuzenmann. Er beugte sich über den Kofferraum, hob Druschke heraus, warf ihn sich über die Schulter wie einen Winterschal und trug ihn fort.
»Sie müssen das nicht tun!« rief Druschke. »Sind Sie nicht irgendwo im Kern ein guter Mensch? Denken Sie an Ihr Seelenheil! Oder an den Staatsanwalt!«
Der Kapuzenmann bettete Krause auf den Waldboden. »Und das Köpfchen fein hier auf dem Baumstumpf liegenlassen, ja? Ach, und weil’s mir gerade einfällt: Algenkalk ist kein gutes Mittel gegen Buchsbaumzünsler. Glauben Sie mir – der Kalk lagert sich zwar auf dem Blattwerk ab, so daß die Zünsler sich nicht mehr darüber hermachen können, aber er verhindert die Chlorophyllbildung, und dadurch sterben die Buchsbäume ab. Können Sie sich das merken? Für Ihr nächstes Leben?«
Druschkes Gedanken rasten. Hatte dieser Mensch noch alle Speichen auf dem Rad? Weshalb brachte er jetzt das Thema Algenkalk auf?
Der Versuch, davonzurobben, mißglückte Druschke. Der Kapuzenmann holte ihn zurück, nahm die einen Meter im Quadrat messende Betonplatte auf, die gleich neben dem Baumstumpf bereitgelegen hatte, und ließ sie auf Druschkes Bauch fallen.
»Uff«, sagte Druschke.
Der Kapuzenmann sah ihn fragend an. »Kennen Sie den Song ›Carry That Weight‹ von den Beatles?«
»Was?« japste Druschke. »Nein … wieso?«
»Da singen sie: ›Boy, you’re gonna carry that weight, carry that weight a long time.‹ In Ihrem Fall trifft das aber nicht zu. Ich werde Ihre Leiden abkürzen. Boy, you’re gonna carry that weight a very short time …«
Es war Druschke unmöglich, sich mit der schweren Platte auf dem Bauch von der Stelle zu bewegen. Er mußte hilflos mitansehen, wie der Kapuzenmann zu einer Eiche ging, die in zwanzig Metern Entfernung aufragte, und eine Motorsäge aufjaulen ließ.
Vielleicht hat er sich ja verrechnet, und der Stamm fällt nach hinten oder nach links oder nach rechts, dachte Druschke, doch diese Hoffnung ließ er fahren, als er sah, wie die Eiche sich neigte.
Falls in diesen Sekunden vor seinem inneren Auge sein ganzes Leben ablief wie ein Film, war Druschke der einzige Zuschauer. Hätte es andere gegeben, wären sie wahrscheinlich spätestens nach der Szene ausgestiegen, in der er sich dazu bereiterklärte, als »IM Eintänzer« die Schauspielerin Inge Meysel zu stalken. Nein, er hatte kein schönes Leben gehabt. Weder vor noch nach dem Fall der Mauer. Obwohl der Krimi »Reimt Crime sich auf Burg Rabenstein?« ganz gut besprochen worden war. Zumindest in der Ostpresse. »Ein Krimi der Extraklasse«, hatte die Thüringer Allgemeine geschrieben, und im Döbelner Anzeiger war Druschke sogar als »brandenburgischer Erbe von Sir Arthur Conan Doyle« gewürdigt worden.
Der Eichenstamm kam näher. Wie viele Meter mochten es noch sein, die ihn von Druschkes Stirnbein trennten? Zehn? Fünfzehn?
Eigenartig, dachte Druschke, daß das so lange dauert, aber dann ging es plötzlich ganz schnell, und aus seiner vom Eichenstamm zerschmetterten Schädelkalotte flog fast alles heraus, was sich vorher darin befunden hatte.
Viel war es nicht.
»Okay«, sagte Bennatz Neuß. »Sie setzen mich auf der Festung Ehrenbreitstein aus, der Täter hetzt mir einen Rottweiler auf den Hals, und dann verhaften Sie sowohl den Täter als auch den Rottweiler. Hab ich das soweit richtig verstanden?«
Gerold und die Fischerin wechselten einen kurzen Blick. Sie hatten schon gemerkt, daß Neuß kein Dummkopf war, obwohl seine Wohnzimmereinrichtung auf jemanden schließen ließ, der den Verstand verloren hatte: eine mit Ornamenten verzierte Schrankwand aus dem Paläozoikum, Brokatvorhänge mit Schmetterlingsmuster, Gardinentroddeln mit golddurchwirkten Quasten, ein Hirschgeweih, ein Dutzend Zinnteller, Kunstdrucke von Marc Chagalls banalsten Geigerbildern, ein Porzellanpudel in Lebensgröße, ein häßlicher Perserteppich, ein Leuchtkörper in der Form eines Einhorns und drei Lavalampen, in denen bunter Glubber blubberte …
Auf die Scharfschützen könne man sich hundertprozentig verlassen, sagte Gerold. »Wenn da wirklich ein Rottweiler angetanzt kommt, ist er nach zwei Sekunden tot. Wir werden mit einem Team von mehr als zwanzig Mann zugegen sein. Alles handverlesene Profis. Bei diesem Einsatz sind Sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Und außerdem viel sicherer als jetzt. Vielleicht späht der Täter Sie ja bereits aus. Die ganze Sache dient nur Ihrem Schutz!«
Neuß benagte seine Oberlippe und knetete sein linkes Ohrläppchen mit Zeigefinger und Daumen. Dann verschränkte er die Arme und bekaute auch seine Unterlippe, bis ihm ein Einwand einfiel: »Ich will ja kein Frosch sein, aber wieso fragen Sie eigentlich mich und nicht Waldemar König? Der ist jetzt so oft im Fernsehen zu sehen, daß er dem Mörder wie eine lebende Zielscheibe vorkommen muß!«
Er will kein Frosch sein, aber aussehen tut er wie ein Breitmaulfrosch, dachte Ute.
»Herr König ist bei weitem nicht so berühmt wie Sie, Herr Neuß«, sagte Gerold. »Unter den Autoren, die Regionalkrimis schreiben, sind Sie die Nummer eins! Das sieht man doch schon an den Auflagenzahlen …«
Auch Ute legte sich ins Zeug: »Wenn sich herumspricht, daß wir den Täter mit Ihrer Hilfe gefaßt haben, werden sich diese Zahlen bestimmt noch verhundertfachen. Man wird Sie als Helden feiern. Und Sie gehen nicht das geringste Risiko ein. Sie werden eine kugelsichere Weste tragen sowie Armschutz, Beinschutz und einen Unterleibsschutz aus bruchsicherem Hartplastik.«
Neuß rang mit sich. Für Ruhm und Reichtum war er empfänglich, aber der Gedanke an den Rottweiler machte ihn nervös.
»Kennen Sie den Western, in dem Gary Cooper ganz allein einer Verbrecherbande entgegentritt?« fragte Gerold. »Weil alle anderen Männer in der Stadt zu feige dafür sind? Ich habe Ihren Roman gelesen, Herr Neuß, und wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Gary Cooper. Oder sollte ich mich irren?«
Zu Utes Erstaunen verwandelte sich der Breitmaulfrosch Neuß bei diesen Worten zwar nicht gerade in einen Prinzen, aber doch in einen Mann, auf den man zählen konnte, denn er holte tief Luft und sagte: »Also gut. Aber ich verlange drei Dinge: eine Ultraschallpfeife, Pfefferspray und eine Schreckschußpistole.«
Alle waren auf dem Posten. Kommissar Gerold saß in Zivil an einem Biertisch oben auf der Festung Ehrenbreitstein, gegenüber von Kommissarin Fischer, und stand in Funkverbindung mit dem Sondereinsatzkommando, das von Oberkommissar Ludger Stoltze aus Koblenz geleitet wurde. Im Verborgenen richteten sich fünf Gewehrläufe auf den Parkplatz an der nahegelegenen Greiffenklaustraße und fünf weitere auf das Areal, auf dem Bennatz Neuß seine Runden drehte.
»Was macht Neuß?« fragte Stoltze, der den Parkplatz überwachte.
»Geistert zur Brüstung und sieht sich das schöne Rheintal an«, sagte Gerold.
Durch sein Fernglas nahm Neuß das Reiterdenkmal am Deutschen Eck in Augenschein. Kaiser Wilhelm hoch zu Pferde. Eine in Bronze gegossene Sahnetorte für die Nostalgiker, die der deutsch-französischen Erbfeindschaft nachtrauerten.
»Siehst du den Fettsack da hinten?« fragte die Fischerin. »Den mit der blauen Windjacke? Der ist mir vorhin schon aufgefallen. Scheint Neuß hinterherzuschleichen.«
Gerold funkte es weiter: »Verdächtige Person am Felsenweg. Blaue Windjacke. Korpulent.«
»Darf’s bei Ihnen noch was sein?« fragte die Kellnerin.
»Ja, zwei Cappuccinos«, sagte Gerold.
»Nein, zwei Cappuccini«, sagte Ute.
»Heb dir den Sprachunterricht für ein andermal auf«, sagte Gerold und behielt den Windjackenmann im Auge, der seinerseits den Blick genau auf Bennatz Neuß gerichtet hielt.
Gerold an alle: »Könnte sein, daß wir ihn haben.«
Stoltze an Gerold: »Freuen Sie sich nicht zu früh. Wir halten hier die Stellung.«
Als Neuß auf dem Plateau zum Eingang des Koblenzer Landesmuseums stakste, heftete sich ihm der Windjackenmann an die Fersen. Gut zehn Meter trennten die beiden Männer. Neuß bemerkte es nicht. Er blinzelte, weil ihm Schweißperlen in die Augen liefen, und seine Pulsfrequenz hätte jeden Kardiologen aufhorchen lassen. »Schauen Sie nicht hinter sich«, hatte Kommissar Gerold gesagt. »Starren Sie niemanden an. Schlendern Sie herum und denken Sie an irgendwas Schönes. Essen Sie ein Eis, wenn Ihnen danach ist. Bleiben Sie ganz entspannt!«
Ganz entspannt! Während man auf den Angriff eines beißwütigen Rottweilers gefaßt sein mußte! Dieser Kommissar hatte gut reden …
Und was war, wenn der Mörder irgendeine andere Teufelei ausgeheckt hatte? Eine, mit der die Polizei nicht rechnete? Vielleicht schickte er ja eine Killerdrohne los. Oder er ließ einen Schwarm Fledermäuse frei, die Ebolaviren übertrugen. Wozu er fähig war, hatte man schließlich gesehen.
Vor dem Landesmuseum schwenkte Neuß nach rechts ab und blickte bedrückt in den Himmel. Ein wolkenloser Sommertag. Wie geschaffen für einen Flirt mit dem Tod. Der aus jeder beliebigen Richtung kommen mochte. Zum Beispiel von dort vorn, wo irgendein Heiopei mit fünf Bällen jonglierte. Konnte nicht einer davon eine Handgranate sein? Hatten die Polizisten das einkalkuliert? Und lag tatsächlich ein Säugling in dem Kinderwagen, den der kurzbehoste und scheinbar so friedfertige Daddy da vor sich herschob? Und nicht doch ein Bündel Dynamitstangen?
Neuß zürnte jedem einzelnen Menschen, der hier seine Freizeit verbrachte. Er wünschte sich weit weg und dachte voller Unbehagen an die Absätze, die er in seinem Roman dem Tod des serbischen Kleinkriminellen Darian Kovač gewidmet hatte:
Purpurgoldener Sonnenschein glitzerte auf der Mosel und dem treuen Vater Rhein und ließ die altehrwürdige Festung Ehrenbreitstein in ihrer ganzen Pracht erglänzen, als Kovač aus der Seilbahnkabine stieg, um den Kurier vom Juárez-Kartell zu treffen. Als Erkennungszeichen hielt Kovač einen Wimpel des Koblenzer Karnevalsvereins Funken »Rot-Weiß« 1936 e.V. in der Linken. Wenn diese Sache klappte, würde für Kovač ein neues Leben beginnen. Mit den Daten auf dem USB-Stick in seinem Darm konnte er den Mexikanern den kompletten Škaljari-Clan auf dem Silbertablett servieren, und zum Dank würden sie einen reichen Mann aus ihm machen. Gürtelschnallen von Hermès, eine Armbanduhr von Patek Philippe, der Panamera Turbo Executive von Porsche und ein endloser Reigen von Edelnutten rückten damit in greifbare Nähe. Und das für ihn, einen Bauernsohn aus der Provinz Vojvodina, der mit einer Hasenscharte und einer Schilddrüsenunterfunktion auf die Welt gekommen war! Als dreizehntes von vierzehn Kindern!
Während Kovač auf den Kurier wartete und von der Zukunft träumte, öffneten sich hinter der Festung auf dem Parkplatz an der Greiffenklaustraße die Hecktüren eines Lieferwagens, und ein strammer, reinrassiger, fünfzig Kilo schwerer Rottweiler mit kerngesunden Zähnen sprang heraus und nahm Kurs auf sein Ziel. Wie ein tödlicher Pfeil flog er dahin. Ein Pfeil aus Fleisch und Blut, der nur eines wollte: die Mission erfüllen. Seine Nase sagte ihm genau, wohin es ging – über die Wiese, an der Falknerei vorbei und direkt auf den jungen Mann zu, der so penetrant nach Rasierwasser roch.
Kovač sah den Hund nicht kommen und war gänzlich überrumpelt. Die Bisse in den linken Oberschenkel, den linken Arm und die Hüfte hätten sich zur Not noch verarzten lassen, aber als Kovač umfiel, biß der Rottweiler ihm die Gurgel durch und machte dann auch kurzen Prozeß mit dem Gesicht und anderen Teilen des Weichteilgewebes.
Die Hinterbliebenen entschieden sich für eine Feuerbestattung.
Hätt’ ich das doch nie geschrieben! dachte Neuß. Der Unterleibsschutz, den man ihm zur Verfügung gestellt hatte, bestand aus Bayflex, einem angeblich kampfhundebißfesten und stark schockabsorbierenden Material, aber allein schon die Vorstellung, daß seine Genitalien in die Nähe der Reißzähne eines Rottweilers kommen könnten, bereitete Neuß erhebliche Kreislaufprobleme.
»Der schwitzt ja wie ein Truthahn in der Ofenröhre«, sagte Gerold. »Und hatten wir ihm nicht eingetrichtert, daß er schlendern soll? Das ist doch kein Schlendern, was er da macht! Der stelzt durch die Gegend, als ob er erst gestern laufen gelernt hätte!«
Ute fiel auf, daß sich der Abstand zwischen Neuß und dem Windjackenmann verringerte. »Und jetzt grabbelt dieser Typ in seiner rechten Hosentasche rum …«
»Due cappucini«, flötete die Kellnerin und stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch. Im selben Moment zog der Windjackenmann irgendein längliches schwarzes Teil aus seiner Hosentasche.
»Zugriff!« rief Gerold.
Ein Pärchen, das eben noch selbstvergessen geturtelt hatte, stürzte sich auf den Windjackenmann und stieß ihn nieder.
»Game over«, sagte Neuß bei der Nachbesprechung im Koblenzer Polizeipräsidium. »Ich bin raus. Diesen Nervenkitzel kann ich kein zweites Mal aushalten. Ich haue ab aus Rheinland-Pfalz. Mich werden Sie so bald nicht wiedersehen!«
»Wir respektieren das«, erklärte Kommissar Stoltze. Mit seinen grauen Schläfen, seinem gramgebeugten Haupt und seiner zerfurchten Stirn hätte er auch als Fernsehkommissar Furore machen können. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Mitwirkung, Herr Neuß. Sie können gehen.«
Als Bennatz Neuß den Raum verlassen hatte, nahm Stoltze aus seinem Schreibtisch eine Flasche Rémy Martin und drei Gläser heraus, schenkte ein und sagte: »Auf den Schrecken, den wir überstanden haben! Prost!«
»Prost.«
»Prost.«
Bei dem Windjackenmann handelte es sich um den Frankfurter Schnüffler Fred Jockel, der auf die gleiche Idee gekommen war wie die SoKo Heidefieber: Er hatte Neuß für den nächsten Kandidaten auf der Todesliste gehalten und ihn deshalb beschattet. Aus der Hosentasche hatte Jockel nur sein Smartphone herausgezogen.
»Und wer hat diesen Eierkopf beauftragt?« fragte Ute Fischer.
»Der Verein der deutschsprachigen Kriminalromanautoren«, sagte Stoltze.
Gerolds Handy dudelte. »Verzeihung, aber da muß ich rangehen«, sagte er und kehrte zwei Minuten später mit drei Sondermeldungen zurück: »In einem Wald im Fläming haben Spaziergänger die verstümmelte Leiche eines Kriminalromanautors aus Brandenburg gefunden, und Erwin Zapp ist vom Dienst suspendiert und verhaftet worden. Die Kokswimper, die er in der Buddelflasche entdeckt hat, gehört ihm selbst! Die ist dem Esel da reingepurzelt, als er die Flasche untersucht hat. Und wir sollen jetzt nach Jever fahren und nach weiteren Spuren im Mordfall Schepker Ausschau halten. Riesenbusch meint, daß die Kollegen da oben nicht unbedingt die schärfsten Zutaten in der Suppe sind …«
»Dann grüßen Sie mir mein Jeverland«, sagte Stoltze. »Ich stamme aus Rüstersiel!«
Im Kiosk an der Autobahnraststätte Siegburg-Ost kaufte Gerold die Bild-Zeitung.
»Was soll ich mit dem Dreck?« fragte die Fischerin, als er sich wieder ans Steuer gesetzt und ihr die Zeitung hingeworfen hatte.
»Da steht was über unseren Freund Frank Schulz drin«, sagte er.
Die Schlagzeilen lauteten:
Skandal-Auftritt im TV
Randale-Literat Frank Schulz verhöhnt Mordopfer
»Die schreiben, daß Schulz die Kritik an seinen Worten als ›albern‹ und ›lächerlich‹ zurückgewiesen habe. Und hier ist ein Foto von der ›luxuriösen Suite‹, die ihm das BKA gebucht haben soll. Die sieht aber eher dürftig aus.«
»Und weiter?«
»Der Weiße Ring hat die Geldspende von Schulz abgelehnt. Aus Pietät gegenüber den Mordopfern. Und dann steht hier noch ein offener Brief, den der Kolumnist Franz Josef Wagner an Schulz geschrieben hat, aber dieses Geschmadder lies dir bitte selbst durch. Ich bring das nicht über die Lippen.«
Die Lektüre der Bild-Rubrik »Post von Wagner« holte Gerold abends im jeverschen Friesenhotel nach:
Lieber Frank Schulz,
in Ihrem Wikipedia-Eintrag steht, daß Sie neun Literaturpreise erhalten haben. Sie sind ein Mann des Wortes. Aber haben Sie auch ein Herz? Sie spucken Gift und Galle. Erst heimlich bei der Polizei und jetzt auch noch im Fernsehen. Sie verunglimpfen Tote, die sich nicht mehr wehren können. Wann haben Sie zuletzt gebetet? Ihre Seele ist ein Armenhaus. Ich bete für Sie.
Herzlichst
Ihr F.J. Wagner
»Was für ein Schleimsieder«, sagte Gerold und legte die Zeitung neben sich auf den Nachttisch.
Ute kam aus dem Bad. Das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein blaues, um den nassen Schopf geschlungenes Handtuch.
»Laß mich raten«, sagte Gerold. »Mit diesem Statement möchtest du mir mitteilen, daß du deinen Hunger noch ein Weilchen bezähmen kannst. Hab ich recht?«
Zwei Tage bevor sein Schädel sich im Buddelschiffmuseum Neuharlingersiel angefunden hatte, war Hobbe Hubertus Schepker zum letzten Mal lebend gesehen worden, und zwar in dem griechischen Restaurant Irodion an der Bahnhofstraße in Jever. Er hatte in der Gesellschaft einer unbekannten Dame einen Bauernsalat und Schweinefiletspitzen mit Pommes frites verspeist und zwei Jever Pilsener getrunken.
Für dieses Restaurant entschieden sich auch Ute und Gerold. Sie wollten dort der Frage nach der Identität von Schepkers Begleiterin nachgehen, was bislang niemand ernsthaft getan hatte.
»Idyllisch hier«, sagte Gerold, als er auf dem Hinweg den jeverschen Schloßturm erblickte. »Nettes Örtchen! Braucht sich hinter Uelzen nicht zu verstecken!«
»Nett« sei nicht so ganz das richtige Wort, sagte Ute. »Die Nazis hatten hier schon bei den letzten Wahlen vor der Machtergreifung die absolute Mehrheit, und im sechzehnten Jahrhundert war die Stadt ein Zankapfel zwischen den ostfriesischen Häuptlingen und der Regentin Maria von Jever. Da ist in einer Tour Blut geflossen …«
»Woher weißt du das?« fragte Gerold.
»Ich hab halt meine Hausaufgaben gemacht. Du nicht?«
Für dieses Tackling werde ich mich noch rächen, dachte er, aber dann irrten seine Gedanken voraus zu der Speisekarte, die er gleich aufschlagen durfte. Und er wurde nicht enttäuscht: Ein Rumpsteak mit gerösteten Zwiebeln und Kräuterbutter nebst einer Folienkartoffel mit Zaziki war genau das, was er brauchte. Ute wählte eine gegrillte Seezunge mit Gemüse und Kartoffelgratin, und sie orderten eine Flasche Weißwein. Alpha Estate. War das Leben nicht schön?
Nachdem der Wirt die Bestellung aufgenommen hatte, fragten sie ihn nach Schepkers mysteriöser Tischdame.
Er könne sich nur verschwommen an sie erinnern, sagte er. »Sie war groß und blond und hat Knoblauchbrot mit Tomatenwürfeln gegessen. Und eine Johannisbeerschorle und einen Ramazotti getrunken. Aber sonst? Ich hab den Polizisten hier schon alles dazu gesagt. Ach ja, und zum Nachtisch hat sie Galaktoboureko gehabt. Grießpudding in Blätterteig mit Honigsoße und Vanilleeis. Sehr zu empfehlen!«
»Dißßß war die Lola«, lallte ein zottelbärtiger Mann, der vor einem Calvados am Tresen saß. Ein ergrauter Mopedrocker. »Tschulljung, daß ’ch mich einmische, aber ’ch kann … ’ch mein, ’ch kann Ihn’n sogar die Teleflonnummer … die Fletelolnummer von der Tussi gehm. Dassenscottgöllswümmensawen …«
Den letzten Satz konnten Gerold und die Fischerin erst nach mehreren Minuten entschlüsseln: »Das ist ein Escort-Girl aus Wilhelmshaven.«
»Wie können wir diese Frau erreichen?« fragte Gerold.
Aus den Untiefen seiner Lederweste grub der Rocker eine Visitenkarte aus.
Lust auf fremde Haut?
Ruf mich an! Lola, 23.
Bin für alles Geile offen.
Darunter stand eine Mobiltelefonnummer.
»Glück muß man haben«, sagte Ute. »Und hier kommt unser Wein. Laß uns auf die Festnahme von Erwin Zapp anstoßen. Den sind wir los. Ende good, all’s good!«