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Der Zellersee in der baden-württembergischen Gemeinde Kißlegg im Landkreis Ravensburg war an und für sich eine gute Wahl als Kulisse für seine Kriminalromane gewesen, denn auf den Zellersee und dessen Umgebung war zuvor noch niemand verfallen, und es hatten sich viele Titel angeboten: »Zellerseemord«, »Zellerseeblut«, »Zellerseegift« und »Zellerseetod«. Drei davon hatte Justus Weindl bereits verbraucht, als er nach einem Ohnmachtsanfall mit gefesselten Händen und Beinen wieder zu Bewußtsein kam und sich in Erinnerung rief, was vorgefallen war: Er hatte einem Paketboten die Tür geöffnet und war k.o. geschlagen worden. Und nun lag er hier in seinem Jacuzzi. Nackt, gefesselt und mit schweren Fußkugeln zur Unbeweglichkeit verurteilt.

»Wollet Sie mai Geld?« fragte er den Einbrecher, der aus dem Nebenraum auf einer Sackkarre ein großes graues Objekt hereinschob. Was war das? Ein Bierfaß?

»I hon vill Geld gbunkerd!« rief Weindl. »Damit könndet Sie sich einen schöna Lebensabend uf Ibiza macha! Wäre des ned schee?«

Der Einbrecher hatte es jedoch weder auf Geld noch auf Wertgegenstände abgesehen. Er stellte das Faß ab und rollte die Sackkarre wieder hinaus.

Bei der jähen Erkenntnis, mit wem er es hier zu schaffen hatte, hielt Weindl den Atem an, und seine Hoden zogen sich in Richtung Beckenraum zurück. Natürlich! Er hatte die Nachrichten verfolgt. Er wußte, daß ein Mörder umging, der die Verfasser von Regionalkrimis umbrachte. Nach den Methoden, die sie selbst in ihren Krimis beschrieben hatten. Und in seinem Roman »Zellerseeblut« hatte Weindl detailliert geschildert, wie der gefesselte und mit zwei jeweils fünfzig Kilogramm schweren Fußkugeln versehene Musikproduzent Ludwig Steinmaier in einem Jacuzzi in seinem Eigenheim in der Sebastian-Kneipp-Straße am Zellersee zu Tode gekommen war.

Jede Zeile dieser Szene stand Weindl wieder vor Augen:

»Ich serviere dir zwei Gänge«, sagte der Unbekannte und kippte das erste Plastikfaß aus. Fünfzehn Löwenmähnenquallen schwappten in das Wasser. Sie gehörten zum Stamm der Nesseltiere und gesellten sich sofort zu dem rosaroten Menschenleib, der ihnen keinen Widerstand leisten konnte. Mit ihren Tentakeln riefen sie eine starke allergische Reaktion hervor. An Steinmaiers Haut auf den Beinen und am Gesäß bildeten sich rötliche Quaddeln.

»Holen Sie mich hier raus!« schrie er. »Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen!«

»Zu spät«, knurrte der Unbekannte und kippte das andere Faß aus. »Hier kommt der nächste Gang, mein Herr …«

Eine zwei Meter lange Streifenruderschlange, deren Biß tödlich war, glitt aus dem Wasserschwall und steuerte Steinmaiers haarige linke Wade an. Der Homo sapiens fiel zwar nicht in ihr Beuteschema, aber wie hieß es so schön? In der Not frißt der Teufel Fliegen …

Und diese Schlange war wirklich außergewöhnlich hungrig. Dafür hatte ihr Eigentümer umsichtig gesorgt. Falls »Eigentümer« der richtige Ausdruck war, denn er hatte sie illegal erworben, in Doha am Persischen Golf, und sie nach Deutschland geschmuggelt, um ein bißchen Spaß mit ihr zu erleben.

Nun war es soweit. Steinmaier brüllte und bäumte sich auf, das Wasser schäumte, und dann umhüllte eine Blutwolke die Beine und den Unterleib des Opfers. Sie erinnerte den Unbekannten an das zerfließende Abendrot in einem Gemälde von William Turner, das er in der National Gallery in London gesehen hatte. Guter Maler. Schade nur, daß Turner die Nachahmung seiner Farbgebung in Steinmaiers Jacuzzi nicht bestaunen konnte.

Aber wie, fragte sich Weindl, soll dieser Wahnsinnige, der mich überfallen hat, an eine Streifenruderschlange gekommen sein? Oder an fünfzehn Löwenmähnenquallen? Das hier war das reale Leben und nicht irgendeine Räuberpistole, in der sich die Gesetze der Wahrscheinlichkeit nach Belieben außer Kraft setzen ließen …

»Falls Sie sich gerade an ein bestimmtes Romankapitel erinnert fühlen sollten«, sagte der Einbrecher, während er das zweite Faß hereinrollte, »dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Intuition. Sie haben richtig geraten. Ich habe weder Kosten noch Mühen gescheut, um für unser Treffen alles so zu arrangieren, wie es Ihren Vorstellungen entspricht. Oder sollte ich sagen: für unser kleines Picknick?«

In der Hoffnung, aus dieser Nummer doch noch herauszukommen, prägte Weindl sich das Äußere des Einbrechers gut ein: Mitte fünfzig, glattes schwarzes Haar, kurzgeschnitten, Blumenkohlohren, hellbraune Augen, hohe Stirn, breite Wangenknochen, breite Nase, Kinngrübchen, muskulös, Größe ungefähr eins achtzig, schwarze Lederjacke, rotes Oberhemd, blaue Leinenhose … und an den Füßen keine Schuhe, sondern … ja, was? Gefrierbeutel? Jedenfalls irgendwas aus Plastik. Solche Treter, wie Mark Wahlberg sie im Finish des Thrillers »The Departed« getragen hatte, um beim Mord an Matt Damon keine Spuren zu hinterlassen.

»Dann wollen wir mal«, sagte der Einbrecher und löste den Deckel vom ersten Faß. »Hier kommt das Vorgericht. Ach nein, verzeihen Sie, ich wollte sagen: Hier kommen ein paar Dinnergäste. Denn das Vorgericht sind Sie ja selbst.«

»Wardet Sie!« rief Weindl. »Könna mir darübr ned no mol schwätza? I könnda Ihna Milliona geba, verschdehet Sie? Milliona!«

»Geld ist nicht alles«, sagte der Einbrecher und schüttete das Faß aus, in dem sich, wie versprochen, fünfzehn Löwenmähnenquallen befanden. An Süßwasser waren sie nicht gewöhnt, doch es gab da ja jemanden, an dem sie ihren Ärger auslassen konnten.

Weindl wand sich und schrie: »Des könnet Se mir ned andun! Womid soll i des verdiend han? Saget Sie mir des!«

»Der Kavalier genießt und schweigt«, sagte der Einbrecher und öffnete das zweite Faß. »Gestatten: Mister Hydrophis cyanocinctus. Es freut mich, Sie mit Herrn Justus Weindl bekanntmachen zu dürfen, der seinen Lesern schon viel von Ihnen erzählt hat. Er ist ganz versessen darauf, Sie näher kennenzulernen …«

»Dun Se des ned!« schrie Weindl, doch der Einbrecher hatte das Faß bereits angekippt, und die ausgehungerte Streifenruderschlange, die herausschnellte, hielt sich nicht mit Formalitäten auf. In der freien Wildbahn hätte sie als Leckermäulchen einen großen Bogen um jemanden wie Justus Weindl gemacht, aber unter diesen Umständen nahm sie jedes Nahrungsangebot an.

Die letzte klar artikulierte Äußerung, die er von sich gab, lautete: »Des werd i Ihna heimzahla!«

Worauf der Einbrecher erwiderte: »Von mir aus gern. Aber womit? Das letzte Hemd hat keine Taschen, Herr Weindl.«

Waldemar König bollerte mit der Faust auf den Tisch. »Wenn das so ist, will ich Ihren Vorgesetzten sprechen!«

»Wie Sie wünschen«, sagte Kommissar Gerold bedächtig. »Der wird Ihnen aber auch keine andere Auskunft erteilen können.«

»Und warum nicht? Ich schwebe in Lebensgefahr!«

»Herr König, haben Sie sich mal angesehen, was bei Wikipedia unter dem Stichwort Regionalkrimi steht? Da werden allein für Deutschland mehr als einhundert Autoren verzeichnet! Wenn wir alle diese Schreiberlinge unter Polizeischutz stellen wollten, könnten wir keinen einzigen Fall mehr bearbeiten.«

»Sparen Sie sich Ihre Schmähungen«, versetzte König. »Ich verlange nur für mich persönlich Polizeischutz! Weil ich besonders stark gefährdet bin. Diese Mordserie hat in der Lüneburger Heide begonnen, und ich bin nun mal der prominenteste lebende Autor von Kriminalromanen, die hier in der Heide spielen!«

Seine Bartspiralen vibrierten, und Kommissar Gerold fragte sich, ob König wohl schon mal bei einer dieser Bartweltmeisterschaften angetreten war, von denen gelegentlich im Vorabendprogramm berichtet wurde. Mit seinem kunstreich herangezüchteten Monumentalschnäuzer, dachte Gerold, hätte dieser Mann gute Chancen auf einen Vorrundenplatz, und wenn er noch drei oder vier Spiralen mehr aus dem Bart herausquälte, wäre vielleicht sogar das Achtelfinale drin. Ob es wohl Duschhauben für solche Bärte gab? Damit sie nicht ihre Form verloren, während das Haupthaar shampooniert und abgebraust wurde?

»Hören Sie mir überhaupt zu, Herr Kommissar?«

»Entschuldigung. Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders. Wie gesagt, Sie können sich von meinem Vorgesetzten gern bestätigen lassen, daß Sie mit Ihrem Gesuch bei uns an der falschen Adresse sind. Wenn Sie sich bedroht fühlen, sollten Sie sich an eine private Wachschutzfirma wenden und Bodyguards anheuern. Für eine Celebrity wie Sie dürfte das ja kein Problem sein. Finanziell, meine ich.«

König riß die Augen weit auf und beugte sich vor. »Damit wir uns recht verstehen, Herr Kommissar«, sagte er. »Ich rede hier nicht von zwei schläfrigen Schupos, die vor meiner Haustür Wache halten sollen. Ich will in Ihr verficktes Zeugenschutzprogramm! Das ist mir der deutsche Rechtsstaat schuldig! Haben Sie irgendeine Ahnung davon, was ich in den letzten fünf Jahren an Steuern gezahlt habe?«

Den Siegeszug des Adjektivs »verfickt«, dachte Gerold, haben wir vermutlich den schlecht synchronisierten amerikanischen Spielfilmen zu verdanken, in denen alle naselang jemand »fucking« sagt. Und hier stand nun ein Irrer aus Schneverdingen und begehrte ein »verficktes Zeugenschutzprogramm« für sich, obwohl er gar nichts zu bezeugen hatte.

»Gut«, sagte Gerold. »Ich sehe es ein. Wir nehmen Sie in unser Zeugenschutzprogramm auf. Und Sie haben die freie Wahl. Wohin möchten Sie lieber umziehen? Nach Buxtehude oder nach Rotenburg an der Wümme? Wir können Ihnen in beiden Städten eine neue Identität anbieten. In Buxtehude als Putzmann oder in Rotenburg als Model für lange Unterhosen von Hugo Boss. Wofür entscheiden Sie sich?«

In dem Blick, den er daraufhin zugeworfen bekam, lag eine Kälte, die dazu ausgereicht hätte, den Gletscherschwund in den Alpen zu bremsen. »Sie werden noch von mir hören«, sagte König. »Ich habe Verbindungen. Bis ganz nach oben!«

Nachdem er hinausgerauscht war, steckte Kommissarin Fischer den Kopf durch die Tür. »Im BKA bilden sie jetzt eine Sonderkommission, Gerold. Und sie wollen uns dabeihaben.«

Wenn sich achtzig Polizeibeamte in einem Raum aufhielten, konnte man zwar nicht erwarten, daß es dort nach Veilchenblättern, Adlerholz und Rosenöl duftete, aber der Gestank, der Gerold Gerold und Ute Fischer entgegenschlug, als sie am späten Nachmittag einen Konferenzsaal im Wiesbadener Bundeskriminalamt betraten, bedurfte einer Erklärung. Das sah auch Kriminalhauptkommissar Henning Riesenbusch so, der Leiter der SoKo Heidefieber, die den Morden an Armin Breddeloh, Frieder Lindenthal, Hobbe Hubertus Schepker und Justus Weindl auf den Grund gehen sollte. Riesenbusch, ein bulliger Zweimetermann, dessen Schicksal es war, drei- bis viermal in der Woche auf seine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Bud Spencer angesprochen zu werden, klatschte in die Hände und bat alle Teilnehmer, sich zu setzen und die Mobiltelefone auszustellen. »Willkommen«, sagte er dann. »Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß es hier nach faulen Eiern riecht, und ich kann Ihnen auch sagen, warum. Heute vormittag habe ich mich mit drei Delegierten des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller unterhalten. Sie glauben, daß wir nicht genug unternehmen, um den Mörder ihrer Kollegen zu fassen. Deshalb habe ich die drei Herren in diesen Raum geführt und gesagt: ›Schon in wenigen Stunden wird hier unter meiner Leitung die Crème de la Crème der deutschen Kriminalpolizei zusammentreten und weder rasten noch ruhen, bis der Mann hinter Gittern sitzt.‹ Und da sind einem der Herren zwei Stinkbomben aus der Hosentasche gefallen. Rein zufällig. Er hat sich vielmals dafür entschuldigt und mir gesagt, daß es sonst nicht seine Art sei, solche Gegenstände in der Hosentasche aufzubewahren. Aber wie auch immer: Nehmen wir das Ganze als Ansporn, unsere Arbeit zügig zu erledigen, damit wir hier bald wieder rauskommen. Und damit nicht noch mehr Menschen sterben müssen. Einverstanden?«

Niemand erhob Einspruch.

»Gut«, sagte Riesenbusch. »Sie haben sich alle mit den Akten vertraut gemacht und unabhängig voneinander Ihre Schlußfolgerungen gezogen. Jetzt tauschen wir uns aus. Ich bitte Herrn Wiesling nach vorn. Er ist ein operativer Fallanalytiker vom Landeskriminalamt Hessen und hat sich eingehend mit allen vier Mordfällen befaßt.«

Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Nach dem Koloß Riesenbusch wirkte der Profiler Hans-Dietlof Wiesling noch schmächtiger, als er ohnehin schon war. Er eröffnete seinen Vortrag mit den Worten: »Nach meiner Einschätzung ist der Täter männlich, weiß und sozial gut angepaßt, aber beziehungsarm. Er ist zwischen dreißig und fünfundvierzig, verfügt über viel Scharfsinn und eine große körperliche Kraft. Zudem ist er skrupellos, brutal und äußerst eitel. Ich nehme an, daß er sich sehr viel auf die Perfektion seiner Vorgehensweise einbildet und sowohl sich selbst als auch uns damit beweisen will, wie clever er ist …«

»Als ob wir darauf nicht schon selbst gekommen wären«, sagte Gerold leise, und die Fischerin raunte ihm zu, daß sie Wieslings Fistelstimme maximal noch zwei Minuten lang ertragen könne.

»Im Unterschied zu anderen Serienmorden«, führte Wiesling weiter aus, »liegt hier bisher keine Cool-off-Periode vor, in der sich der Täter erholt. Er scheint sich sehr gut auf die gesamte Mordserie vorbereitet zu haben. Er plant nicht eine Tat nach der anderen. Er verfolgt eine übergreifende Strategie, und zweifellos ist er noch längst nicht am Ende. Es geht gerade erst los.«

Von diesem Satz hatte Wiesling sich eine dramatische Wirkung erhofft, doch es war so wie 1997 bei seiner Abiturrede in der Aula des Peter-Härtling-Gymnasiums in Nürtingen: Die Zuhörer gähnten, und als er fertig war, rührte sich keine Hand zum Applaus.

Auch die anderen Experten rissen niemanden vom Stuhl, denn sie hatten alle nichts Hilfreiches beizutragen. Alle außer Erwin Zapp, einem Forensiker vom Kriminaltechnischen Institut in Berlin, der wie ein Schlagerstar aus den Achtzigern aussah. Oder jedenfalls so wie jemand, der versuchen könnte, den mitteljungen David Hasselhoff zu doubeln. Was Zapp sagte, klang dann aber ganz interessant: Auf dem Boden der Buddelflasche mit dem Kopf von Hobbe Hubertus Schepker habe er eine Wimper gefunden, die womöglich dem Täter zugeordnet werden könne. »Ich möchte Sie nicht mit den Einzelheiten der Laboranalyse langweilen und Ihnen auch keinen Vortrag über Gas-Chromatographie und Massenspektrometrie halten, sondern gleich zum Ergebnis kommen. Wenn diese Wimper von unserem Täter stammt, dann ist er ein Kokser. Soviel ist sicher. Und der Rest dürfte ein Kinderspiel sein«, sagte Zapp und warf der in der zweiten Reihe sitzenden Kommissarin Fischer, mit der man ihn noch nicht bekanntgemacht hatte, ein vielsagendes Lächeln zu.

Vor der Kaffeepause bat Riesenbusch noch einen Referenten herein, der die SoKo über das Leben der deutschen Kriminalromanschriftsteller informieren sollte: Frank Schulz, einen Autor, der bereits drei Hamburger Regionalkrimis geschrieben hatte. Riesenbusch war ein Fan von ihm und sichtlich erfreut, ihn bei dieser Gelegenheit kennenlernen und ihn vorstellen zu dürfen: »Herr Schulz ist der geistige Vater des Privatdetektivs Onno Viets, von dessen unkonventionellen Ermittlungsmethoden vielleicht auch wir noch etwas lernen können. Bitte, Herr Schulz. Erzählen Sie uns was.«

Schulz, ein athletischer Sixty-something mit John-Lennon-Brille, grauem Seemannsbart und einer eindrucksvollen, bis zum Genick reichenden Denkerstirn, gestand ein, daß er nicht völlig lampenfieberfrei sei. »Als ich das letzte Mal eine Polizeidienststelle von innen gesehen habe, war ich fünfzehn und gerade auf frischer Tat beim Ladendiebstahl ertappt worden. Aber ich glaube, das ist inzwischen verjährt. Auf jeden Fall wäre es mir natürlich eine Ehre, wenn ich irgendwas zur Ergreifung des Täters beitragen könnte. Ich fürchte allerdings, daß Ihre in mich gesetzten Hoffnungen übertrieben sind. Im Grunde bin ich ja nicht mal ein hauptberuflicher Verfasser von Regionalkrimis. Das mach ich nur so nebenher. Und ich weiß auch gar nicht genau, was Sie von mir erwarten. Es wird wohl das Beste sein, wenn Sie mir Fragen stellen. Die werd ich dann so gut wie möglich zu beantworten versuchen …«

»Mich würde interessieren, ob die Autoren von Regionalkrimis untereinander verdrahtet sind«, sagte Riesenbusch. »Kennt man sich? Liebt man sich? Haßt man sich? Oder ignoriert man sich?«

Schulz nahm einen Schluck Wasser und kratzte sich am Kopf. »Tja, da muß ich schon passen. Ich selbst bin nur flüchtig mit einer Autorin von Kölner Stadtkrimis bekannt. Wie’s bei den anderen aussieht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich laufen sich manche von denen auf der Buchmesse oder auf Krimifestivals über den Weg …«

»Wie hart ist denn der Konkurrenzkampf unter den Autoren?« fragte Kommissar Gerold.

»Na ja«, sagte Schulz, »es ist ja kein Geheimnis, daß nur die wenigsten Schriftsteller finanziell auf Rosen gebettet sind. Aber es ist auch nicht so, daß man sich gegenseitig die Butter auf dem Brot mißgönnt. Was die Regionalkrimis angeht, sieht die Sache so aus, daß die Autoren den Markt unter sich aufgeteilt haben. So wie die Mafia. Da gibt’s dann drei oder vier Autoren, die Ostfriesland beackern, während andere sich auf Oberbayern spezialisiert haben und wieder andere aufs Weserbergland, auf Ostwestfalen oder die Sächsische Schweiz und so fort. Und manchmal findet jemand noch irgendwo eine ökologische Nische und macht sich da breit. Ich kann mir schon vorstellen, daß es da auch Futterneid gibt. Aber daß einer von denen tatsächlich Morde begeht, um Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, halte ich für ausgeschlossen. Ich kenne zwar ein paar großmäulige Schriftsteller und auch echte Ekelpakete, aber zu Kapitalverbrechen wären selbst die nicht imstande. Das sind alles ganz harmlose Kerlchen. Mich eingeschlossen.«

»Das sagen sie alle!« rief jemand von hinten, und die Kriminalisten lachten.

Ein Psycholinguist vom BKA wollte wissen, auf welchen Tätertypus Schulz denn selber tippe.

»Da fragen Sie mich zuviel«, sagte er. »Aber es liegt ja wohl auf der Hand, daß der Mörder die Romane seiner Opfer nicht sonderlich schätzt. Wenn man zynisch wäre, könnte man die These vertreten, daß wir es hier mit einer Art angewandter Literaturkritik zu tun haben. Dabei brauche ich wohl nicht zu betonen, daß mir für diese Taten jedes Verständnis fehlt. Ich kann nicht mal nachvollziehen, weshalb manche echte Literaturkritiker sich so tierisch über diese Regionalkrimis aufregen …«

Ute Fischer hätte gern einige Worte mit Frank Schulz gewechselt, aber als sie auf ihn zuging, schob sich Erwin Zapp dazwischen und strahlte sie an.

»Ah«, sagte sie. »Der Mann mit der Wimper.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte Zapp. »Ja, das Reich des Bösen wird zusammenbrechen. Not with a bang, but – falls Sie mir dieses kleine Wortspiel gestatten – with a Wimper! Meine Verehrung, Frau Kollegin. Wenn ich korrekt unterrichtet bin, untersuchen Sie den Fall in Bad Bevensen …«

»Richtig.«

»Aber eine Wimper haben Sie noch nicht gefunden. Am I right?«

Die Kommissarin sandte einen hilfesuchenden Blick nach links, wo Gerold Gerold sich mit Henning Riesenbusch und einem Ballistiker vom Kieler Institut für Rechtsmedizin unterhielt.

»Of course I’m right«, sagte Zapp. »Aber seien Sie nicht traurig. Ich lasse jeden gern an meinem Wissen teilhaben. Mein Lebensmotto lautet: Ich teile gern aus, aber ich teile auch sonst gern. Zum Beispiel meine Freizeit. Darf ich Sie zum Essen einladen? Ich kenne ein spanisches Restaurant, das Sie lieben werden …«

»Oh, sehr freundlich, aber ich bin schon verabredet.«

»Hätte ich mir denken können. Bei einer so charmanten Dame wie Ihnen. Darf ich mich vielleicht anschließen? Sie würden es nicht bereuen. Meine Qualitäten als Unterhalter werden allgemein gerühmt.«

Kein Zweifel: Ute Fischer mußte dieses Spielchen schleunigst beenden. »Das ist eine reizende Idee«, sagte sie, »aber es ist ein Treffen mit meinem Verlobten in einer Liebeszelle der JVA Butzbach. Da würden Sie sich wie das fünfte Rad am Wagen fühlen. Mein Verlobter sitzt ein, weil er einen Nebenbuhler niedergestochen hat. Er ist Sizilianer, müssen Sie wissen. Ziemlich heißblütig. Un he nümmt geen Blatt vöör’t Muul. Nächsten Montag kommt er allerdings frei. Dann können wir ja vielleicht mal zu dritt um die Häuser ziehen …«

Um diesen Input zu verarbeiten, benötigte Zapp einige Sekunden. Als er seine Fassade wieder unter Kontrolle hatte, drohte er der Kommissarin schelmisch mit dem Zeigefinger und sagte: »Böses Mädchen! Böses, böses Mädchen …«

Weil er weder Hotelzimmer noch dienstliche Unterkünfte leiden konnte, logierte Gerold Gerold im Haus seiner Schwester Karin Gerold in Bad Soden am Taunus, und dort war auch ein Gästezimmer für Ute Fischer frei. Mit der er sich duzte, seit sie auf der Taxifahrt nach Bad Soden festgestellt hatten, daß sie beide an einer unheilbaren Erwin-Zapp-Allergie litten.

»Heute gibt’s Bœuf Stroganoff mit Kroketten und grünen Bohnen«, sagte die Gastgeberin, die mit einer dampfenden Schüssel aus der Küche kam. »Und ab morgen müßt ihr euch selbst bekochen. Ich hab eine Woche lang geschäftlich in Montreal zu tun.«

»Meine Schwester ist Risikomanagerin bei der Deutschen Bank«, sagte Gerold Gerold. »Jettet das ganze Jahr in der Welt herum und kommt fast nie dazu, das Leben in ihrem Traumhaus hier zu genießen. Zweihundertzwanzig Quadratmeter in Bestlage mit Fußbodenheizung und Kachelkamin und im Garten ein Schwimmteich, und das alles für eine alleinstehende Lady, die fast permanent außer Haus ist! Kannst du dir das vorstellen, Ute?«

»Vorstellen schon. Ich hab in Uelzen ’ne Dreizimmerwohnung mit kaputtem Warmwasserboiler und vier Heizkörpern, in denen Poltergeister wohnen …«

Karin Gerold reichte ihrem Bruder eine Flasche Sauvignon Blanc. »Mach die mal bitte auf. Und wie geht’s Fabian?«

»Schwer zu sagen. Wenn er nicht schläft, ist er entweder in der Schule oder mit seinen Ballerspielen beschäftigt, und wenn er mal mit mir zu sprechen geruht, dann nur, um mir sein Taschengeld aus den Rippen zu leiern.«

»Wer kümmert sich denn jetzt um ihn?«

»Na, wer schon? Meine Ex.« Er schenkte ein und sprach einen Toast aus: »Auf meine große Schwester, die beste Köchin zwischen Kapstadt und Spitzbergen! Danke, Karin, daß du uns hier so vorzüglich beköstigst!«

Über den Fall redeten sie erst, als auch der Nachtisch vertilgt war, ein Schokoladensoufflé, nach dessen Konsum Utes gefühltes Eigengewicht neunzig Kilo betrug.

Gerold öffnete die zweite Flasche Wein. Er habe selten eine solche Ansammlung von Volltrotteln gesehen wie in dieser Sonderkommission, sagte er. »Allen voran Meister Zapp. Ein Ölprinz erster Güte. Als ob er sich in einem Kostümgeschäft ausstaffiert hätte, um möglichst behämmert rüberzukommen. Hat sich sogar einen Brilli ins Ohr geschossen, damit auch ja alle merken, daß er ein Blindgänger ist …«

»Über diese Mordserie wird heute abend bei Maybrit Illner getalkt«, sagte Karin. »Wollen wir mal reinschauen?«

Sie nahmen ihre Gläser mit und machten es sich auf der Ledercouch vor dem Fernseher gemütlich. In der Sendung, die bereits in vollem Gange war, ereiferte sich ein ehemaliger Personenschützer über das unzulängliche Gefahrenbewußtsein von Prominenten: »Die geben Autogramme in Möbelmärkten, wo jeder mit einem Revolver reinspazieren kann, wenn ihm der Sinn danach steht. Oder sie mischen sich auf dem Oktoberfest unters Volk und lassen jeden Durchgeknallten an sich ran …«

Ein evangelischer Bischof meinte dann, daß die Kriminalromanautoren sich vielleicht einmal selbstkritisch fragen sollten, ob sie mit ihren teils recht blutrünstigen Werken nicht auch ihrerseits etwas zum »Klima der Gewalt« beigetragen hätten, das in Deutschland vorherrsche, doch da fuhr dem Bischof ein alter Bekannter von Ute Fischer und Gerold Gerold in die Parade: Waldemar König, der die Gunst der Stunde dazu nutzte, seinen spektakulären Bart einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Es könne doch nicht angehen, stieß König hervor, daß die Schuld an den Morden hier den Opfern in die Schuhe geschoben werde. »Wir Schriftsteller stehen an vorderster Front im Kampf um die Freiheit des Geistes! In den letzten Tagen habe ich aber am eigenen Leibe erfahren müssen, wie gering die Wertschätzung ist, die man uns entgegenbringt. Ich habe Personenschutz für mich beantragt und bin dafür von einem deutschen Kommissar ausgelacht worden, obwohl der Mörder bereits vier meiner Kollegen hingemeuchelt hat! Und in allen vier Fällen tappt die Polizei im Dunkeln. Ich frage mich, wie lange die Schlafmützen von der Kripo diesen Mann eigentlich noch gewähren lassen wollen, bevor sie den Hintern hochkriegen und die Arbeit tun, für die wir sie bezahlen!«

Das Studiopublikum spendete dafür einen rauschenden Beifall, und die Zuschauer konnten im Anblick von Königs Bartgeweih schwelgen.

»Wenn er so sehr um sein Leben bangt, ist es ja wohl das Dümmste, was er tun kann, sich im Fernsehen zu zeigen, und das auch noch mit so ’ner Brezel im Gesicht«, sagte Karin und stand auf, um etwas Knabberzeug zu holen. »Möchte außer mir noch jemand Pringles? Oder Nachos?«

Gerold schüttelte den Kopf, und auch Ute winkte ab.

Er habe sich jetzt schriftlich an den Bundesinnenminister gewandt und ihn um Beistand ersucht, erklärte König feierlich. »Seine Antwort steht noch aus. Wenn morgen oder übermorgen auch ich zu den Opfern gehören sollte, dann wird der Minister das mit seinem Gewissen auszumachen haben!«

»Ob ihr es glaubt oder nicht«, sagte Gerold, »ich verspüre gerade selbst einen Anflug von Mordlust …«

SoKo Heidefieber

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