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1683

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»Never victory of so great importance cost so little blood«

Wiens Befreiung von der Türkenbelagerung

Am 12. September 1683 wird zwischen Nußdorf und Ottakring das christliche Abendland gerettet.

In den frühen Morgenstunden eines wolkenlosen Spätsommertags marschierten von den Höhen des Wienerwalds Zehntausende Berufssoldaten des kaiserlichen Entsatzheeres durch Büsche und Stauden, Hecken und Sträucher, Weingärten und Gehöfte an den Abhängen herab. Es waren Polen, Lothringer, Schwaben, Franken, Salzburger, Bayern, Sachsen und auch ein paar Franzosen und Engländer, die unter der nominellen Führung des polnischen Wahlkönigs Johann III. Sobieski langsam in voller Schlachtordnung gegen das türkische Heer vor Wiens Mauern vorrückten. Bei den kaiserlichen Truppen diente auch ein kleingewachsener Offizier aus Savoyen. Eugenio war erst wenige Tage vor der Befreiung Wiens aus Paris geflüchtet und bot sich an, im kaiserlichen Heer ein Kommando zu übernehmen, weil er – beziehungsweise seine Familie – am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Ungnade gefallen war. Der Großneffe von Kardinal Mazarin und spätere Kriegsheld Eugenio von Savoyen erhielt ein kleines Kommando über vielleicht drei Dutzend Männer. In der Schlachtenchronik wird er nicht weiter erwähnt.

Auf den beschädigten Wiener Stadtmauern drängten sich am Morgen des 12. September Hunderte Schaulustige. Sie wollten die Entscheidungsschlacht vor den Toren ihrer seit 61 Tagen belagerten Stadt beobachten. Die Morgenröte verhieß einen strahlend schönen Tag, nachdem eine Schlechtwetterfront mit Kälte und Regen abgezogen war.

Auch der kaiserliche Hofkriegsrat Johann Peter von Vaelckeren ließ sich das Ereignis nicht entgehen: »Kaum hatte die Morgenröte hervorgeblickt, da sahen wir das Gebirge überall voller Volks, welches sich in einer langen und breiten Linie mit beständig geschlossenen Gliedern langsam und allgemach herunterließ und überall einige Stücke vor sich her führte und immerzu auf die unten an dem Berg stehenden Türken losbrannte.« Im osmanischen Kriegstagebuch wird der Angriff des kaiserlichen Entsatzheeres dramatischer beschrieben. Die sich anbahnende Niederlage erfordert als Rechtfertigung vor der Geschichte übermächtige Gegner. »Die Ungläubigen tauchten nun mit ihren Abteilungen auf den Hängen auf wie Gewitterwolken, starrend vor dunkelblauem Erz. Es war, als wälzte sich eine Flut von schwarzem Pech bergab, die alles, was sich ihr gegenüberstellt, erdrückt und verbrennt.«

Aber auch die Angreifer waren von der türkischen Heeresmacht vor den Basteien und Toren Wiens beeindruckt. Ein französischer Artillerieoffizier verlässt am frühen Morgen das Hauptquartier des Herzogs von Lothringen und erinnert sich in seinen Memoiren: »Welch ein Schauspiel bot sich unseren Augen vom Scheitel dieses Berges dar. Der ungeheure Raum von prächtigen Zelten übersät. Das fürchterliche Gedonner aus den Feuerschlünden der feindlichen Batterien und die erwidernden Schüsse von den Stadtmauern erfüllen die Lüfte.«

Tatsächlich beschoss die türkische Artillerie auch noch am 12. September die schwer lädierten Stadtmauern und Basteien der Residenzstadt. Großwesir Kara Mustafa befahl nur einige kleinere Kanonen abzuziehen und damit die Straße von Wien nach Klosterneuburg zu sichern. Obwohl die Osmanen seit Wochen über das Anrücken einer Armee informiert waren, blieben sie in den Laufgräben vor Wien und versuchten erst gar nicht, die »Ungläubigen« beim Aufmarsch zu behindern. Nicht einmal die Höhen des Wienerwalds waren von osmanischen Truppen besetzt worden.

So hatte Kara Mustafa die Schlacht schon verloren, ehe sie begann.

Die Einheiten des Osmanischen Reichs waren ebenso bunt zusammengewürfelt wie die Armee zur Befreiung Wiens. Ägypter und Syrer sollten an der Seite von Kurden, Bosniern, Herzegowinern, aufständischen (christlichen) Ungarn, Janitscharen und Tartaren kämpfen. Die Kommunikation zwischen den Belagerern verlief holprig. Die Loyalität galt in erster Linie immer dem jeweils eigenen Führer. Die berittenen Tartaren, als Plünderer gefürchtet, machten ohnehin, was sie wollten, und riskierten nicht unnötig Leib und Leben. Im entscheidenden Moment galoppierten sie zwar als wilder Haufen gegen die anrückenden Kaiserlichen, drehten dann aber – ohne einen Pfeil abgefeuert zu haben – ab und verschwanden Richtung ungarischer Tiefebene. Sie verhielten sich so, wie dies der Schlachtplan des Herzogs »Carolus« von Lothringen erwartete. Er hatte bewusst vom Westen her angreifen lassen, damit den türkischen Einheiten ein bequemer Fluchtweg nach Osten offen bliebe.

Die osmanischen Truppen vor Wien kämpften zwar im Namen und unter den flatternden Bannern Allahs, aber es war keineswegs ein »Religionskrieg«. Nach der monatelangen Belagerung in sommerlicher Hitze waren viele der Söldner nicht mehr sonderlich motiviert. Der Großwesir hatte ihnen reiche Beute in Wien, dem »goldenen (eigentlich: roten) Apfel«, versprochen, aber keine monatelange verlustreiche Belagerung. Die auf dem Kriegszug von Edirne bis Wien geraubte Beute lag in den Zelten, die Hoffnung, Wiens Schätze zu erobern, sank mit jedem Tag.

Während der Belagerung hatte Wiens Stadtkommandant Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg die Verteidigung der Stadt organisiert. Der 46-jährige Adelige aus oberösterreichischer Familie war das, was man heute einen »Profi« nennen würde: Berufssoldat und der jüngste »Feldzeugmeister« der kaiserlichen Armee. Beim Herannahen des osmanischen Heeres hatte ein gutes Drittel der damals 60 000 Wienerinnen und Wiener die Stadt – buchstäblich – »fluchtartig« verlassen. Auch Kaiser Leopold I. ließ am späten Nachmittag des 8. Juli 1683 den kompletten Hofstaat auf 146 Karossen und Leiterwagen packen und floh aus Wien stromaufwärts zunächst nach Korneuburg, weiter nach Linz und später sicherheitshalber bis nach Passau. 150 berittene Wachleute der Stadtwache mussten den Tross des Kaisers begleiten und ihm die verstopften Straßen und Wege freimachen.

Der Kaiser ließ seine Hofburg, ließ seine Hauptstadt, er ließ Wien im Stich.

Für die verbleibenden Bewohner, alle jene, die sich eine Flucht mangels Fuhrwerks nicht leisten konnten oder wollten, wirkte der überstürzte Abzug des Hofs wenig ermunternd. Dafür schickte Leopold I. mit Ernst Rüdiger von Starhemberg einen tüchtigen Offizier nach Wien.

Mit dem Kaiser und einer Falschmeldung, wonach das kaiserliche Heer von den Türken bei Petronell vernichtend geschlagen worden sei, hatten auch die mehr als dreitausend niederösterreichischen Zwangsarbeiter ihr Heil in der Flucht gesucht. Die zur »Robot« verpflichteten Bauern sollten in letzter Minute die jahrzehntelang vernachlässigten Mauern, Palisaden und Basteien instand setzen. Wiens Bevölkerung war zum Mitmachen erst dann zu bewegen, als die Zwangsarbeiter geflohen waren und Graf Starhemberg alle Drückeberger mit dem öffentlichen Hängen bedrohte.

Wien war in diesen Tagen de facto eine offene Stadt. Kommandant Starhemberg konnte nur über die 1150 Mann der »Stadtguardia« verfügen, die eigentlich für den Wachdienst in der Hofburg zuständig waren. Und die schnell nach Berufsgruppen aufgestellten Bürgerkompanien hätten das »Kraut nicht fett gemacht«. Gastwirte, Bierbrauer und Fleischhauer stellten etwa fünfhundert Mann. Die Studenten-Kompanien standen unter dem Kommando eines tapferen Advokaten und zählten siebenhundert Bewaffnete.

Erst zu einem denkbar späten Zeitpunkt zogen die zur Verteidigung Wiens bestimmten Truppen des Herzogs von Lothringen in die Stadt ein. Nach langen Diskussionen zwischen Kaiser Leopold und seinem Heerführer wurden dann doch mehr als elftausend Soldaten in die Stadt verlegt. Die sogenannten »Linienregimenter« waren eines Vielvölkerstaates würdig: Schlesier, Schwaben, Kroaten, Tschechen, Italiener, protestantische Franzosen, kaisertreue Ungarn, Dänen, Sachsen und Österreicher kämpften um des Soldes willen in der christlichen Armee. Ehe die Verteidiger Wiens bereit waren, zu den Waffen zu greifen, musste Graf Starhemberg Gehaltsverhandlungen führen. Die Residenzstadt hatte im Juli 1683 gerade einmal 30 000 Gulden in der Kasse. Die Regimenter würden aber pro Monat 40 000 Gulden allein an Sold kosten. Denn die Soldaten verlangten, wegen des doch einigermaßen ungemütlichen Belagerungszustands, einen Gulden mehr pro Monat. Außerdem griffen sie nur gegen Vorauszahlung zur Pike oder Muskete. Die Rettung des »christlichen Abendlands« drohte also an der prekären Finanzlage der Stadt zu scheitern.


Wien im Sommer 1683: Sechs Wochen dauert die Belagerung der Stadt durch ein osmanisches Heer. Die Rettung des »christlichen Abendlandes« droht an der Finanzierung zu scheitern.

Gott sei Dank wusste der Bischof von Wiener Neustadt, Leopold Karl von Kollonitsch, einen Ausweg. Der 39-jährige Kirchenfürst war nicht nur ein gnadenloser Verfolger aller Protestanten und Juden, die er »schädliches Unkraut« nannte, der gefürchtete Richter eines »Bluttribunals« galt auch als gradlinig, unbestechlich, tapfer, und schlau war er auch. Während Wiens Kirchenoberhaupt mit dem Kaiser eilends die Stadt verlassen hatte, übernahm Graf Kollonitsch die undankbare Aufgabe, über das Seelenheil der Belagerten zu wachen. Seine Gebete waren möglicherweise hilfreich, sein »Insiderwissen« noch mehr. Der Bischof aus Wiener Neustadt hatte gehört, dass sein Amtsbruder, der 88-jährige Fürstprimas von Ungarn, György Szelepcsényi, auf der Flucht von Esztergom gegen Westen ein nicht unbeträchtliches Vermögen im fürsterzbischöflichen Haus auf der Seilerstätte versteckt habe. Mit einer schriftlichen Genehmigung des »geheimen Deputiertenkollegiums« der Stadt öffnete Kollonitsch in Begleitung des kaiserlichen Hofkriegszahlamts-Kontrolleurs Johann Michael Eineder das Stadthaus des Kirchenfürsten. Die beiden Herren wurden in den Kellergewölben fündig. Sie arbeiteten zwei Tage und zwei Nächte, ehe sie das gesamte Vermögen des ungarischen Fürstprimas gezählt und in Listen eingetragen hatten. Geld, Juwelen, Gold im Wert von fast 500 000 Gulden wurden im Dienste der Sache beschlagnahmt, ja eigentlich gestohlen. Da aber der greise Bischof bei der Frage nach der Urheberschaft des Schatzes in einem gewissen Erklärungsnotstand war, blieben György Szelepcsényis Protestschreiben an den Papst und Kaiser wirkungslos. Von seinem – noch älteren – ungarischen Amtsbruder Szelepcsényi aus Eger musste der Fürstprimas Spott und Hohn ertragen: Er möge doch Gott danken, dass er, vom schnöden Mammon befreit, die Stadt Wien habe retten können. Er dürfe es sich im Himmel zur höheren Ehre anrechnen lassen.

Nach der Befreiung Wiens konnten die kaiserlichen Finanzkontrolleure eine ausgeglichene Bilanz ziehen. Alles in allem hatte die Verteidigung der Stadt ziemlich genau so viel gekostet, wie der beschlagnahmte Schatz des Kirchenfürsten wert war, also eine halbe Million Gulden. Dem unfreiwilligen Retter Wiens György Szelepcsényi bleibt die Stadt bis heute ein Denkmal schuldig. Graf Starhemberg hat es später immerhin zu einer Gasse in Wien-Wieden gebracht, dort, wo seine Familie beträchtlichen Grundbesitz hatte.

Finanziell ausreichend abgesichert, beginnt Starhemberg mit dem Aufstellen der Kanonen auf den zwölf Basteien. Munition ist reichlich vorhanden, auch verdursten werden die Verteidiger Wiens und die verbliebene Bevölkerung nicht. Etwa 170 000 Eimer Wein befinden sich innerhalb der Stadtmauern. Das entspricht fast zehn Millionen Litern: ein Liter für jeden oder jede pro Tag, und zwar ein halbes Jahr lang. Die Stadt ist mit Vorräten wohl versorgt.

Das osmanische Heer bewegt sich in den entscheidenden Tagen eher gemütlich Richtung Wien, es lässt »den Kaiserlichen« Zeit für die Vorbereitung der Abwehrschlacht. Kara Mustafa ist über den Zustand der Mauern und Basteien schlecht informiert. Er hat viel zu wenige schwere Kanonen mitschleppen lassen, weil diese den Aufmarsch verzögert hätten. Die osmanischen Geschütze sind nicht besonders durchschlagskräftig. Ihre Reichweite ist auf wenige hundert Meter beschränkt, und präzise schießen sie schon gar nicht. Ihre Steinkugeln werden an Wiens Mauerwerk zerbersten. So beginnt nach der Einnahme Hainburgs und nach einem Massaker in Perchtoldsdorf im Süden die Belagerung Wiens am 17. Juli 1683. Kara Mustafa lässt sein für damalige Verhältnisse beeindruckendes Heer die befestigte Stadt in einem Halbkreis von St. Marx bis Nußdorf umzingeln. Die diversen osmanischen Truppenteile schlagen ihre bunten Zelte auf, bauen Lager, errichten Stallungen für die mitgeführten Pferde, Rinder und Kamele. Die in der Stadt verbliebene Wiener Bevölkerung bekommt ein orientalisches Spektakel zu sehen und drängt sich auf den Mauern, auf den Dächern der Häuser, viele klettern auf Bäume, um den riesenhaften orientalischen Jahrmarkt vor den Toren zu bestaunen.

Eine Belagerung erfolgt im 17. Jahrhundert nach einem genauen strategischen Konzept, das der französische Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban für den Sonnenkönig Ludwig XIV. ausgearbeitet und selbst während seiner langen Dienstzeit mehr als fünfzig Mal erprobt hat. Praktischerweise fußt auch die Verteidigung einer Festung auf den Rezepten des französischen Architekten. Freund und Feind kennen die Schriften Vaubans. Überraschungen sind somit eher ausgeschlossen.

Der Belagerer versucht durch das Ausheben Hunderter Laufgräben möglichst nahe an die Befestigungen der Stadt heranzukommen und sie entweder durch Artilleriebeschuss so schwer zu beschädigen, dass seine Soldaten durch entstehende Mauerlücken eindringen können, oder die Fundamente der Basteien zu untergraben und sie mit ungeheuren Ladungen von Schwarzpulver zu sprengen.

Genauso gehen die Türken vor, und genau das versuchen die Verteidiger zu verhindern. Dabei will Kara Mustafa Wien vorerst gar nicht erobern. Bei der ersten Besichtigung der Stadtmauern muss der Großwesir erkennen, dass er sich getäuscht hat. Wien ist deutlich stärker befestigt, als ihm die Aufklärer berichtet haben. Die zwölf Basteien und die Stadtmauern sind mit den wenigen mitgeführten schweren Kanonen in absehbarer Zeit nicht zu brechen. Kara Mustafa will Wien auch nicht monatelang sturmreif schießen lassen. Er hofft inständig auf eine Kapitulation der Stadt. Nach dem Kriegsrecht der Osmanen muss eine eroberte Festung zur Plünderung durch die siegreichen Truppen freigegeben werden. Erfahrungsgemäß werden dabei die schönsten Beutestücke von der gierigen und unverständigen Soldateska zerstört. Der Großwesir strebt daher die freiwillige Kapitulation der Stadt an. Dann gehört die Beute zuerst dem Oberbefehlshaber und er darf die schönsten Kostbarkeiten vorab plündern. Kara Mustafa sucht daher zuerst den Verhandlungsweg und bietet der Stadt eine milde und korrekte Behandlung an. Der letzte Satz des an Starhemberg übergebenen Schreibens lautet: »Friede dem, der gehorcht.«

Der Stadtkommandant reagiert gar nicht, er schickt nicht einmal ein Antwortschreiben. Der berittene Überbringer des Ultimatums wird eher rüde zum Verschwinden aufgefordert, widrigenfalls er über den Haufen geschossen werde.

So muss Kara Mustafa das Belagerungshandwerk beginnen. Tag für Tag graben Pioniertruppen Laufgräben, donnern die Kanonen gegen Mauerstücke und versuchen Mineure tief unter die Fundamente der Basteien zu graben. Es ist ein mühsamer, brutaler und verlustreicher Kampf. Fast immer Mann gegen Mann: Säbel, Dolche, Streitkolben, Hellebarden erweisen sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts als immer noch wirkungsvoller als Pistolen und Musketen. Hinter den Mauern und Palisaden versteckt, versuchen aber mehr als fünfzig Wiener Scharfschützen den Feind aus der Entfernung zu töten. Der Krieg wird mit Zähigkeit und oft auch sadistischer Härte geführt. Den türkischen Toten wird gelegentlich der Bauch aufgeschlitzt, weil sich die Kunde verbreitet hat, die Osmanen würden Golddukaten schlucken. Tatsächlich soll ein Wiener Student so sechs zusammengerollte Dukaten aus dem Leib eines Osmanen geschnitten haben. Beim Zelt des Großwesirs gibt es für die Überbringung abgeschnittener Wiener Köpfe Goldstücke. Da verstümmelte Köpfe Getöteter oft nicht genau unterscheidbar sind, steigt die Versuchung, außerhalb der Gefahrenzone Wehrlose zu ermorden und deren Köpfe als Beute zu präsentieren. Gefangene werden abgeschlachtet, auf Bauern in der weiteren Umgebung Wiens Jagd gemacht.

Es sind keine schöne Zeiten.

In der belagerten Stadt geht der Tod um. Viel gefährlicher als der türkische Beschuss ist die »rote Ruhr«. Die Seuche breitet sich in den warmen Sommermonaten in der engen Stadt aus. Tag für Tag stirbt ein Dutzend Menschen an der Darminfektion, später sind es drei Mal so viele Menschen. Acht Geistliche werden eingeteilt, den Sterbenden die letzten Sakramente zu spenden. Die Friedhöfe in der Stadt sind überfüllt, fast zweitausend Opfer des Kampfes und der Ruhr werden auf Anordnung des »Geheimen Deputiertenkollegiums« zwangsweise im Franziskanerkloster begraben. Anfang September beginnt die Lage für die Eingeschlossenen kritisch zu werden. Die Hälfte der Berufssoldaten ist getötet oder verletzt, die Wiener Bürgerkompanien haben sich de facto aufgelöst, nur die Studenten erscheinen noch zum täglichen Gefechtsdienst auf den Mauern. Mit vorgehaltener Muskete werden kampffähige Wiener aus ihren Verstecken geholt, Deserteuren wird angedroht, sie »unverzüglich zum Fenster hinaus aufzuhängen«.

Während die Wiener Garnison unter großen Verlusten den Angriffen der Türken standhält, versucht Kaiser Leopold I. von Linz und Passau aus, ein christliches Entsatzheer zu organisieren. Das Vorhaben entpuppt sich als nicht ganz einfach: Die Jahrzehnte später heroisierte Rettung des »christlichen Abendlandes« war wenigen Fürsten das Risiko und die Kosten eines kriegerischen Einsatzes wert. Verbündete des Kaisers müssen erst durch entsprechende finanzielle Versprechungen überzeugt werden. Die Diplomaten und Beamten im kaiserlichen Exil beim Bischof von Passau schreiben unablässig Briefe, unter anderem an den bayerischen Kurfürsten Maximilian II. Emanuel, an den sächsischen Kurfürsten Johann Georg III., an Fürst Georg Friedrich von Waldeck, und an Papst Innozenz XI. Der katholische Kirchenfürst in Rom stellt für den Kampf gegen die Osmanen in erstaunlich kurzer Zeit und ohne machtpolitische Winkelzüge eineinhalb Millionen Gulden zur Verfügung. Auch das katholische Spanien, Portugal, die Toskana und die Republik Genua greifen tief in ihre wohlgefüllten Geldbeutel, freilich mehr aus Angst vor französischem Expansionsstreben als aus christlicher Solidarität. Kaiser Leopold verfügt nun über eine pralle Kriegskasse und kann mit dem Anwerben von Verbündeten beginnen. Einige wenige Fürsten sind selbst für Gotteslohn bereit, für die Sache der Christen und der Habsburger zum Schwert zu greifen. Der Salzburger Erzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg etwa schickt dem Kaiser tausend bestens ausgerüstete Infanteristen und bezahlt sie. Auch der Franke Georg Friedrich von Waldeck feilscht nicht ums Kleingeld. Er lässt seine disziplinierten und kampferprobten Truppen aus der Region um Bamberg Richtung Osten abmarschieren. Neben Bayern und Sachsen, Franken und Salzburgern braucht der Kaiser aber auch die Streitmacht des polnischen Königs Johann III. Sobieski. Dieser zeigt sich durchaus willens nach Wien zu ziehen und das kaiserliche Heer zu verstärken. Der Pole verlangt allerdings den Oberbefehl des Heeres für sich. Für den Heerführer der kaiserlichen Truppen, Herzog Karl V. Leopold von Lothringen, der Sobieski schon bei der Wahl zum polnischen König unterlegen war, ist dieses Ansinnen eine persönliche Zumutung. Doch er muss nachgeben. Der Kaiser braucht Soldaten. Die Polen sind bereit zu kämpfen. Und so sammelt Sobieski in aller Ruhe sein Heer bei Krakau, um »mit Gottes Hilfe die Sache der Christenheit zu unterstützen«.

Die polnischen Truppen stellen mit etwa 24 000 Mann das größte Kontingent des Entsatzheeres, das sich Anfang September auf dem Tullnerfeld südlich der Donau sammelt. Der Aufmarsch hat Wochen gedauert. Wochen, in denen die belagerte Stadt unter täglichem Beschuss der Osmanen durchgehalten hat.

Als Botschafter des Papstes begleitet der Kapuzinermönch Marco d’Aviano die kaiserliche Armee und berichtet dem Heiligen Vater nach Rom, aber auch dem Kaiser nach Passau. Am Tag vor der Schlacht schreibt der streitbare Bußprediger: »Die Armee ist sehr schön, sowohl an Infanterie als auch an Kavallerie.« Der inoffizielle Beobachter des Kaisers soll auf dem heutigen Leopoldsberg, der damals Kahlenberg genannt wird, die letzte Messe für die versammelten Heerführer gelesen haben.

Vieles ist Legende, auch die Rolle des Geistlichen wandelt sich im Lauf der Zeit. Der Friulaner wird in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Helden mystifiziert. Wiens Kardinal Innitzer ehrt den Mönch 1933 als »Retter des Abendlandes« und stellt ihn und Bundeskanzler Engelbert Dollfuß auf eine Stufe. Die Vereinnahmung durch das undemokratische Regime des Ständestaates hat Marco d’Aviano posthum einen schlechten Ruf eingetragen und ihn beinahe »seinen« Gassennamen gekostet. Wiens Kommission zur »Kontextualisierung der Benennung der Straßennamen« sprach dreihundert Jahre nach seinem Tod allen Ernstes eine Mahnung aus: Der katholische Geistliche sei aufgrund seiner »anti-islamischen Haltung« heute möglicherweise diskreditiert.

An seiner Abneigung gegen den Islam hat der Bußprediger aber ohnehin nie einen Zweifel gelassen. »Politische Korrektheit« war als Begriff unbekannt. Seine Predigt am Leopoldsberg hatte nur einen Zweck: die Kampfkraft der Truppen zu stärken. Er selbst erinnert sich nur, dass er den vorbeimarschierenden Truppen seinen Segen gespendet hat.

Kara Mustafa entscheidet sich in diesen frühen Morgenstunden des 12. September 1683 für Angriff als die beste Verteidigung. Seine bewährtesten Truppen greifen den Flügel des Entsatzheeres unterhalb des heutigen Leopoldsbergs an. Die Sachsen und Österreicher müssen den Ansturm abwehren. Es kommt zu heftigen Straßenkämpfen in Nußdorf. Am Vormittag ist der türkische Angriff gescheitert und in der Mitte rücken die Bayern, Franken, Schwaben und Salzburger zügig gegen Neustift vor. Das polnische Heer, ganz am rechten Flügel aufgestellt, bleibt unsichtbar. König Jan Sobieski muss mit seinen Soldaten wieder den weitesten Weg zurücklegen, er verspätet sich. Der Vormarsch des kaiserlichen linken Flügels gerät ins Stocken. Die Soldaten sind erschöpft, es ist heiß. Die österreichischen Offiziere überlegen, erst mal eine Mittagspause einzulegen – nicht mit einem Preußen. Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz drängt vorwärts: »Es wäre anjetzo nicht Zeit, dergleichen vorzunehmen, sondern vielmehr zu fechten!« Die Mittagspause ist abgesagt, die Regimenter bewegen sich dennoch kaum vorwärts. Das Eingreifen der Polen wird abgewartet. Erst am frühen Nachmittag taucht Sobieskis Armee bei Dornbach und Pötzleinsdorf auf. Die berittenen Husaren geben ihren Rössern die Sporen. Die Bären- und Pantherfelle über ihren Schultern flattern im Wind. Auf den Brustpanzern sind mit Schwanenfedern beklebte bewegliche Flügel angebracht. So donnert die Masse die Hügel herab und wird von den in den Weinbergen gut getarnten Türken zum Stehen gebracht. Erst vier sächsische Bataillone können in geschlossener Formation den Gallitzinberg besetzen und die Janitscharen ins freie Gelände treiben. Dort hat die türkische Elitetruppe gegen den Angriff der polnischen Reiterei keine Chance. Der Rückzug, die Flucht beginnt. Immer mehr Einheiten des osmanischen Heeres flüchten zu ihren Zelten, raffen Beute zusammen, packen sie auf Wagen, Pferde und Kamele und ziehen gegen Osten ab. Kara Mustafa gibt keine Befehle mehr. Er verlässt überstürzt sein Lager, die polnischen Reiter erstürmen das türkische Hauptquartier. Die Schlacht ist geschlagen. Vor den Mauern und Bastionen geraten etwa zehntausend türkische Belagerer in eine tödliche Falle. Vor ihnen das kaiserliche Heer. Im Rücken die Verteidiger der Stadt, die nun einen Ausfall wagen. Ein Gemetzel.

An diesem Tag sterben zwischen 15 000 und 30 000 osmanische Soldaten. Die Verlustziffern sind höchst unpräzise. Das kaiserliche Heer hat einen vergleichsweise unblutigen Sieg errungen. Auf dem Schlachtfeld bleiben nur 1500 christliche Krieger. Der Earl of Carlingford, englischer Offizier im kaiserlichen Dienst, schreibt in sein Tagebuch: »Never victory of so great importance cost so little blood.« Und der polnische König notiert nur den knappen Satz: »Die Schlacht gewonnen.«

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