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3.2 Moralische Dilemmata

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Versuchen wir, einige Implikationen des bisher Gesagten an einem Beispiel zu demonstrieren, das in der Welt der Gegenwart angesiedelt ist. Nehmen wir an, eine Autofahrerin sieht nachts auf einer abgelegenen Landstraße die Opfer eines Verkehrsunfalls, der sich kurz zuvor zugetragen hat. Anhalten oder Weiterfahren? Sie entscheidet sich für Anhalten, nachdem sie anhand von Beobachtungen und deren Verknüpfung ausgeschlossen hat, dass es sich um eine Falle von Straßenräubern handelt. Dass sie anhält, kann alle möglichen Gründe haben. Vielleicht fürchtet sie Gewissensbisse oder Strafverfolgung; vielleicht sagt sie sich auch, dass sie ihrerseits froh wäre, wenn jemand anhalten [69]würde, sollte sie selbst Unfallopfer sein. Von der Furcht vor Strafe wegen unterlassener Hilfeleistung abgesehen, sind das moralische Beweggründe. Sie wären ohne rationale Überlegung nicht möglich (was nicht bedeutet, dass sie restlos in Rationalität aufgingen). Nun stellt die Autofahrerin fest, dass hilfsbedürftige Verletzte am Unfallort sind. Die Entscheidung, was zu tun ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Kann sie Sofortmaßnahmen am Unfallort leisten? Hat sie die Möglichkeit, Hilfe herbeizuholen? Wie groß ist die Transportkapazität ihres Fahrzeugs? Nehmen wir an, bei den Verletzten handelt es sich um ein kleines Kind, ein muslimisches Ehepaar mittleren Alters, einen älteren, geistig und körperlich behinderten Mann, eine hochschwangere junge Frau und eine deutsche Dogge.

Natürlich fordert dieses Szenario den Unwillen der Lesenden heraus. Doch es ist üblich, derartige Beispiele an den Haaren herbeizuziehen; wenn es um die Konstruktion von Argumentationsanlässen geht, ist der Maßstab nicht literarischer Realismus. Mit einer ähnlich konstruierten Situation hat Philippa Foot Ende der 1970er Jahre die Philosophiegeschichte bereichert. Hier wird eine Person adressiert, die einen Straßenbahnwagen steuert:

Der Trolley steuert durch eine Kurve, und auf der Spur vor Ihnen sehen Sie fünf Gleisarbeiter, die mit der Reparatur des Gleisstücks beschäftigt sind. Das Gleis führt an dieser Stelle durch ein kleines Tal mit steilen Hängen auf beiden Seiten, so dass Sie den Trolley stoppen müssen, wenn Sie die fünf Gleisarbeiter nicht überfahren wollen. Sie treten auf die Bremse, doch leider funktioniert diese nicht. Dann erkennen Sie plötzlich, dass ein Gleis nach [70]rechts abzweigt. Sie können den Trolley auf dieses Gleis umlenken und so die fünf Gleisarbeiter auf dem geraden Gleis […] retten. Leider hat Frau Foot den Fall so eingerichtet, dass sich auf diesem Gleis ein Gleisarbeiter befindet. Wie die fünf Gleisarbeiter würde es auch dieser Gleisarbeiter nicht rechtzeitig schaffen, sich vom Gleis zu entfernen, so dass Sie ihn töten werden, wenn Sie den Trolley auf ihn zusteuern. Ist es moralisch zulässig, dass Sie den Trolley umlenken? (Thomson 2020, 7.)

Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass Situationsbeschreibungen, die derart konstruiert werden, um die Begründungen von Entscheidungen in problematischen Situationen herauspräparieren zu können, implizit ein ideologisches Menschenbild unterstellen, nämlich das die Konkurrenzgesellschaft prägende Bild. Der homo oeconomicus wählt gemäß rationaler Prüfung die Handlung, die ihm zum Vorteil gereicht, er ist jedoch auch in der Lage, von seinem vernünftigen Eigeninteresse zu abstrahieren. Es handelt sich um Hobbes’ Modell des Menschen. Ein klassisches Beispiel liefert das Dilemma im Rettungsboot: Drei Menschen befinden sich darin, obwohl nur Platz für zwei ist. Entweder wird einer geopfert oder alle werden untergehen. Wie entscheiden? Wie begründen? Das Beispiel ist typischerweise so konstruiert, dass der ›Konkurrenzkampf‹ ums Überleben nicht in Frage gestellt werden kann, sondern wie eine Naturgegebenheit erscheint. Dem Glück der größten Zahl ist das Glück der Einzelnen dann gegebenenfalls zu opfern. In »ausgeklügelten Problemfällen der Art, ob man eine Weiche umstellen dürfe, damit eine führerlose Straßenbahn nicht fünf, sondern nur einen Menschen [71]überfahren wird«, bemerkt der Philosoph Hans-Ernst Schiller, betreiben derartige utilitaristische Gedankenspiele »die Aufweichung des Grundsatzes einer Ethik, die über der des Interessenausgleichs steht, der Ethik der Würde oder des Menschen als Zwecks an sich« (Schiller 2011, 14 f.). Ähnliches gilt für das Dilemma, in dem ein entführtes Passagierflugzeug von der Ordnungsmacht abgeschossen werden müsste, damit die Entführer es nicht als bemanntes Geschoss in ein Atomkraftwerk oder ein vollbesetztes Fußballstadion steuern. »Wer nach Regeln für solche Fälle sucht, ist schon dabei, sie zu normalisieren« (15), kommentiert Schiller treffend. – Virulent wird in Pandemiezeiten die Frage nach Triage bzw. der Aufteilung von begrenzten, lebensrettenden Gütern auf zu viele Bedürftige: Wer soll das Beatmungsgerät bekommen?

Doch lassen wir die notwendige (Ideologie-)Kritik an dieser Art der Beispielbildung noch einen Augenblick außen vor. – Nehmen wir an, die Autofahrerin aus dem Ausgangsbeispiel findet kein Netz für ihr Mobiltelefon, verfügt aber über Ortskenntnis und einen Kleinwagen, der die Möglichkeit bietet, zwei Verletzte zu transportieren. Sie weiß, dass sich im nächsten Ort ein Krankenhaus mit Notaufnahme befindet. Dorthin könnte sie zwei Verletzte mitnehmen. Wen wird sie auswählen? Frauen und Kinder zuerst? Oder vielleicht die Dogge? Es kommt an dieser Stelle nur auf die triviale Feststellung an, dass die Überlegungen der hilfsbereiten Autofahrerin in so einem (unwahrscheinlichen) Fall (höchstwahrscheinlich) von Gesichtspunkten verschiedenster Art geleitet werden, die aber alle mit Erkenntnisakten zu tun haben. Wie schwer sind die Verletzungen? Nach welchen Kriterien würde die Autofahrerin [72]entscheiden, wer dringender sofortiger Hilfe bedarf als andere? Von welchen Annahmen wird sie sich leiten lassen?

Man darf annehmen, dass dabei neben affektiven oder emotionalen Gesichtspunkten auch Gesichtspunkte kognitiver Art im Spiel sind. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich jemand in einer derartigen Situation tatsächlich von kognitiven Überlegungen leiten lässt, anstatt nur emotional zu reagieren bzw. allgemeinen Konventionen oder persönlichen Neigungen und Idiosynkrasien zu folgen, ist nebensächlich. Es kommt darauf an, dass Handlungsentscheidungen, die von moralischer Relevanz sind, stets bis zu einem gewissen Grad kognitive Grundlagen haben. Hiermit ist nicht nur die Einschätzung empirischer Einzelfälle gemeint (zum Beispiel in Bezug auf die Schwere der Verletzungen), sondern die Art des moralischen Urteilens. Angefangen bei der Entscheidung ›Anhalten oder Weiterfahren‹, über den Entschluss zum Handeln und die einzelnen Handlungsentscheidungen bis hin zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden der Würde verschiedenartiger Lebewesen: Das sind alles Erkenntnisakte.

Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen einer Common-Sense-Überlegung und kognitiven bzw. rationalen Überlegungen. Erstere kommen ohne Verstandesargumente und Vernunftschlüsse zu Entscheidungen, die mit Hilfe von Erfahrungswissen und intuitiven Vorstellungen von der Lebensrelevanz der Handlungsmöglichkeiten operieren. Kognitiv-rationale Abwägungen sind anderer Art: Sie zielen auf die Frage, was getan werden sollte, also auf normative Universalisierung als Moralkriterium.

Ungeachtet der Künstlichkeit, Trivialität und Ideologieanfälligkeit des Beispiels geht es hier um die Illustration des [73]allgemeinen Satzes, dass wir uns in Konfliktfällen mit moralischer Bedeutung gemeinhin an Kriterien orientieren, die mit unseren Vorstellungen von Menschenwürde zu tun haben, aber auch mit Wertpräferenzen. Beides bestimmt unser Handeln in der Regel als eine komplexe Mischung aus heteronomen Sozialisationsfolgen und autonomen Überlegungen. Die neuere psychologisch-kognitive Moralforschung hat herausgefunden, dass diese komplexe Mischung ontogenetisch (beim Einzelnen) in gewisser Weise wiederholt, was sich phylogenetisch (stammes- oder besser: kulturgeschichtlich) als moralphilosophische Überlieferung durchgesetzt hat.

Berühmt ist das Dilemma, das der Moralpsychologe Lawrence Kohlberg bei seinen Untersuchungen, nach welchen Gesetzen sich die moralische Urteilsweise beim einzelnen Menschen entwickelt, in den 1970er Jahren heranwachsenden Proband*innen vorlegte: Heinz’ Frau ist todkrank. Das einzige Medikament, das ihr helfen könnte, ist unbezahlbar. Der Apotheker ist nicht bereit, es Heinz umsonst oder für wenig Geld zu überlassen. Was wird Heinz tun? In die Apotheke einbrechen, um das Medikament zu stehlen? Oder sich dem Schicksal fügen und seine Frau sterben lassen? Wird er das Gesetz brechen oder das Gebot der Hilfeleistung missachten?

Unabhängig davon, wie sich Heinz entscheiden wird: Sofern er nicht einfach impulsiv handelt (dann würde er sich nicht in einem Dilemma befinden, zumindest nicht bewusst), wird er rationale Überlegungen anstellen müssen. Er wird abwägen, Prinzipien gegeneinanderstellen. Was hat den Vorrang: Ein allgemeingültiges Gesetz? Die Nähe zu einem Familienmitglied? Eine verallgemeinerbare Norm, [74]die Menschenleben als höheren Wert über Gesetzestreue stellt, oder das Leid von unvertretbaren Einzelnen?

Hier zeigt sich wirklich ein Dilemma. Der Ausdruck wird in der Alltagssprache gern dann verwendet, wenn es um schwierige Entscheidungen geht. Doch im philosophischen Sinn befindet man sich nur dann in einem Dilemma, wenn man sich zwischen zwei konträren, einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden muss, deren Folgen man beide Male nicht wollen kann.

Kohlberg interessierte sich für die Überlegungen, die seine jugendlichen Proband*innen anstellten, um ihre Handlungsempfehlungen für Heinz zu begründen (bzw. um die erwartete Handlungsweise von Heinz aus ihrer Sicht zu bewerten). Er stellte fest: Es gibt eine Abfolge bestimmter Urteilsweisen, die nicht strikt an Altersstufen gebunden sind, aber in ihrem Erscheinen beim Individuum unumkehrbar sind. Sein Lehrer Jean Piaget hatte herausgefunden, dass sich das kognitive Urteil von Kindern und Heranwachsenden in einer bestimmten Abfolge entwickelt. Diese erlaubt ihnen zum Beispiel in einer frühen Phase nicht, zu begreifen, dass ein Kilo Federn genauso schwer ist wie ein Kilo Blei. Haben sie die Stufe erreicht, auf der sie Allgemeinbegriffe wie Gewicht und Volumen (oder z. B. allgemeine Maßeinheiten) erkennen können, operieren sie fortan immer mit diesen. Ähnlich stellte Kohlberg fest: Kleine Kinder gehen zunächst davon aus, dass es eine Art natürlicher Ordnung der Dinge gibt, in der jeder die Konsequenzen seines Handelns zu tragen habe. Auf der folgenden, frühsten Stufe der moralischen Urteilsweise hielten Kinder das für moralisch richtig, was die Erwachsenen anordnen, und dann etwas später das, was der Maximierung [75]von Lust und Wohlsein aller Beteiligten dient. Später ist das, was Heranwachsende für gerechtfertigt halten, an diejenigen Rollenvorstellungen und bestehenden Normensysteme gebunden, in die sie sozialisiert werden. Auf der dritten Stufe in Kohlbergs Skala sind das die Handlungserwartungen konkreter Personen aus der Bezugsgruppe, während sich Heranwachsende auf der vierten Stufe an jenen überlieferten Normensystemen orientieren, die sie kennen. Schließlich gehen sie laut Kohlberg zu einer moralischen Urteilsweise über, die sich an verallgemeinerbaren Moralprinzipien orientiert: Auf Stufe fünf hält man jene Handlungsweisen für gerecht, die vorteilhafte Resultate für die meisten Beteiligten erwarten lassen, während irgendwann einmal (Stufe sechs) die moralische Argumentation nur noch das als normativ richtig anerkennt, was mit einer universalistischen Pflichtethik in Einklang steht.

Kohlberg gliederte diese sechs Stufen der Entwicklung des moralischen Urteils in drei Ebenen. Die erste bezeichnete er als präkonventionelle, die zweite als konventionelle und die dritte als postkonventionelle Ebene (Kohlberg 1987). Er erkannte hier die Struktur der Entwicklung moralphilosophischer Reflexion im Abendland wieder, die zu Gesinnungs- und Prinzipienethiken vom Typus der Moralphilosophie Kants geführt hatte. Dort gelten nicht mehr traditionale Üblichkeiten einer Gemeinschaft, auch nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern universalistische normative Prinzipien.

An dieser Stelle zeigt sich freilich die Grenze der Parallele zwischen onto- und phylogenetischer Moralentwicklung, denn der Utilitarismus wurde ja als soziopolitische Moraltheorie paradigmatisch erst nach Kant formuliert. [76]Allerdings kann man zugunsten der Parallelitätshypothese anführen, dass es individual-utilitaristische ethische Argumentationen auch früher gegeben hat; man denke nur an Platons Gorgias, wo Argumente gewechselt werden, um zu zeigen, dass es moralisch nicht gerechtfertigt ist, wenn sich der Stärkere kurzerhand nimmt, wessen er begehrt.

Dass sich die kulturell geprägten Hintergründe individuellen Handelns in Grenzsituationen katastrophisch oder tragisch auswirken können, zeigen nicht die Beispiele aus ethischen Lehrbüchern, sondern vor allem historische Erfahrungen, etwa solche, von denen Jorge Semprún in seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Buchenwald berichtet (Semprún 2002). In Buchenwald war der organisierte politische Widerstand mitunter in der Lage, Gefangene vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen. Das geschah, indem die zur Deportation Selegierten heimlich gegen andere, todgeweihte Gefangene ausgetauscht wurden. Über Leben und Tod entschied, wie man zur KP stand. Die Struktur der nationalsozialistischen Lagerherrschaft zwang den im Widerstand organisierten Gefangenen tragische Handlungsalternativen auf. Deren Folgen kann man im Nachhinein als Heldentaten feiern, mit Parteidisziplin rationalisieren oder verurteilen. Dass jüdische, »unpolitische« Gefangene nicht gerettet wurden, damit politisch organisierte am Leben erhalten werden konnten, ist indessen historisches Faktum. Es darf ebenso wenig den Widerstandskämpfer*innen zur Last gelegt werden, wie es Gegenstand der Verklärung sein darf.

Zu Ehren der ermordeten Gefangenen des kommunistischen Widerstands wurde der Satz »Aus Eurem Opfertod wächst unsere sozialistische Tat« ins Weimarer [77]Thälmann-Monument gemeißelt, das auf dem heutigen »Buchenwaldplatz« steht. Der Ansatz, das System der Konzentrationslager als Vorstufe zum realen Sozialismus zu betrachten, war ein so verständlicher wie vergeblicher Versuch, einen geschichtlichen Sinn zu konstruieren, wo von einem solchen nur schwerlich noch die Rede sein kann. Hier begegnet man einer gewissermaßen spiegelverkehrten, historisch belehrten Variante jener rationalistischen Dilemmata, die belegen sollen, dass Menschen im Prinzip homini oeconomici sind, die in Ausnahmesituationen ihren persönlichen Vorteil hintanstellen können, was in der wirtschaftsliberalistischen Anthropologie wiederum als vorteilsorientiertes Handeln auf Umwegen (sei es zu den eigenen Gunsten, sei es zugunsten der Gattung) gedeutet werden kann. Die spiegelverkehrte Variante idealisiert nicht den nüchternen Akteur des aufgeklärten Eigeninteresses, sondern den Helden der mutigen Tat und des Opfers zugunsten des ›großen Ganzen‹.

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