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2.2 Kontroverse Werte

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Werte sind Gegenstand von Kontroversen. Für viele Menschen schien nach dem 11. September 2001 deutlich geworden zu sein, dass nicht nur Frieden einen Wert darstellt, sondern ebenso Freiheit und die Kraft, sich gegen Angreifer zu verteidigen, die bereit sind, Menschenleben einzeln und in Massen für ihre Werte zu opfern. Die Bundesrepublik befindet sich seit 2015 laut offizieller Sprachregelung in einem »Kampf« gegen den IS und sein Kalifat. »Deutsche Soldaten sind auch künftig im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat im Einsatz. Der Auftrag der Bundeswehr wird ausgeweitet«, teilte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung im November 2016 mit (Bundesregierung 2016). Die religiös-faschistischen Herrscherfiguren des IS wollen durch kriegerische Aktivität nach außen ihren Herrschaftsbereich im Innern absichern. Der Kampf [34]dagegen wird »von einer breiten internationalen Koalition getragen, der Deutschland seit Anfang 2015 angehört« (ebd.), so die Internetseite der Bundesregierung. Dass Deutschland seit seinem Eintritt in den »Kampf«, den man auch als Krieg bezeichnen kann, Zielscheibe derjenigen Kampfmittel ist, welche die asymmetrischen Kriege der Gegenwart kennzeichnen, ist insofern folgerichtig. Niemand hört es gern, wenn etwa die Opfer des Terroranschlags am Breitscheidplatz in Berlin im Dezember 2016 als Opfer eines weltweiten Krieges der nordatlantischen Wertegemeinschaft verbucht werden, doch spricht einiges für diese These.

In der weltweiten Krise, die 2020 von der SARS-CoV-2-Pandemie ausgelöst wurde, diskutierte man in Deutschland heftig über ethische Grundlagen politischer Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens. Zur Debatte stand die Legitimität repressiver Zwangsmittel im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats. Dabei ist es nicht zu Unrecht als »moralische[r] Zwiespalt« (Kornelius 2020) bezeichnet worden, dass sich die Ordnungsmacht über das individuelle Recht auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit hinwegsetzt, um das Leben von Menschen zu schützen, das unter bestimmten Umständen durch eine Infektionsgefahr bedroht ist. Versammlungsverbote, Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren sind klassische ordnungspolitische Instrumente zur Kontrolle einer potentiell sich widersetzenden Öffentlichkeit. Sie dürfen nicht nur mit Hinweis auf einen politischen ›Ausnahmezustand‹ (Bedrohung von außen, von innen oder durch eine Naturkatastrophe) gerechtfertigt werden, sondern müssen sich gemäß moralischen Kriterien als angemessen zum Schutz bedrohter Minderheiten ausweisen lassen. Die [35]entsprechende Argumentation hatte in diesem Falle eine medizinische Seite, denn die Maßnahmen wurden ergriffen, um festzustellen, ob sie sich überhaupt als kurz- und mittelfristig effektiv erweisen würden. Und es hatte eine ethische Seite: Politik ist auf moralische Rechtfertigung angewiesen.

Was sind ethische Werte? Welcher Einsatz für sie darf als angemessen gelten? Wie gesagt: Gegenwärtig dominieren nicht mehr ontologische, sondern handlungstheoretische Bestimmungen. Vieles spricht dafür, Werte als relativ auf Bedürfnisse bezogen zu verstehen. Der Philosoph Wolfgang Schlüter hat das mit den Begriffen einer materialistischen Anthropologie erklärt. Werte resultieren demzufolge aus psychischen Reaktionen auf Triebbefriedigungsaufschub:

Körperliche, seelische und geistige Bedürfnisse verlangen nach unmittelbarer Befriedigung; ist diese versagt, so wird aus dem Bedürfnis ein Wert: Ich begreife die Versagung, die Befriedigung des Bedürfnisses wird mir wertvoll, und ich denke über Wege nach, diesen Wert zu realisieren, da sich seine Realisierung offensichtlich nicht einfach aus den naheliegenden Möglichkeiten ergibt. Der dafür notwendige Vernunftgebrauch muß erheblich gesteigert werden, wenn verschiedene Bedürfnisse miteinander konkurrieren, die nicht unmittelbar befriedigt werden können: Es muß eine Wertehierarchie aufgebaut werden. (Schlüter 1995, 177.)

Diese Erklärung der hierarchischen Anordnung unserer Bewertungen ist plausibler als Schelers Vorstellung von einem an sich seienden, hierarchischen Wertekosmos.

[36]Von diesem bedürfnis- und handlungstheoretischen Begriff des Wertes her kann nun auch der Begriff der Norm näher erläutert werden. In der Alltagssprache ist die Rede von Normen mehrdeutig. Damit können empirische, d. h. aus dem Erfahrungswissen abgeleitete Durchschnittsqualitäten gemeint sein, die unter Umständen willkürlich per Dekret gesetzt worden sind (beispielsweise die Normen des Deutschen Instituts für Normung DIN oder der Rahmen, der für die Abmessungen eines Fußballfeldes vorgegeben ist). Es können aber auch kontrafaktische Regeln und Maßstäbe gemeint sein (also solche, die dem tatsächlich Gegebenen entgegenstehen). Nur auf Letztere bezieht sich der philosophische Begriff der Norm oder des Normativen. Philosophisch gesprochen, sind Normen verbindliche Sollensforderungen. Ihre Gültigkeit kann sowohl als relativ auf bestimmte Handlungsziele ausgerichtet als auch im Sinne einer absoluten Gültigkeit aufgefasst werden, d. h. einer Gültigkeit, die in sich selbst legitim ist und nicht der Ableitung aus je bestimmten Zwecken des Handelns bedarf. Letzteres kennzeichnet idealistisch begründete Ethiken, während materialistische Theorien die Geltung von Normen relativ zu den Zielen des Handelns verstehen.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal die bedürfnistheoretische Moralanthropologie von Schlüter angeführt, der seinen Ansatz mit der, auf Arnold Gehlens zurückgehenden, sozialanthropologischen Entlastungstheorie kombiniert:

Habe ich […] hinreichend Erfahrung mit der Realisierungsmöglichkeit eines Wertes und mit der erprobten Abstufung der konkurrierenden Werte, so entlaste ich [37]mich unter dem stetigen Ansturm neuer Bedürfnisse und neuer Situationen, indem ich die gefundenen und erprobten Wege der Wertrealisierung und -abstufung normiere. Die Norm ist eine festgelegte Form der Wertrealisierung, die den Vernunftgebrauch entlastet. Eine so zustandegekommene Norm kann dann ihrerseits die Entstehung neuer Bedürfnisse verursachen, aber auch in ein Spannungsverhältnis treten zu einer inzwischen veränderten Bedürfnislage, weil diese naturgemäß zu einer neuen Wertehierarchisierung drängt, der Zweck der Norm aber darin besteht, gleichsam endlich mal Ruhe und Klarheit an der Bedürfnisfront zu schaffen. (Schlüter 1995, 177 f.)

Normen können demnach als sozial kodierte und sanktionierte Methoden definiert werden, mit denen man versucht, Werte zu verwirklichen.

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