Читать книгу Doppelspitze - Gerhard Weis - Страница 12
Ellmau, Teil zwei
ОглавлениеAm folgenden Morgen schoss Heiner bei der Wahl seiner Wanderklamotten den Vogel ab. Als wären eine orange Kniehose, ein violettes T-Shirt und eine blutrote Kappe noch nicht schrill genug gewesen, krönte er seinen Auftritt mit karierten Kniestrümpfen zu einem Paar hellgrüner Adidas-Turnschuhe. Man konnte meinen, ein britannischer Schmetterlingsfänger mache einen auf Haute Couture. Ob die Stiere auf den Weiden eine derart farbenprächtige Garderobe tolerieren würden? Die sonstigen – ebenfalls Richtung Hartkaiser unterwegs befindlichen – Wanderer nahmen jedenfalls keinen Anstoß. Das Gegenteil war der Fall. Unser polychrom gekleideter Blickfang erntete ausschließlich Lob, als ich die ein oder andere Meinung einholte. Die Jury war sich einig: Heiners Garderobe war ein einziger Augenschmaus. Als Belohnung für ihre bereitwilligen Auskünfte bekamen die Juroren krachende Kostproben verbaler Motivationskunst zu hören:
»AB IN DIE WAND, SAARDÉROS!«
Meine Kameraden waren erleichtert, dass auch ich in ausgezeichneter Verfassung starten konnte. Für die ersten Kilometer bergan packte ich mir einige Gesteinsbrocken als Ballast mit in den Rucksack. Der Sportsmann in mir brauchte an diesem Vormittag unbedingt eine Herausforderung. Das Streckenprofil und drei anderthalb Liter Volvic-Flaschen im Gepäck konnten mir die alleine nicht bieten. »Alter Angeber!« Hoss konnte ein solches Erfordernis nur schwer nachvollziehen. Nassgeschwitzt rasteten wir an der berühmten Rübezahlalm. Dort war die Hölle los. Mit etwas Glück und unserem kontaktfreudigen Wesen fanden wir einen Platz an einer der mit rot-weiß karierten Tischdecken hübsch gemachten Bierzeltgarnituren im Freien. Andere Wanderer und Hobbyradler mussten mit der Wiese Vorlieb nehmen.
»Grüß Gott!«
»Grüß Gott, die Herrschaften!«
»Können wir uns dazusetzen?«
»Aber selbstverständlich, wir rücken zusammen. Kommts Leute, nehmts Platz!«
Unsere Tischnachbarn waren freundliche Menschen und ebenfalls gut drauf. Kein Wunder. Der Ausblick von der Terrasse auf den Wilden Kaiser war, wie auch der auf manchen weiblichen Gast, atemberaubend. Hier oben gaben sich nicht nur sportive Zeitgenossen ein Stelldichein. Auch dem Geschwader Reich & Schön schien die Aussicht zu gefallen. In den Gasträumen hingen zum Beweis dafür dutzendweise Fotografien diverser Stars und Sternchen. Selbst Berühmtheiten wie Fürst Albert von Monaco, Marianne Rappenglück oder Prinz Leopold von Bayern waren hier schon eingekehrt. Der Wittelsbacher sollte im Jahr darauf noch einmal für Gesprächsstoff sorgen. Nicht wegen seiner Vergangenheit als Rennfahrer, wohl aber wegen seines Modelabels »Poldi«. Völlig überraschend hatte Hoss schon nach der ersten Etappe Kohldampf und verdrückte nach einer großen Portion Leberknödelsuppe, die wir uns alle gönnten, noch einen mit Pflaumenmus gefüllten Germknödel. Er meinte, einen »kleinen Nachschlag« jetzt gut vertragen zu können. »Hau rein, Dicker!« Wir gönnten ihm die mit zerlassener Butter übergossene Mast, übten uns aber selbst in Verzicht. Die handballgroßen Hefeteigklöße waren für große Mägen geformt. Außerdem lagen noch weitere Einkehrmöglichkeiten auf unserer Route. Und für den Notfall steckte etwas Proviant in unseren Rucksäcken. Während meine Freunde Bier oder Radler tranken, begnügte ich mich mit Apfelschorle.
»AB IN DIE WAND, SAARDÉROS!« Spätestens als wir weitermarschierten, hatte man uns wahrgenommen.
Die Kühe auf den saftig grünen Weiden ließen sich nicht im Geringsten provozieren. Weder von Heiners Montur, noch von unseren krakeelten Parolen. Vielleicht blieben sie auch nur deshalb friedlich, weil ihnen diese stimmbandgeschädigten Verbalexoten leid taten. Bei unserem nächsten Halt wurden wir für einige Minuten Zeugen der 0:1 Niederlage des Titelverteidigers Frankreich im Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft gegen Senegal. In der Gaststube des Panoramarestaurants Bergkaiser lief tatsächlich ein Fernseher. Während die Schwarzafrikaner im Laufe des Turniers erst im Viertelfinale die Segel strichen, hieß es für die »Grande nation« schon nach der Vorrunde: fini! Die Equipe Trikolore – null Siege, null Tore – war ausgeschieden. Quelle catastrophe!
Hoss war der Meinung, zur Abwechslung mal einen Schoppen hausgemachte Buttermilch bechern zu müssen. So etwas Leckeres gehörte gekostet! Bodo hielt mit einem Hefeweizen dagegen. Der Rest unseres Quintetts bevorzugte ein Haferl Kaffee zum Apfelstrudel mit Vanillesoße. Wie nicht anders zu erwarten, wehte nach der Fußballübertragung ein kräftiger Leibwind. Der strapazierte die Geruchssinne arg. Die ihn begleitenden Geräusche variierten je nach Spannung der Musculi sphincter ani, der Ausstoßgeschwindigkeit und dem Volumen der Gasmenge. Man konnte meinen, Glenn Miller und Max Greger spielten auf, Posaune und Trompete in B gestimmt. Hoss und Bodo beherrschten ihre Instrumente meisterlich. Wir andern gaben lediglich die Begleitmusik ab. In diesen Momenten muss eine Gruppe kommunaler Entscheidungsträger unseren Weg gekreuzt und ein mystischer Duft deren Sinne verzaubert haben. Das wäre eine Erklärung dafür gewesen, weshalb an eben dieser Stelle wenige Jahre später mit »Ellmis Zauberwelt« Feen, Kobolde und Waldgeister am Hartkaiser Einzug hielten.
Einen besonders pittoresken Fleck hätten wir dann beinahe übersehen. Ein verwittertes Holzschild machte uns gerade noch rechtzeitig darauf aufmerksam, dass wir unser nächstes Zwischenziel fast schon passiert hatten. Viel hätte nicht gefehlt, und wir wären vorbeigelaufen. Auf den ersten Blick konnte man nicht annehmen, dass diese schlichte Hütte bewirtet wurde. Die Ranhartalm verfügte über keinen Strom und lag abseits ausgetretener Pfade. Die Ruhe dort war überwältigend. Klaus Ernst, ehemaliger Vorsitzender der Partei Die Linke, wird es nicht anders empfunden haben. Als Porschefahrer war er für einen vergleichsweise aufwendigen Lebensstil bekannt, als er bei einer Einkommensvergleiche in die öffentliche Kritik geriet. Im Sommer 2010 gab er dem ZDF auf der Ranhartalm ein Interview. Man vermutete, dass er auf dieses Schmuckstück der Genügsamkeit zurückgriff, um einen bescheidenen Lebenswandel vorzutäuschen. Hatte er doch seit Jahren in der Nachbarschaft eine zweistöckige Almhütte als Urlaubsdomizil gepachtet.
Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag: die traumhaft schöne Natur, das Fernbleiben der Fraktion Ernst & Lafontaine oder einfach nur die ohrenbetäubende Stille an diesem malerischen Flecken Erde. Ich beging jetzt einen folgenschweren Fehler. Mich im Paradies wähnend, nahm ich mich selbst von der Leine. Mit zwei Flaschen Bier spülte ich meine ursprüngliche Absicht die Kehle runter. Eigentlich wollte ich tagsüber keinen Schluck Alkohol trinken und abends nur in homöopathischen Dosen. Das wäre in Anbetracht meiner jüngsten Erfahrungen auch vernünftig gewesen. Von der Ranhartalm machten wir uns nur ungern wieder auf. Der Abstieg bot uns dann noch einmal die Gelegenheit zur Einkehr. Die nutzten wir weidlich. Meine guten Vorsätze sind spätestens hier ertrunken. Ich fühlte mich großartig und dachte nicht im Traum daran, dass sich der Zauber dieses herrlichen Tages schon bald als trügerisch erweisen sollte.
Am nächsten Morgen kam, was kommen musste. Was sich in meinem Innern rücksichtslos Bahn brach, war von einer äußerst feindseligen Beschaffenheit. Der 1. Juni 2002 wurde für mich zum Alptraum. Die vielen Bierchen, das üppige Abendessen, der enge Tanz mit Bodo zu den Klängen einer heimischen Combo, die anstrengenden Liegestütze auf der vollbesetzten Terrasse eben dieses Lokals, die diversen Cocktails mit einer Gruppe adretter Ellmauerinnen … und, und, und. Mein Übermut wurde hart bestraft. Der Hämorrhoidenpatient Giselher Finger hätte wissen müssen, dass die von seinem Verdauungstrakt abzuarbeitende Mischung hochexplosive Probleme für seinen Canalis analis mit sich bringen würde. Wäre ich doch nur meiner anfangs eingeschlagenen Linie treu geblieben! Dann hätte ich an diesem sonnigen Samstagvormittag womöglich mit meinen Freunden quietschfidel durch die Gegend latschen können. Aber ich wäre nicht Giselher Finger, hätte mein Urteilsvermögen über die Pläsier des Augenblicks obsiegt.
So lag ich nun wie ein Häufchen Elend im Bett, wenn ich mich nicht gerade auf einem noch stilleren Örtchen herumdrückte. Als um 12.30 Uhr im Sapporo Dome das Spiel unserer Nationalelf gegen Saudi-Arabien angepfiffen wurde, litt ich Höllenqualen und wäre von hinten betrachtet als Backentaschenaffe durchgegangen. Bernd Pavian wäre beim Anblick meiner rosigen Schwellung vor Neid erblasst. Erst in der Halbzeitpause war ich in der Lage, mich aufzurappeln und meinen geschundenen Arsch mühsam zu meinen Freunden zu schleppen. Die warteten schon ungeduldig in einer Kneipe mit Großbildschirm auf ihren wie Hiob sanktionierten Trainer. Die Guten hatten extra meinetwegen eine Programmänderung vorgenommen und diesen Treffpunkt mit mir vereinbart. Heiner, Bodo, Hoss und Ronny waren eben nicht nur ziemlich beste Freunde.
»Leck mich am Arsch, siehst du scheiße aus!«
»Danke für das Kompliment, Heiner.«
»Kellner!«
»Komme sofort!« …
»Soooo … bitteschööön … eine große Apfelschorle und ein Paar Wienerle mit Brot. Lass es dir schmecken, Ärmster!«
Ich verschlang in Zeitlupe, was mir der nette Kneipenwirt in Windeseile servierte. Er war informiert, welche Art Patient gleich auftauchen würde. Die Mahlzeit gab mir einigermaßen Kraft. Trotz des 8:0 Kantersiegs, Klose erzielte drei Tore, war mir nicht zum Feiern zumute. Mir zuliebe machten die Saardéros an diesem Nachmittag einen auf Flachlandtiroler. Statt in die Wand, gings nach dem Spiel Richtung Golfplatz. Was Hoss nicht ganz ungelegen kam.
Golf war total en vogue. Auch wenn der typische Golfer eher nicht im Golf zum Golfen fuhr. Außer vielleicht die ein oder andere Weibsperson mit einem GTI oder Cabriolet. Während das Leimener Bobbele zum Roten Baron aufgestiegen war, hatte der Golf- den Tennisschläger bei der Hautevolee abgelöst. Aber nicht nur die Großkopferten, auch Moritz Möchtegern wollte wie die feinen Pinkel fein pinkeln. Die sanitären Einrichtungen einer Golfanlage waren nicht mit denen des Turn- und Sportvereins Hintertupfingen zu vergleichen. Nach dem Geschäft regelten im Clubhaus Lichtschranken die nötigen Prozesse der Hygiene. Da machte sich keiner mehr die Hände an siffigen Armaturen schmutzig. Gleichermaßen dachte auch Gerda Gernegroß. Als Dame von Welt griff sie neuerdings zu Eisen 4, statt wie bislang zum faserverstärkten Kunststoff-Racket. Tennis war nur noch bedingt prestigeträchtig. Wer besonders dick auftragen wollte, hatte seinen Caddy dabei. Ein Butler aus Fleisch und Blut. Kein billiges Mamamobil, welches die Mutti lahmarschig hinter sich herzog. Beim Tennis machte der Einsatz eines Caddys keinen Sinn. Es hätte nichts gebracht, seinem Büttel den Schläger zwischendurch in die Hand zu drücken. Der gelbe Tennisball wurde vom Gegner einfach zu schnell retourniert. Selbst bei einem extrem hohen Lob. Und nur für den Seitenwechsel jemanden zu engagieren, hätte sich kaum rentiert. Für Gerda Gernegroß kam ohnehin höchstens ein Trolley in Frage. Aber in der Regel trug Gerda ihre Ausrüstung tapfer selbst. Auf dem Buckel, wie ein schneidiges Mannsbild. Ich wurde in Ausübung meiner beruflichen Pflichten schon häufiger von der ein oder anderen Golfgranate über die unglaubliche Härte ihres Sports aufgeklärt. Im Vergleich zu deren Strapazen war eine schweißtreibende Spinningstunde, das tonnenweise Stemmen von Gewichten oder ein Halbmarathon bestenfalls ein Aufwärmtraining. Dass die Damen recht hatten, erfuhr ich auf eben diesem Grün. Dort war ich schon nach wenigen Minuten hart am Limit. Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich schon bald Chipper und Putter zeitgleich ins Spiel würde bringen können, hätte ich vielleicht durchgehalten und noch fester auf die Zähne gebissen. So aber war die Belastung zu groß für mich. Mein Allerwertester flehte nach einer Pause. Also marschierten meine Kumpels ohne mich weiter. Ich zog es vor, Richtung Pension zu watscheln.
»Arsch huh, Zäng ussenander, jetz, nit nähxte Woch!« Hoss' scharfe Ansprache half. Er wusste, dass er seinen BAP affinen Zimmerkollegen damit bei der Ehre packte. Drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hatten sich auf dem Kölner Chlodwigplatz etwa einhunderttausend Menschen versammelt, um friedlich mit einem von der Kölner Musikszene initiierten Konzert gegen Rassismus und Neonazis in Deutschland zu demonstrieren. Wolfgang Niedecken schrieb den Text für den von Nick Nikitakis komponierten Titelsong der Veranstaltung. Die hatte sich bei ihrer Wiederauflage an der Deutzer Werft, zwanzig Jahre später, das Thema Soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. »Wenn mir dä Arsch nit huhkrieje, ess et eines Daachs zo spät!«, so das Motto. Was hatte ich mich im August 1992 für das Verhalten meiner Landsleute geschämt. Während eines Italienurlaubs wurde ich an einem öffentlich aufgestellten Fernseher Zeuge des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen. »Wenn mir dä Arsch nit huhkrieje, ess et eines Daachs zo spät!«, pflegte auch ich bei passender Gelegenheit zu betonen.
Auf Hoss' Geheiß kehrten die Lebensgeister zu mir zurück. Mein Arsch war huh und sein Besitzer, ohne an diesem Scheißtag auch nur in der Nähe einer »Wand« gewesen zu sein, übern Berg. Nach unserer Tour am Wilden Kaiser sollte mein hausgemachtes Problem nurmehr ein Problemchen sein. Irgendwann verabschiedete es sich endgültig. Ich konnte von Glück sagen, dass ich nicht das Schicksal süddeutscher oder österreichischer Knechte vergangener Zeiten zu teilen hatte. Bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert bekamen diese armen Teufel unbezahlte Arbeitstage aufgebrummt. Sie mussten die Zeit wieder ausgleichen, die sie während der Maloche für die Erledigung großer Geschäfte benötigten. »Scheißtage« lautete die offizielle Bezeichnung für ihre unfreiwilligen Arbeitseinsätze.
»Auf nach Kitz, Saardéros!« Eine knappe Stunde nach Hoss' Weckruf testete Ronny den Kickdown des Passats. Alle waren erleichtert, dass ich dabei war. Frisch rasiert und nach Davidoff duftend kamen wir am Abend meines persönlichen Day After in Kitzbühel an. Als wir durch die gepflegten Gassen dieses noblen Städtchens schlenderten und nach einem passenden Restaurant Ausschau hielten, kam uns durch das offen stehende Fenster einer Dachgeschoßwohnung ein lange nicht mehr gespielter Song zu Ohren:
… I'm so dizzy my head is spinning, like a whirlpool it never ends …
Zufälle gibts! Erst wenige Minuten zuvor hatte ich, mein Kopf war weder dizzy noch spinning, im Auto von Tommy Roes altem Nummer-eins-Hit gesprochen. Nachdem wir schick gegessen hatten, machten wir uns auf zur Schickeria. Anfang der Neunzigerjahre war ich mit Hagen Blaumann, Spitzname Broker, schon einmal in Kitz gewesen. Für 'nen Appel und 'n Ei. Die BÖRSE-ONLINE war großzügig, wenn jemand einen neuen Abonnenten warb. Broker war ein Kumpel aus meiner Zeit bei der Polente. Er war ein begeisterter Glücksspieler, der Pechsträhnen ohne groß Aufhebens akzeptierte. Mit ihm konnte man Pferde stehlen. Den Zutritt ins Casino hatte man uns wegen unserer Turnschuhe verweigert. Die sollten erst später salonfähig werden. Also wurden wir unsere an der Börse mit Optionsscheinen auf japanische Aktien waghalsig erzockten Schilling in den Kneipen los. Die meisten davon im »Fünferl«. Diese Pinte war angesagt. Im Fünferl musste man gewesen sein, wollte man ernsthaft von sich behaupten, die Kitzbüheler Kneipenszene zu kennen. Folgerichtig lotste ich meine Kameraden dorthin. Unter lauter schicken Menschen stellten wir uns auf der Terrasse an einen frei gewordenen Stehtisch. Heizpilze sorgten für einen angenehmen Aufenthalt.
»Vier Pils und ein Kamillentee bitte!«
Dass die Bestellung meinem vorlauten Mundwerk diesmal im Flüsterton entwich, war verständlich. Kamillentee? So ein exotisches Anliegen hörte man hier bestimmt selten.
»Vier Pils, ein Kamillentee, richtig?«
Die sommersprossige Bedienung vergewisserte sich lautstark, ob sie den schnatzen Gast auch richtig verstanden hatte.
»Ganz genau, vier Pils und ein Kamillentee!« Das mir auf der Zunge liegende: »Gehts noch lauter, du Tussi?«, verschluckte ich. Ein geschniegelter Best Ager im feinen Zwirn drehte sich postwendend zu mir um, das Wohlstandsbäuchlein mit einem Tuchrock Marke Wichtigtuer kaschiert. Der glatzköpfige Krawattenträger meinte belustigt aber treffend:
»Kamillentee? Da hat wohl jemand Probleme mit dem Darm, was?« Der Kerl kannte sich aus. Dem Bleaching und seiner facegelifteten Visage nach zu urteilen, war er bestimmt ein Fachmann in Sachen Brazilian Waxing.
»Ob dieser vorlaute Protz auch im Schritt kahlgeschoren ist?«
»Eher wohl nicht, Bodo!« Ich vermutete gestenreich, dass oberhalb seines Bonsaidings ein Iro stünde. »Ein Irokesenschnitt kommt bei den Rehkitzen bestimmt mordsmäßig an!«
Heiner war, wie ich fand, am kreativsten: »Ich tippe auf einen Freestyle. Etwas in der Art eines ›Furor-Schnurrers‹. Wir sind hier schließlich in der Nähe von Braunau am Inn.«
Unseren Lästermäulern entflohen die abfälligen Sprüche tontechnisch fein justiert: In einer Lautstärke, dass sie von dem Mann mit den spitzen Ohren gehört werden konnten, das restliche Publikum aber – so gut es halt ging – verschont blieb. Der nicht einmal unsympathische Herr Neunmalklug bewies Nehmerqualitäten:
»Bei uns an der Streif trägt man zwar Hahnenkamm, aber Fu-Manchu oder Chin-Puff wär mal was anderes. Originell, danke für die Tipps! Mareike, der Tee geht auf mich!«
Die burschikose Bedienung reagierte mit einem verschmitzten Grinsen. Sie hatte die mit feinem Spott überzogenen Anspielungen ganz gewiss mitbekommen. Im Laufe des lustigen Abends erlaubte ich mir dann noch zwei Pils, zum Finale sogar eine Zigarette. Fräulein Mareike spendierte dem wieder Genesenen die Mentholkippe gern. Entsprechend großzügig fiel ihr Trinkgeld aus.
Mit dem Blick Richtung Streif neigte sich unser Streifzug dem Ende zu. Jahre später hatte dann wohl jemand anderes einen im Tee, als man auf die Idee kam, das legendäre Hahnenkammrennen verkehrt herum anzugehen. Mausefalle, Karussell, Hausbergkante, Traverse – von unten nach oben: Vertical-up! 3312 Längen- und 860 Höhenmeter, im Dunkeln, mit Spikes, Skistöcken und Grubenlampe. In gut einer halben Stunde die glatte Wand hoch, Respekt!