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Donnerklitchen, Teil eins

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Auf einer unserer jährlichen Wandertouren sollte dann etwas Unglaubliches geschehen, Heiner einen noch nie dagewesenen Geistesblitz zünden. Wir waren diesmal nur zu viert unterwegs und gerade beim Kneippen, als sich der denkwürdige Vorfall ereignete. Ronny fehlte, leider! Für alle völlig unerwartet, musste er drei Tage vor unserer Abreise operiert werden. Es war ihm schon länger anzumerken gewesen, dass mit seiner Gesundheit etwas im Argen lag. Aber damit hatte keiner gerechnet: defekte Herzklappen! Wer denkt denn gleich an so etwas? Gott sei Dank hatte Ulla die Lage gecheckt und ihren Mann gegen seinen Willen ins Krankenhaus verfrachtet. Es war höchste Eisenbahn. Ronny hatte Glück, dass der komplizierte Eingriff schon tags darauf in der Uniklinik Homburg von einer Koryphäe ihres Fachs durchgeführt werden konnte. Da wir unser Sorgenkind medizinisch bestens versorgt wussten, zogen wir donnerstags auch ohne es los …

Das Frühstück in unserer Pension war dieses Mal erstaunlich reichhaltig gewesen. Da gab es nichts zu meckern. Hoss' Blicke am Morgen zuvor hatten gewirkt. Sogar ein köstlich schmeckender Apfelkuchen stand auf dem Tisch. Von der Wirtin selbst gebacken, was sie wie nebenbei erwähnte. Der ihren Worten mitschwingende Stolz entging uns nicht. Die Gute bekam ein dickes Lob spendiert, bevor wir mit prall gefüllten Energiespeichern gut gelaunt losliefen.

»AB IN DIE WAND, SAARDÉROS!«

Bereits im Ort durften die Anwohner Stimmproben dessen erleben, was uns im Laufe des Tages noch häufiger als Motivationsinstrument dienen sollte. Noch war unsere Tonlage keineswegs martialisch. Aber temperamentvoll genug, um Dutzende interessierter Blicke auf uns zu lenken. Speziell die fescher Mädels. Solche Naturburschen bekam man auch im Allgäu nicht jeden Tag vor die Optik. Wir absolvierten das Aufwärmprogramm zu unserer diesjährigen Königsetappe: von Wertach nach Jungholz und zurück. Vierundzwanzig Stunden später würden wir nach ein paar schweißtreibenden, aber herrlich entspannenden Tagen wieder nach Hause fahren. Hoss wusste, was ihm gleich bevorstand: eine nicht enden wollende Schinderei.

»AB IN DIE WAND, SAARDÉROS!«

Unser Schlachtruf war jetzt weithin vernehmbar. Wer nicht mit diesem Ritual vertraut war, konnte es mit der Angst zu tun bekommen. Beispielsweise die Tiere im Wald. Einen Haka tanzten wir zwar nicht, aber das Fortissimo unseres Gebrülls war auch so furchteinflößend genug. Zu wilder Plackerei entschlossen, gebärdeten wir uns wie die »All-Blacks« aus Neuseeland vor Beginn eines Rugbymatchs gegen die südafrikanischen »Springbokke«. Mit unserer Parole schrien wir uns vor jeder neuen Steigung Mut zu. Insbesondere Hoss konnte den gut gebrauchen. Das Streckenprofil war anspruchsvoll. Zudem stellte die Sonne ihre immense Kraft nachhaltig unter Beweis. Am strahlend blauen Himmel war nur hie und da mal ein Wölkchen auszumachen. Nachmittags führte uns das Schicksal zu einer traumhaft gelegenen Kneippe. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon reichlich Höhenmeter in den Beinen. Da kam uns die Möglichkeit, unseren geschundenen Füßen etwas Erholung zu verschaffen, gerade recht.

Kneippen vorm Kneipen, das liebten wir. Aus langjähriger Praxis wussten wir, dass sich ein von den Fußsohlen bis zu den Waden beinahe schockgefrorener Unterschenkel beim Wiederauftauen enorm erhitzte. Das machte den durch das spätere Kneipen praktizierten Kühlungsprozess umso sinnvoller. Wir Saardéros waren ständig bemüht, unserem Tun ein Höchstmaß an Sinn beizumessen. Auch wenn dabei hin und wieder die Grenze zum Wahnsinn touchiert wurde. Stumpfsinn war uns ein Gräuel. Als Heiner, von uns auch Hein oder liebevoll Heinerle genannt, noch in einer Mischung aus Stechschritt und Storchenparade durch das eiskalte Wasser stolzierte, saßen Bodo, Hoss und ich bereits mit hochgezogenen Beinen auf einer der Buchenholzbänke und massierten uns die Frostbeulen von den Füßen. In Jungholz hatte der Kämmerer offensichtlich einen tollen Job gemacht. Die Kneippanlage war vom Allerfeinsten und nigelnagelneu. So etwas Edlem waren wir auf unseren Ausflügen noch nie begegnet. Nicht einmal in Ellmau, ein Jahr zuvor. Üblicherweise wateten wir barfuß durch verschlammte Natur, aber nicht durch ein Fünf-Sterne-Becken wie hier. »He, schaut mal, das sieht ja so aus, als wären die Fundamente aus Gummi!« Bodo hatte einen Blick für solche Dinge. Ein kurzes Klopfen mit den Fingerknöcheln bestätigte ihn in seiner Annahme.

»Tatsächlich, die Össis haben die Bänke auf Gummifundamente gestellt. Die sind doch bekloppt. Die Chose hier war mit Sicherheit schweineteuer.«

»Die haben Geld zuviel, Bodo. Trotzdem, Schockabsorber für Ruhebänke? Komisch … warum so ein Aufwand?«

»Ganz einfach, Hoss, die Gegend hier ist erdbebengefährdet!« Schon Augenblicke später sollte sich herausstellen, dass meine flachsige Bemerkung gar nicht so abwegig war.

Belustigt betrachteten wir Heins ultimatives Kneippen-Schauspiel. Stolz wie ein Dressurpferd schritt er mit seinen dürren, krampfadergeschmückten Wadenbeinen Runde auf Runde in variierender Technik durch das ebenso elegante Edelstahlbecken. Als er in den Kranichstil wechselte, schlug aus buchstäblich heiterem Himmel, vielleicht dreißig Meter von uns entfernt, der Blitz in eine Alpenvogelbeere. Aber es folgte kein Donner. Wie auch, bei fehlendem Gewölk? Ein Blitz, aber kein Donner! Komisch, dachte ich, ist der Vogelbeerbaum nicht Thor geweiht? Verblüfft verfolgten wir, wie die entladene Energie in blaugrün pulsierenden Wellen über den Boden raste, um an eben dieser kostspieligen Wandervogeloase eine Vollbremsung hinzulegen. Ganz so, als stünde da ein Stoppschild. Dann begann das Spektakel.

»Donnerlittchen!«, schrie Bodo. Hoss und ich taten es ihm einen Atemzug später gleich. Mit aufgerissenen Mündern, jeder weiteren verbalen Äußerung vorübergehend unfähig, verfolgten wir ein schier unglaubliches Geschehen:

Heiner stand, den rechten Fuß über Wasser, starr, wie in Stein gemeißelt, in einer dunkelgrün fluoreszierenden, blubbernden Brühe, während sich hellgrüner Dampf in Schwaden über die Kneippanlage legte. Seine mit einem Mal schneeweiß gewordene Haut schaute aus wie feinstes Pergament und war überzogen mit Notenschlüsseln. Mein Cousin als fleischgewordene Partitur der Groteske – welch weihevoller Anblick! Die einzelnen Organe, die Blutgefäße, selbst der Füllstand seines Darms, waren deutlich erkennbar. Das konnte man von seinem Dings allerdings nicht behaupten. Dass von dem kaum etwas zu sehen war, wunderte mich. Bis mir klar wurde, dass dessen Erscheinungsbild der zuvor herrschenden Wassertemperatur konsequent Ausdruck verlieh. Zu unser aller Bedauern war mir in der Aufregung meine altvertraute Geistesgegenwärtigkeit abhanden gekommen. Ich Depp vergaß, ein paar Fotos zu schießen. Verflixt und zugenäht! Später hätte ich sonst was dafür gegeben, ein bildhaftes Dokument dieses Schauspiels zu besitzen. Niemand aus unserem Bekanntenkreis wollte uns die Story hinterher abkaufen. Heiners Antlitz hatte etwas feminines, als er seinen entrückt wirkenden Blick auf sein Auditorium richtete und mit einer Stimme von entzückender Anmut das Lied vom »Vugelbeerbaam« sang:

Kenn schinern Baam gibts wie enn Vugelbeerbaam, Vugelbeerbaam, Vugelbeerbaam, es werd aah su lecht net enn schinern Baam gabn, schinern Baam gabn, ei-ja. Ei-ja, ei-ja, enn Vugelbeerbaam, een Vugelbeerbaam, enn Vugelbeerbaam, ei-ja, ei-ja, enn Vugelbeerbaam, enn Vugelbeerbaam, ei-ja.

Jetzt veränderte sich schlagartig seine Mimik. Mit unnatürlich grünen Augen schien er uns hypnotisieren zu wollen, als er in der Tonlage eines Kastrats folgende apodiktische Worte sprach:

Ein Kleid, so weiß wie Schnee,

trägt eure gute Fee.

Man nennt sie Donnerklitchen,

sie warnt euch vor den Flittchen.

Und hat den Auftrag euch zu sagen,

jedwed Gelüst heut nicht zu wagen!

King Arthur selbst, verschneiten Hauptes,

sprach: »Wünscht euch nur gar recht Erlaubtes!«

Denkt mal darüber nach,

was euer König sprach!

Damit nach der nächsten Dingsvergleiche

die Schwellung wieder von euch weiche!

Als Hein sein Gedicht aufgesagt hatte, erlangte er sein gewöhnliches Äußeres sofort wieder. Unterdessen raste die entfesselte Energie dorthin zurück, wo sie herkam: in den Vogelbeerbaum. Der verdorrte auf der Stelle. Ganz so, als wäre Jesus vorbeimarschiert und hätte ihn verflucht. Sein Stamm hatte sich gespalten und ein verkohlter Stumpf – ähnlich einem Dings, nur deutlich ausgeprägter – kam zum Vorschein. Aus der Spitze dieses Prügels entwichen noch einige Rauchkringel, bevor er schlapp machte, zu Boden plumpste und als Aschehäufchen endete. Dann kam Carlos angesaust. Der Labradorrüde des Revierförsters Schweinsteiger beschnupperte die äscherne Hinterlassenschaft ausgiebig, bevor er das rechte Bein hob und seinen Kommentar dazu abgab. Während wir als Zeugen des mirakulösen Geschehens noch verdutzt dreinblickten, war Heiner schon wieder der Alte. Er drehte eine Abschlussrunde im abermals eiskalten Wasser. Ganz so, als wäre nichts passiert. Später sollte sich herausstellen, dass er tatsächlich einen Filmriss hatte. Das war für ihn nichts Ungewöhnliches. Neu war nur, das der sich vorm Kneipen einstellte.

Den Rückweg zu unserer Pension absolvierten wir im Sauseschritt. Obwohl der Höhenwanderweg noch eine saftige Steigung für uns parat hielt, bevor es nur noch bergab ging. Donnerklitchens Ansprache hatte dafür gesorgt, dass wir, mit Ausnahme Heins, mit Adrenalin vollgepumpt waren. Infolgedessen forcierten wir unwillkürlich unser Lauftempo.

Ähnlich erging es Wochen später dem »Tourminator« beim Schlussanstieg nach Luz-Ardiden. Jan, damals austrainiert und staubtrocken, war dem Ami bis auf fünfzehn Sekunden auf die Pelle gerückt. Nach sechs zermürbenden Jahren schien er endlich wieder ein großes Rad zu drehen. Aber der Mann im gelben Leibchen zog, Ulles Atem im Nacken spürend, nun auch die verschlagensten Register seines epochalen Könnens. Lance war auf der letzten Pyrenäen-Etappe der Jubiläums-Tour gestürzt. Die gerechte Strafe für den abscheulichen Versuch, einem wehrlosen Zuschauer mit dem Fahrradlenker den farblich zum Trikot passenden Beutel zu klauen. Als sei dies noch nicht perfide genug gewesen, knallte der Texaner nur Sekunden später seinen ihm verbliebenen (linken) Hoden mit voller Wucht auf den Fahrradrahmen. Die dahintersteckende Absicht blieb dem Kenner der Radsportszene natürlich nicht verborgen. Auch wenn der US-Boy so tat, als wäre er mit dem Fuß aus dem Klickpedal gerutscht. Legales Blutdoping vor den Augen von Millionen Zuschauern! Der Mann mit den strongen Beinen schreckte vor nichts zurück. Wo mir schon beim bloßen Zugucken übel wurde, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Woher denn! Bevor Lance den Turbo zündete und Miguels Rekord egalisierte, meinte er mit einem Blick auf Jan: »Ich bin dann mal weg, Ulle!«

Heiner konnte die Eile zwar nicht verstehen, hielt aber als halbe Portion problemlos Schritt. Wir andern fragten uns unterdessen, ob wir vielleicht halluziniert hätten. Einen Sonnenstich hatten wir jedenfalls nicht abgekriegt. Unsere Köpfe hatten den ganzen Tag über im Schatten der sie zierenden Narrenkappen geweilt.

»Ballawer die Migge, DAAAS glaubt uns keiner! Nicht einmal der Bierbudentester und seine dämlichen Loser-Boys.«

»Mannomann … unglaublich … das gibts doch nicht! Unser Heinerle … zwitschert das Lied vom Vugelbeerbaam … und haut dann die Paarreime raus wie Giselher Finger!«

»Der Schneekönig und das Donnerklitchen … Donnerwetter! Das nimmt uns auch Ronny nicht ab, wetten!?«

»Da hat bestimmt wer seine Finger im Spiel gehabt. Der Krankl Hans … oder der Polster Toni mit einer seiner Thekenschlampen.«

»I wer' narrisch! Tatsächlich, du hast recht, Finger. Das war der Geist von Córdoba. Wir sind ja hier in Österreich.«

»Ihr habt doch einen an der Waffel!«, war das Einzige, was Hein in diesen Minuten zu unserem Gespräch beitrug. Er schien sich an nichts zu erinnern.

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