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Ellmau, Teil eins
ОглавлениеAm Morgen des 30. Mai 2002 ging es mir bestens. Also gab es keinen Grund für mich, meine Freunde an Fronleichnam nicht nach Ellmau zu begleiten. Tags zuvor hatte ich angesichts meines scheußlichen Befindens nicht mehr mit dieser freudigen Wendung gerechnet und Ronny meine Unpässlichkeit am Telefon offenbart.
»Ich fahr morgen nicht mit … bin malade!«
»Wie … fahr nicht mit … bin malade? Was soll das heißen? Was hast du denn?«
»Mir schwillt der Arsch nicht ab … hab mordsmäßig Probleme mit den Hämorrhoiden … muss ständig aufs Klo.«
»Seit wann denn das? Giselher Finger und Hämorrhoiden, das ist ja mal was ganz Neues.«
»Das geht schon geraume Zeit so, Ronny. Wird immer schlimmer statt besser. Glaub mir, ich leide wie ein rumänischer Straßenköter. Der Doktor hat gemeint: ›Wenn wir Pech haben, muss ich Sie operieren, Herr Finger!‹ Aber das kann er sich abschminken, kommt nicht in Frage. Niemand schneidet mir am Hintern rum. Schon gar nicht dieser Rohling. Lieber sterbe ich. Ich bin der Giselher, nicht irgendwer!«
»Das kannst du uns nicht antun, Finger! Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Doch, ist es, nur nicht das mit dem Sterben … aber ansonsten schon. Ich will euch nicht die Tour vermasseln. Nicht mit meinem Arsch, Ronny!«
»Dann schmier halt was drauf!«
»Was meinst du, was ich seit Wochen tue? Tut mir leid, das ist echt kein Spaß. Wie's ausschaut, wird das morgen nix mit mir.«
Gott sei Dank hatte ich mich getäuscht. Vielleicht hatten sie ja nach der schockierenden Neuigkeit auf ihre Art für mich gebetet: Sich auf ein Stubbi getroffen und Wenn et Bedde sich lohne däät krakeelt. Dabei brauchte sich keiner genieren. Oder sie hatten, verwegen statt verlegen, in der Blieskasteler Klosterkapelle eine Kerze für ihren schwer kranken Freund angezündet. Zuzutrauen wäre es ihnen gewesen. Ich selbst bedurfte keiner Rituale, um zu wissen, dass ein Gebet sich immer lohnt. Auch dann, wenn das Leben nicht gerade im Arsch zu sein scheint. Dazu brauchte ich weder BAP noch Kerzenlicht.
Wir brachen zeitig auf. Die fünfhundert Autobahnkilometer Richtung Kufstein konnten sich ziehen. Es war klar, dass an diesem verlängerten Wochenende noch jede Menge weiterer Luftverpester die Alpen ansteuerten. Da Hoss partout nicht in Ronnys roten Z1 passen wollte, war unser Jüngster gezwungen, mit dem hausbackenen VW Passat seines alles andere als hausbackenen Eheweibs Ulla für einen einigermaßen bequemen Transfer nach Tirol zu sorgen. Das protzige BMW-Cabriolet blieb in der Garage. Wenn die mit Petticoat, Stöckelschuhen, Kopftuch und Sonnenbrille aufgebrezelte Ulla Regen ihre Beinchen beim Ein- oder Aussteigen kokett über die türschluckenden Seitenschweller schwang, genoss sie die Blicke auf ihre wohlgeformten Fesseln. Bei dem ein oder anderen dieser selbstbewussten Manöver war angeblich sogar die Farbe ihres Schlüpfers auszumachen gewesen. Diesbezüglich traute ich den Behauptungen meiner Kumpels allerdings nicht über den Weg!
Normalerweise wäre eine Wandertour an Tagen wie diesen, dem vierwöchigen Hochamt des Fußballs, undenkbar gewesen. Aber heuer würden wir ja nichts Wesentliches verpassen. Das Eröffnungsspiel tags darauf und ein, zwei unbedeutende Partien der Vorrunde, mehr nicht. Wie konnte man so bescheuert sein und eine Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea stattfinden lassen? »Der Blatter Sepp ist voll der Depp – Paarreim, Männer!« Heiner formulierte es vornehmer: »Ein solches Turnier gehört nach Europa oder Südamerika. In ein Land, wo der Fußball Teil seiner Kultur ist und sich die Massen auch wirklich für ihn begeistern.« Die Erinnerung an die fehlende Atmosphäre in den USA acht Jahre zuvor war noch frisch. Schlimmer gehts nimmer, dachten wir. Selbst meine Phantasie war nicht blumig genug, dass ich mir ernsthaft vorstellen konnte, die FIFA vergäbe eine WM nach Katar. Mannomann, was sollte man dazu noch sagen?
Nach einer erstaunlich geruhsamen Fahrt aßen wir auf der Terrasse der Klosterbräustuben in Oberelchingen zu Mittag. Auf unseren inneren Autopiloten war Verlass. Vor fast zweihundert Jahren war ein berühmter Landsmann von uns – »le brave des braves« (der Tapferste der Tapferen), wie Napoleon Marschall Ney einst bezeichnete – in diesen Gefilden gegen die Streitkräfte des österreichischen Feldmarschallleutnants Graf Riesch in die Schlacht gezogen. Michel Ney, ein Saarländer wie wir und Ricky, mein Schalke 04-verrückter Schwager. Nur dass wir keine Soldaten, Herzöge von Elchingen, Fürsten von der Moskwa oder Söhne armer Böttcher waren und auch nicht in der Bierstraße in Saarlouis zur Welt gekommen sind. Aber immerhin, das ein oder andere Bierchen pitschten auch wir. Ricky wurde sogar ganz in der Nähe von Saarlouis geboren und hatte, wie der zum »duc d'Elchingen« ernannte Gefolgsmann Bonapartes, seine Ausbildung in der Dillinger Hütte absolviert. Mehr noch: Ricky war, wollte man den Recherchen eines heimischen Ahnenforschers Glauben schenken, über ein paar Ecken mit Michel verwandt.
Das naturtrübe Kellerbier im Angebot der Schänke diente uns zum Ausbringen des ersten Trinkspruchs unserer diesjährigen Tour.
»Prost, Saardéros!«
»Prost, auf Rick und den duc! Paarreim, Männer!«
»Und auf Giselher, nicht irgendwer! Paarreim, Finger! Möge dir dein Arsch wohlgesonnen sein!«
»Danke, Hoss!«
»Liberté, égalité, fraternité!«
»Jawohl, Heiner, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Und wenn man bedenkt, das wir sogar den doofsten Kratzbürsten tolerant und geflissentlich humanitär begegnen, gingen wir glatt als Freimaurer durch. Ich meine: Auch wenn der Vatikan die Zugehörigkeit zu dieser edlen Handwerkskunst als unvereinbar mit der katholischen Lehre betrachtet, ist solcherlei menschliches Gebaren ethisch ohne Fehl und Tadel. Meint ihr nicht auch, Saardéros?«
Mein großes Maul funktionierte noch. Für meine Sprüche erntete ich Beifall. Obwohl vermutlich keiner meiner begeistert applaudierenden Freunde verstand, was ich da wieder mal laberte. Egal, Hauptsache mein verlängerter Rücken wurde an dieser historischen Stätte zum Nebenkriegsschauplatz erklärt – trotz meiner unterwegs immer wieder geäußerten Bedenken. Nachdem ich meinen erstaunten Freunden (»Wo haste denn das alles wieder her, Finger?«) abschließend erklärt hatte, dass man den duc in der dreizehnten Spalte des Arc de Triomphe, direkt neben dem schottischstämmigen Étienne Jacques Joseph Alexandre MacDonald, 1. Herzog von Tarent, verewigt hatte, fuhren wir weiter auf der BAB 8 Richtung München. Fürs Erste war der Geschichtsunterricht beendet.
Unterwegs entschieden wir uns, dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau einen Besuch abzustatten. Statt, wie für das deutsche Durchschnittsweib typisch, konzeptlos in den auf unserer Route gemeldeten Stau zu brausen, nutzten wir die Zeit sinnvoll und nahmen zum zweiten Mal an diesem Tag historisch erhellende Nachhilfestunden. Dass wir auf Männertour waren, bedeutete entgegen landläufiger Annahme keineswegs, dass wir uns ausschließlich dem Frohsinn hingaben und die bedeutsamen Dinge des Lebens links liegen ließen. Für Typen wie uns traf das Gegenteil zu. Wir waren auf unseren Streifzügen für derartige Abstecher immer zu begeistern.
»Geboren in Braunau – eingebürgert in Braunschweig – Braunhemd – braunes Haus – Eva Braun – braun, braun, braun … überall nur braun. Scheiße ist auch braun, meistens jedenfalls, manchmal aber auch braunrot!«
Ich brauchte kein Gewehr um loszuballern. Wenn der Anlass passte, entwichen, einmal die Automatik entsichert, meiner großen Klappe mitunter großkalibrige Wortsalven. Die konnten einen schwer verletzen. »Braucht der Typ da eigentlich 'nen Waffenschein für seine Gosche?« Diese Frage hatte mal einer gestellt, der Ohrenzeuge meines verbalen Geballeres wurde. Ich muss zugeben, dass es oft nicht einfach war, hinter derartigen Schimpfkanonaden die eigentliche Botschaft zu erkennen.
Dass es ein größenwahnsinniger und brutaler Mensch wie der »Führer«, mag er noch so charismatisch gewesen sein, nach seiner Ernennung zum Reichskanzler fertigbringen durfte, aus einem demokratischen Rechtsstaat in Rekordzeit ein verbrecherisches Unrechtsregime zu formen, um anschließend die ganze Welt ins Unglück zu stürzen, konnte ich meinen Vorfahren nie verzeihen. Schon knapp zwei Monate nach der Machtübernahme hatte die braune Brut damit begonnen, das KZ Dachau zu errichten. Es hielt als Muster für alle späteren Massenvernichtungslager her und stand unter der Herrschaft der SS, Dresscode Hugo Boss. Bis zur Befreiung durch die Amerikaner, zehn Tage vor der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands, wurde jeder Fünfte dieser mehr als zweihunderttausend unglückseligen Menschen aus ganz Europa ermordet.
»Saardéros, anfangs sollten hier nur die politisch Unbequemen inhaftiert und mundtot gemacht werden. Aber spätestens nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze wurden in Dachau eine Menge weiterer Häftlingsgruppen ihrer Menschenwürde beraubt: Homosexuelle, Juden, Sinti und Roma … und, und, und. Selbst Menschen, die lediglich als arbeitsscheu galten, haben diese Dreckskerle nicht verschont. Stellt euch mal vor, was die mit eurem Giselher gemacht hätten! Eine Schuld an den Gräueltaten in der Hitlerzeit kann man uns nicht zuweisen. Wir haben Glück, durch die Gnade der späten Geburt Exkulpierte zu sein. Aber auch die verdammte Pflicht, ein Vergessen nicht zuzulassen! Wie seht ihr das?«
»Genauso, Finger!«
In dieser Frage waren wir uns einig.
Ohne nennenswerte Verkehrsbehinderungen am frühen Abend in Ellmau angelangt, wurden wir bei einem Begrüßungsbierchen Zeuge einer blau-gelben Punktlandung. Ob es tatsächlich Jürgen Möllemann war, der mit einem FDP-farbenen Fallschirm auf einer saftig grünen Wiese gekonnt aufsetzte, ist eher unwahrscheinlich. Die Bemerkungen, die uns dabei im herrlichen Abendrot über die Lippen kamen, waren nicht alle vom Feinsten. Wir hatten ja nicht ahnen können, dass der Kopf von »Projekt 18« ein Jahr später eine finale Bruchlandung hinlegen würde. Den restlichen Abend ließen wir in einer der Gaststätten des Ortes locker ausklingen. Am nächsten Morgen wollten wir fit sein.