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Viertes Kapitel

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So un­ge­fähr bo­ten sich zu­nächst die Schau­plät­ze dar, auf wel­chen ich mich im Voll­ge­nuss mei­nes Le­ben­strie­bes – im ge­sun­den Kin­de ist Freu­de und Le­ben ein und das­sel­be – in dau­ern­dem Wech­sel täg­lich be­weg­te. Sie la­gen auf zwei ver­schie­de­nen Haup­tebe­nen, von de­nen die eine die bür­ger­li­che, die an­de­re zwar nicht die durch­um pro­le­ta­ri­sche, aber je­den­falls die der brei­ten Mas­se des Vol­kes war. Ich kann nicht be­strei­ten, dass ich mich im Bür­ger­be­reich und in der Hut mei­ner El­tern ge­bor­gen fühl­te. Aber nichts­de­sto­we­ni­ger tauch­te ich Tag für Tag, mei­ner Nei­gung über­las­sen, in den Be­reich des Ho­fes, der Stra­ße, des Volks­le­bens. Nach un­ten zu wächst nun ein­mal die Na­tür­lich­keit, nach oben die Künst­lich­keit. Nach un­ten wächst die Ge­mein­sam­keit, von un­ten nach oben die Ein­sam­keit. Die Frei­heit nimmt zu von oben nach un­ten, von un­ten nach oben die Ge­bun­den­heit. Ein ge­sun­des Kind, das von un­ten nach oben wächst, ist zu­nächst we­sen­haft volks­tüm­lich, vor­aus­ge­setzt, dass es nicht durch Ge­ne­ra­tio­nen ver­küns­tel­ten Bür­ger­tums ver­dor­ben ist. Das Kind steht dem bäu­er­li­chen Kin­der­mäd­chen nä­her als sei­ner Mut­ter, wenn die­se eine Sa­lon­da­me ist: und die Mut­ter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kin­de, das sie ge­bar, nichts an­zu­fan­gen. Fuhr­hal­ter Krau­se, der im Hofe die Herr­schaft führ­te, sprach mit sei­nem Soh­ne Gu­stav und mit mir, wie man mit sei­nes­glei­chen spricht. Nie wur­de ihm oder mir von Krau­se klar­ge­macht, dass wir dum­me Jun­gens sei­en und uns als min­der­wer­ti­ge We­sen an­zu­se­hen hät­ten. Auch von Va­ter und Mut­ter er­lit­ten wir kei­ne mo­ra­li­sche Er­nied­ri­gung, au­ßer wo wir mit Recht oder Un­recht ge­schol­ten wur­den. Aber es lag nun ein­mal im Geis­te des obe­ren Be­reichs, dass man sich nicht na­tür­lich be­tra­gen konn­te. Der Un­ter­schied zwi­schen un­ten und oben war so groß, wie der zwi­schen dem sinn­lich-see­len­vol­len Dia­lekt und dem sinn­lich-ar­men, na­he­zu ent­seel­ten Schrift­deutsch ist, das als Hoch­deutsch ge­spro­chen wird. Un­ten im Hof er­zog die Na­tur, oben wur­de man, wie man fühl­te, nach ei­nem be­wuss­ten mensch­li­chen Plan für ir­gend­ei­ne kom­men­de Auf­ga­be zu­ge­rich­tet. Ko­chen, Es­sen, Schla­fen, das al­les ging vor sich in ei­nem ein­zi­gen Zim­mer des Krau­se­be­reichs.

Jeg­li­ches Ding dar­in hat­te sei­ne Auf­ga­be. Oben war eine Zim­mer­flucht, die zum großen Teil nur von Glas­schrän­ken mit Bü­chern und Nip­pes, von Spie­geln, un­be­nutz­ten Kom­mo­den, Ti­schen und Ses­seln und von ei­ni­gen schweig­sa­men Flie­gen be­wohnt wur­de. Die stum­me Spra­che die­ser Din­ge, Uhren, Por­zel­la­ne, Zier­glä­ser, Tep­pi­che, Tisch­de­cken und der­glei­chen, wie­der­hol­te im­mer­zu: Ma­che hier kei­nen Riss, dort kei­nen Fleck, stoß mich nicht an, stoß mich nicht um, und so fort. Un­ten gab es der­glei­chen Rück­sich­ten nicht.

Und oben, nicht un­ten, wohnt auch die Ei­tel­keit. Da sind ihre großen und klei­nen Spie­gel, die über das Un­ten kei­ne Macht ha­ben. Dort prüft der ge­küns­tel­te Mensch und schon das Kind tag­täg­lich sein Aus­se­hen. Bei sol­cher Ge­le­gen­heit hat mich das mei­ne nie be­frie­digt. Auch dem Ge­cken mag üb­ri­gens et­was an­haf­ten von der­glei­chen Un­zu­frie­den­heit, er wür­de sonst im Aus­putz sei­ner Per­son nicht so ru­he­los wech­seln. Der wohl­ge­klei­de­te Mensch wird ge­se­hen. Er ver­gisst nicht, darf nicht ver­ges­sen, dass es so ist. Wenn er aus­geht, ist er sein ei­ge­ner Spie­gel. Der ein­fa­che Mensch sieht nur um sich her.

Wenn der ein­fa­che Mann müde ist, macht er Fei­er­abend, oder er macht eine Ar­beit­s­pau­se, die er sich, wie er kann, ver­süßt. Der ge­sun­de Mann aus dem Vol­ke ist durch und durch we­sent­lich: lee­res Ge­re­de kennt er nicht. Wenn er spricht, wird es Hand und Fuß ha­ben. Das macht zu­nächst der im­mer na­he­lie­gen­de Ge­gen­stand, der sei­ne täg­li­che Ar­beit und de­ren Fehl­schla­gen oder Ge­lin­gen ist. Je­des Wort die­ser Rede ist kraft­voll und voll­gül­tig. Sie ge­stal­tet die Spra­che neu und in je­dem Au­gen­blick, wes­halb schon Mar­tin Luther sagt: »Man muss dem ge­mei­nen Mann aufs Maul schau­en, wenn man wis­sen will, was Spra­che ist.« So­kra­tes sagt un­ge­fähr das­sel­be.

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Das Spei­sen am wohl­ge­deck­ten Ti­sche mei­ner El­tern in Num­mer Drei ver­lor für län­ge­re Zeit sei­nen Reiz, als ich ein­mal bei Krau­ses ge­ges­sen hat­te. Ich saß mit Krau­se, sei­ner Frau, Gu­stav und Ida so­wie ei­nem al­ten Knecht um den ge­scheu­er­ten Tisch. In der Mit­te stand eine große, brau­ne, tie­fe Schüs­sel aus Bunz­lau­er Ton, in die wir, je­der mit sei­ner Ga­bel, hin­ein­lang­ten. Wir grif­fen zu den Zinn­löf­feln, als nur noch Brü­he dar­in vor­han­den war. Mes­ser und Tel­ler gab es nicht.

Es ging bei die­ser schlich­ten Bau­ern­mahl­zeit schweig­sam und ma­nier­lich zu. Dass man mit vol­lem Mun­de nicht spricht, soll­te sich ja von selbst ver­ste­hen. Es kom­men da­bei, selbst in ho­hen und höchs­ten Krei­sen, Spru­de­lei­en und an­de­re un­ap­pe­tit­li­che Din­ge vor. Trotz­dem wir mit aus­ge­streck­tem Arm zu­lan­gen und den Bis­sen durch die Luft füh­ren muss­ten, ehe wir ihn in den Mund steck­ten, wies die Tisch­plat­te am Schluss kei­ne Fle­cken auf. Was Frau Krau­se ge­kocht hat­te, war ein Ge­misch von Klö­ßen und Sau­er­kraut in ei­ner Brü­he aus Schwei­ne­fleisch. Die­ses Ge­richt war de­li­kat. Nie­mals spä­ter ge­noss ich wie­der­um sol­ches Sau­er­kraut. Es wur­de von dem al­ten Knecht und von Krau­se, nach­dem sie be­dacht­sam die Ga­bel dar­in ge­dreht und so die lan­gen, dün­nen Fä­den wie auf einen Wo­cken ge­wi­ckelt hat­ten, aus der Tun­ke her­aus­ge­holt. Dass sie die­sel­be Ga­bel, die sie in den Mund ge­steckt hat­ten, wie­der in die ge­mein­sa­me Schüs­sel tauch­ten, fiel mir nicht auf. Die lang­sa­me Sorg­falt des Vor­gangs ließ den Ge­dan­ken an et­was Unap­pe­tit­li­ches gar nicht auf­kom­men.

Tisch­ge­be­te sprach man bei den Mahl­zei­ten des Fuhr­herrn nicht. Aber die gan­ze Pro­ze­dur die­ser ge­las­se­nen Nah­rungs­auf­nah­me, bei der nie­mand, auch nicht die Kin­der, im Ge­rings­ten Un­ge­duld, Hast oder Gier zeig­te, war fei­er­lich. Sie war bei­na­he selbst ein Ge­bet. Hier wuss­te man, was das täg­li­che Brot be­deu­te­te, und der In­stinkt ent­schied, wel­che Wür­de ihm zu­zu­spre­chen war.

Üb­ri­gens war durch die schwe­re, som­mer­spros­si­ge Hand und den he­ra­kli­schen Arm des Fuhr­herrn der Rhyth­mus die­ses Fa­mi­li­en­mah­les an­ge­zeigt. Nie­mand hat­te sich un­ter­fan­gen und sei­ne Ga­bel oder den Löf­fel, wäh­rend er es ein­mal tat, zwei­mal in die Schüs­sel ge­taucht.

Fuhr­mann Krau­se war eine Art Spe­di­teur. Der Trans­port des Brun­nen­ver­san­des zur Bahn­sta­ti­on lag in sei­ner Hand. Eben­so hol­te er re­gel­mä­ßig mit sei­nem Om­ni­bus von eben­der Bahn­sta­ti­on Frei­burg die an­kom­men­den Frem­den ab und brach­te dort­hin die Abrei­sen­den. Der Om­ni­bus, wenn er nicht un­ter­wegs war, stand in un­serm Hof, wo sei­ne Pols­ter ge­klopft, sei­ne Ach­sen ge­schmiert und das gan­ze Mon­strum mehr­mals die Wo­che von oben bis un­ten ge­putzt und ge­wa­schen wur­de. Das Klir­ren der höl­zer­nen Ei­mer mit den ei­ser­nen Trag­bo­gen, das Lär­men der Pfer­de­knech­te mach­te die Mu­sik dazu.

Ich den­ke da­bei an die Som­mer­zeit, wo ich über­all und nir­gend zu Hau­se war. Die kur­ze Schul­zeit aus­ge­nom­men, trieb ich mich in den Stäl­len zwi­schen den Pfer­den, in der Kut­scher­stu­be, im Hin­ter­gar­ten, viel­fach auch auf den fla­chen, be­moos­ten Dä­chern der Saal­bau­ten her­um.

Fast nie er­füll­te ich das Ge­bot mei­nes Va­ters: ohne Kopf­be­de­ckung nicht aus­zu­ge­hen. Da ich also, un­ge­hor­sam, im­mer mit bloßem Kop­fe her­um­rann­te, ver­mied ich nach Mög­lich­keit, von mei­nem Va­ter ge­se­hen zu wer­den. Auch setz­te er ge­wiss nicht vor­aus, bis zu wel­chem Gra­de ich mich in die Ge­pflo­gen­hei­ten der Stra­ßen­jun­gen ein­le­ben wür­de. Ich fing zum Bei­spiel, mit ih­nen in ei­nem Ru­del ver­eint, den Om­ni­bus, wenn er von der Bahn kam, vor dem Zie­le ab und ver­folg­te ihn, eben­falls mit­ten im Ru­del, gehüllt in eine dich­te Staub­wol­ke. Der Zweck war, den an­lan­gen­den Kur­gäs­ten Hand­ge­päck zu ent­rei­ßen, um es ge­gen Ent­gelt hin­ter ih­nen drein in das Lo­gis zu schlep­pen. Ich habe das nur ein­mal ge­tan, denn die Be­hand­lung, die ich da­bei er­fuhr, die Last, die ich zu tra­gen hat­te, und die Ent­loh­nung durch einen Kup­fer­drei­er, den ich emp­fing, all das war an­ge­tan, mich von die­ser Art Brot­er­werb ab­zu­brin­gen.

Das Abenteuer meiner Jugend

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