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Sechstes Kapitel

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Den Zwang und Ker­ker der Schu­le konn­te man frei­lich nicht aus­schal­ten.

Im Win­ter war der Schul­weg bis auf Prü­ge­lei­en und Schnee­ball­schlach­ten ohne Be­lang. Im Som­mer wur­de er da­durch ge­würzt, dass wir am ge­öff­ne­ten Kur­thea­ter vor­bei muss­ten. Es war ein Holz­bau, äu­ßer­lich eine ver­wit­ter­te Bretter­ba­ra­cke, die mein Groß­va­ter, wie auch Brun­nen- und Eli­sen­hal­le, An­na­turm und an­de­res, durch sei­nen Freund und Ma­ler-Archi­tek­ten Jo­sef Fried­rich Raa­be, der zu Goe­the in en­gen Be­zie­hun­gen stand, hat­te er­rich­ten las­sen. Wenn wir zur Schu­le gin­gen, wa­ren meist Pro­ben, und vor den Ein­gän­gen stan­den die Schau­spie­ler. Was im Thea­ter selbst vor­ge­hen moch­te, blieb uns Kin­dern lan­ge ein Mys­te­ri­um; umso wil­der wu­cher­ten die Gerüch­te. Einst wur­de mir ein Jüng­ling ge­zeigt, der heu­te sein Be­ne­fiz hat­te. Was soll­te das sein: Be­ne­fiz? Et­was Furcht­ba­res si­cher­lich. Ohne es zu ah­nen, ka­men wir der alt­grie­chi­schen Ri­tu­al­büh­ne und den Ge­pflo­gen­hei­ten des rö­mi­schen Ko­los­se­ums in uns­ren Ge­dan­ken sehr nahe, denn uns war der Jüng­ling tod­ge­weiht. Es hieß, er müs­se am Abend zum Schluss des Stückes sich sel­ber er­ste­chen, oder er wer­de hin­ge­rich­tet.

Die­se Sa­che er­schi­en mir selbst­ver­ständ­lich. Von ei­nem flüch­ti­gen Gru­seln ab­ge­se­hen, nahm ich sie hin, als ob man ge­sagt hät­te, mor­gen wer­den uns in der Schu­le Bi­bel­sprü­che ab­ge­hört.

*

Der alte Leh­rer Bren­del, der sei­ne Fin­ger­knie­bel ge­wöhn­lich auf die ers­te Schul­bank stütz­te und dar­um eine di­cke Horn­haut auf ih­nen hat­te, war der fleisch­ge­wor­de­ne Zorn. Zorn war An­fang, Mit­te und Ende sei­nes Un­ter­richts. Er wür­de sich nichts ver­ge­ben ha­ben, wenn er un­ver­se­hens ein­mal ge­lacht hät­te. Als er ge­le­gent­lich mit sei­nem gel­ben Rohr­stock, um einen Schü­ler ab­zu­stra­fen, in die Bank lang­te, er­hielt ich, nicht der Ge­mein­te, den wuch­ti­gen Schlag, wor­auf er denn doch be­tre­te­ne Wor­te stam­mel­te.

Am Schluss der Stun­de sang man: »Nun dan­ket alle Gott mit Her­zen, Mund und Hän­den!« Wir setz­ten still­schwei­gend hin­zu: da­für, dass die Schu­le zu Ende ist. Nie jauchz­te ein tiefer ge­fühl­ter Dank zum Him­mel. Mit dem letz­ten Ton braus­ten wir auf die Stra­ße.

Dass wir in den Kur­gäs­ten und in ih­ren wohl­ge­klei­de­ten, wohl­ge­putz­ten Kin­dern hö­he­re We­sen se­hen muss­ten, war eine Un­ver­meid­lich­keit: ka­men sie doch aus Ham­burg, Bre­men, Ber­lin, Dan­zig, ja aus Sankt Pe­ters­burg oder War­schau, Städ­ten, von de­nen ich we­nig wuss­te, de­ren Na­men je­doch wie Son­nen glänz­ten. Es wa­ren durch­aus nicht nur Lun­gen­kran­ke, die Salz­brunn auf­such­ten, wenn auch der hus­ten­de, kräch­zen­de, Schleim aus­wer­fen­de Schwind­suchts­kan­di­dat zum Bil­de des Ba­des ge­hör­te. Er be­weg­te sich aber in den Wo­gen ei­ner ihn nicht be­ach­ten­den, hei­ter­bun­ten Le­be­welt, die sich auf der Brun­nen­pro­me­na­de und in der do­ri­schen Tem­pel­hal­le täg­lich mehr­mals zu­sam­men­fand. Man übte da­mals noch eine selbst­ver­ständ­li­che Duld­sam­keit. Der Ge­sun­de, der Leicht-, der Schwe­rer­krank­te wur­den über­all und so auch in der Preu­ßi­schen Kro­ne un­be­denk­lich und wahl­los auf­ge­nom­men.

Wie ge­sagt, die Frem­den wa­ren uns Kin­dern Halb­göt­ter. Um ih­ret­wil­len wur­den Ber­ge von Fleisch ver­ar­bei­tet, Fracht­kis­ten mit See­fisch ka­men, die bes­ten Ge­mü­se wur­den für sie ge­putzt, die aus­er­le­sens­ten Früch­te ver­ar­bei­tet. Im In­nern des Brun­nen­ho­fes, ei­nes Lo­gier­hau­ses, das zum Bade ge­hör­te und das mein Va­ter ge­pach­tet hat­te, war ein großes Stein­bas­sin, aus dem man je­der­zeit mit dem Netz le­ben­de Bach­fo­rel­len fi­schen konn­te. Dass des Abends Cham­pa­gner­pfrop­fen im Saa­le knall­ten, war kei­ne Sel­ten­heit.

Al­les dies ward von den Frem­den be­an­sprucht und, was mehr ist, von ih­nen be­zahlt. Sie ka­men und leb­ten aus vol­len Sä­ckeln. So habe ich wohl si­cher­lich den Be­griff von Geld und Gel­des­wert schon um jene Zeit ge­habt und ge­wusst, dass es dar­auf an­kam, mög­lichst viel da­von in den Kas­sen­be­häl­tern des Gast­hofs zu­rück­zu­be­hal­ten.

In Be­zie­hung auf die Kin­der von Kur­gäs­ten kommt mir ein sehr frü­hes Er­leb­nis mit Carl in Erin­ne­rung. Man hat­te im Vor­der­gar­ten einen Baum ge­fällt, der kah­le Stamm lag auf der Erde. Eng an­ein­an­der ge­quetscht wie Sper­lin­ge, hat­ten wir Klei­nen dar­auf Platz ge­nom­men. Vornan, al­ler­dings hin­ter ei­nem weiß­ge­klei­de­ten Mägd­lein mit bun­ten Bän­dern im of­fe­nen Haar, das er aus ir­gend­ei­nem Grun­de von rück­wärts um­armt hal­ten muss­te, saß Carl. Ich kam zu­letzt als der Kleins­te der Klei­nen. Mei­ne Ohn­macht brann­te vor Scham und Ei­fer­sucht, mein Elend aber war dar­um so groß, weil ich mei­ne Ge­füh­le ver­schwei­gen muss­te. Ich er­kann­te deut­lich die Lä­cher­lich­keit, der ich Knirps sonst ver­fal­len wäre.

*

Wir hat­ten an­fäng­lich nicht die glei­che Schul­zeit, Carl und ich, so mach­te je­der den Schul­weg al­lein. Spä­ter, als ich in sei­ne Klas­se auf­stieg, leg­ten wir ihn ge­mein­sam zu­rück. Ich er­klä­re es mir als naiv-sa­dis­ti­schen Zug, dass mein Bru­der mich manch­mal hin­ten beim Kra­gen pack­te, wenn wir die Schu­le ver­las­sen hat­ten, und mich, zu mei­ner Qual, wie einen Ar­re­tier­ten vor sich her nach Hau­se be­för­der­te. Ich ver­mehr­te da­bei mei­ne Lei­den durch nutz­lo­sen Wi­der­stand.

Ei­nes Ta­ges auf dem Nach­hau­se­we­ge wur­de mir Carls Be­tra­gen über­aus wun­der­lich. Aus der Schu­le ge­tre­ten, such­te er so­gleich einen Ru­he­platz, dann einen zwei­ten. Der Post­hof, ein Kas­ta­ni­en­hain, war mit hän­gen­den Ket­ten zwi­schen nied­ri­gen Gra­nit­pfei­lern ein­ge­fasst: Carl such­te auf ei­ner der Ket­ten Ruhe. Dann kam die Stra­ße mit meh­re­ren Prell­stei­nen: er schlepp­te sich von Prell­stein zu Prell­stein fort. So sind wir all­mäh­lich nach Hau­se ge­langt. Eine hal­be Stun­de spä­ter er­fuhr ich, dass mei­nen Bru­der eine schwe­re Krank­heit be­fal­len habe.

Die Mut­ter wein­te und stell­te sich den denk­bar schlimms­ten Aus­gang vor. Der Va­ter war ernst: man müs­se sich auf al­les ge­fasst ma­chen, nur Gott kön­ne wis­sen, ob wir Carl be­hal­ten wür­den oder nicht. Aber den­noch: er hof­fe zu Gott.

Ich er­leb­te nun eine Rei­he sor­gen­vol­ler Tage und auch Näch­te mit, da ich zu­wei­len von mei­ner Schwes­ter Jo­han­na, als gel­te es, von mei­nem Bru­der Ab­schied zu neh­men, ge­weckt wur­de oder auch von den Geräuschen er­wach­te, die, da ei­gent­lich nie­mand im Hau­se schlief, die gan­ze Nacht nicht auf­hör­ten. Mein Va­ter zog au­ßer mei­nem On­kel, Dok­tor Straeh­ler, noch einen äl­te­ren Arzt, Dok­tor Rich­ter, ein orts­be­kann­tes Ori­gi­nal, hin­zu. Wenn mein Bru­der die Krank­heit – es han­del­te sich um eine Lun­gen­ent­zün­dung – dann über­stand, so ret­te­ten ihn, wie mein Va­ter we­nigs­tens an­nahm, sei­ne Ratschlä­ge.

Ta­ge­lang ver­brach­te Carl im Zu­stand der Be­wusst­lo­sig­keit. Bar­bier Krau­se, ein zwei­ter Krau­se, zu­gleich Heil­ge­hil­fe, wie es da­mals üb­lich war, der sei­ne Stu­be in ei­nem klei­nen An­bau schräg­über von der Schenk­stu­be hat­te, setz­te Schröpf­köp­fe und ope­rier­te mit Blut­egeln. Die Kran­ken­stu­be be­trat ich nicht.

Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Mut­ter müs­sen mich von dem, was dort ge­sch­ah, un­ter­rich­tet ha­ben. Der Kran­ke, von schreck­li­chen Fan­tasi­en ge­plagt, sah Rei­hen von Leich­na­men, die un­ter dem Gast­hof zur Kro­ne be­stat­tet wa­ren. Als der bra­ve Bar­bier ihm Schröpf­köp­fe setz­te, rang er sei­ne Hän­de zum Him­mel, und in­dem er sich be­klag­te, in was für Hän­de er ge­fal­len sei, gab er sich selbst die tra­gi­ko­mi­sche Ant­wort: in Bier­hän­de. Es kam die Kri­sis und da­mit der große und be­frei­en­de Au­gen­blick, als plötz­lich das Fie­ber ge­sun­ken war und Dok­tor Rich­ter er­klä­ren konn­te, die Ge­fahr sei nach Men­sche­ner­mes­sen vor­über.

Es ist na­tür­lich, dass mei­ne Mut­ter mich un­ter Freu­den­trä­nen in die Arme schloss. Aber auch mein Va­ter, von dem ich bis da­hin eben­so­we­nig glaub­te, dass er la­chen wie dass er wei­nen kön­ne, nahm sei­ne Bril­le ab und tupf­te sich mit dem Tu­che die Au­gen. Als man den Kran­ken, der mit selt­sa­mer Klar­heit sei­nen ei­ge­nen Zu­stand ver­folgt hat­te, von dem glück­li­chen Um­schwung ver­stän­dig­te, er­griff ihn eine glück­se­li­ge Er­schüt­te­rung. Wir muss­ten alle zu ihm hin­ein­kom­men: »Va­ter, Va­ter, ich bin ge­ret­tet! Ger­hart, denk doch, ich bin ge­ret­tet! Mut­ter, Mut­ter, ich bin ge­ret­tet! Hann­chen, hörst du, ich bin ge­ret­tet!« wie­der­hol­te er, uns die Hän­de, so gut es ge­hen woll­te, ent­ge­gen­stre­ckend, in ei­nem fort. Es hieß so viel: ich darf wie­der bei euch blei­ben.

Bei die­sem An­lass, der mich wohl zum ers­ten Mal in ein andres als mein eig­nes Schick­sal ver­wi­ckel­te, wur­de mir deut­lich, wel­che Fül­le ver­bor­ge­ner Lie­be un­ter dem so gleich­mä­ßig nüch­ter­nen We­sen ei­nes Va­ters, ei­ner Mut­ter be­schlos­sen lie­gen kann. Von die­sen un­sicht­ba­ren Kräf­ten und Ver­bun­den­hei­ten hat­te ich bis da­hin nichts ge­wusst. Fast be­frem­de­ten sie mich, als sie zu­ta­ge tra­ten, da sie schein­bar über mich hin­weg­gin­gen, mei­nem Bru­der und nicht mir gal­ten. Und so wur­de mir nicht ohne eine ge­lin­de Be­stür­zung klar, dass mein Bru­der nicht nur mein Bru­der, son­dern der Sohn mei­ner El­tern war und wie groß der An­teil wer­den konn­te, den ich ihm von ih­rer Lie­be ab­tre­ten muss­te.

Die­ses Er­eig­nis muss in die Zei­ten der Fa­mi­lie­nen­ge ge­fal­len sein, wo dann das lee­re und doch wohl ei­ni­ger­ma­ßen öde Haus den ver­düs­tern­den Rah­men bil­de­te. Fie­ber­fan­tasi­en des Kna­ben fan­den so auch in uns Ge­sun­den ge­eig­nets­ten Bo­den für ihr Fort­wu­chern, so die von den in lan­ger Rei­he un­ter den Fun­da­men­ten des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne ein­ge­sarg­ten To­ten. Noch bis in die Tage der Re­kon­va­les­zenz hin­ein woll­te Carls Glau­be an die­ses Ge­sicht nicht nach­las­sen, so­dass man al­len Erns­tes er­wog, der Sa­che durch Gra­bun­gen nach­zu­ge­hen.

Das Abenteuer meiner Jugend

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