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Achtes Kapitel

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Die Jah­re bis zur Vollen­dung des zehn­ten sind Schöp­fungs­jah­re in je­dem Sinn, und sie ent­hal­ten Schöp­fungs­ta­ge. Das Kind ist in die­ser Span­ne Zeit sein ei­ge­ner geis­ti­ger Schöp­fer und Welt­schöp­fer. So war denn auch ich der De­mi­urg mei­ner selbst und der Welt.

Aber wie ge­sagt, sie­ben Tage ge­nüg­ten mir nicht, denn ich hat­te de­ren bis zum Be­ginn des sie­ben­ten Jah­res be­reits zwei­tau­send­ein­hun­dert­neun­zig nö­tig ge­habt.

Die Son­ne ging auf, und ein neu­er Schöp­fungs­tag mei­ner selbst und der Welt be­gann. Viel­fach ging ich dar­in wie ein Künst­ler vor, der sich durch pro­vi­so­ri­sche Form­ge­bung dem vollen­de­ten Gan­zen an­nä­hert.

*

Die im­mer wie­der­keh­ren­de Mah­nung mei­nes Va­ters so­wie mei­ner Mut­ter lau­te­te: »Ger­hart, träu­me­re nicht!« oder: »Träu­me nicht!« Es be­traf dies na­tür­lich die Zei­ten des Aus­ru­hens, wenn mein Be­we­gungs­drang in der frei­en Luft nicht mehr wei­ter­zu­trei­ben war. In der Tat, ich ver­sann mich bei je­der Ge­le­gen­heit, so­dass man die Fra­ge im­mer wie­der mit Recht an mich rich­ten konn­te: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich ver­sann mich etwa, wenn ich vor der Zeit mei­nes ers­ten Schul­gangs, das Kinn in die Hän­de ge­stützt, am Fens­ter lag und auf den fer­nen Hoch­wald starr­te, den hei­li­gen Berg, hin­ter dem die Welt zu Ende war und von des­sen Spit­ze aus man in den Him­mel stieg. Die­ser Berg und sei­ne Be­stim­mung wa­ren mir im­mer wie­der an­zie­hend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus un­zäh­li­ge­mal in den selbst­ge­schaf­fe­nen Him­mel ge­stie­gen und hat sich mit der Rät­sel­fra­ge der Welt­be­gren­zung ab­ge­müht.

Da­bei er­wog ich die mensch­li­che und mei­ne ei­ge­ne Ein­sam­keit, die ich schon sehr früh er­kannt habe. Die un­be­greif­li­che Grö­ße des Schick­sals er­füll­te mich, so­lan­ge ich ihr nach­hing, mit ei­ner schau­er­vol­len Be­klom­men­heit.

Ich frag­te mich: Wie ret­tet man sich aus der ei­ge­nen Ver­las­sen­heit? Hal­te dich an Va­ter und Mut­ter! – Va­ter und Mut­ter tei­len die­sel­be Ver­las­sen­heit und Ver­lo­ren­heit! – Wen­de dich an Bru­der und Schwes­ter, die Tau­sen­de und Tau­sen­de dei­ner Mit­menschen! Und nun gab ich die Ant­wort mir sel­ber mit ei­nem Bil­de aus mei­ner bild­ge­nähr­ten Trau­mes- und Vor­stel­lungs­welt: die Ge­samt­heit der Men­schen sah ich als Schiff­brü­chi­ge auf ei­ner Eis­schol­le aus­ge­setzt, die von ei­ner Sint­flut um­ge­ben war. Kin­der in den frü­he­s­ten Be­wusst­seins­jah­ren nach der Ge­burt füh­len viel­leicht stär­ker als Er­wach­se­ne das Rät­sel, in das sie ver­setzt wor­den sind, und brin­gen viel­leicht von dort, wo sie kur­ze Zeit vor­her noch ge­we­sen sind, Ah­nun­gen mit.

*

Ich hat­te die Ma­sern. Ich war glück­lich dar­über, denn ich brauch­te ja nicht zur Schu­le zu ge­hen. Es war win­ters, etwa vier Wo­chen vor Weih­nach­ten. Mein Kran­ken­bett über­strahl­te be­reits der kom­men­de Glanz. Aber es gab recht trost­lo­se schlaflo­se Näch­te. In ei­ner habe ich am Zif­fer­blatt der Uhr, die von Va­ters Nacht­licht be­leuch­tet wur­de, eine gan­ze Stun­de lang die Se­kun­den aus ver­zwei­fel­ter Lan­ger­wei­le ab­ge­zählt.

Ein­mal dann ge­gen Mor­gen hat­te ich einen kos­mi­schen Traum. Es wa­ren Grö­ßen­ver­hält­nis­se der al­le­run­ge­heu­ers­ten Art, die mir da­bei an­schau­lich wur­den. Nicht we­ni­ger sah ich als die im Rau­me rol­len­de Welt­ku­gel. Ich sel­ber aber war hoff­nungs­los wie ein schwin­deln­des, tod­ge­weih­tes, mi­ni­ma­les Le­ben dar­an­ge­klebt, je­den Au­gen­blick in Ge­fahr, in un­end­li­che Räu­me ab­zu­stür­zen.

Ich war er­wacht, das Dienst­mäd­chen kam, das Feu­er im Ofen an­zu­ma­chen. Ich glaub­te, es müss­te eben­falls se­hen und ge­se­hen ha­ben, was mir im Wa­chen fast noch wirk­lich vor­schweb­te, und frag­te sie mehr­mals in die­sem Sin­ne. Ich glaub­te, es wer­de mit mir in das glei­che, nicht en­den­wol­len­de Stau­nen aus­bre­chen. Aber die Schleu­ße­rin hat­te nur einen leich­ten Schreck da­von.

Die Son­ne ging auf, sie ging täg­lich auf. Sie brach­te Far­be und Form und er­weck­te das Auge, bei­des zu se­hen. Sie bil­de­te bei­des in mich ein. Im­mer rei­cher und von im­mer grö­ße­rer Viel­falt wur­de auch mei­ne nacht­ge­bo­re­ne Trau­mes­welt. Auch der Wachtraum in sei­ner be­wuss­ten Form malt sich, ent­steht auch wohl auf dem Ur­grund der Nacht. Ma­te­rie und Lee­re of­fen­bar­ten sich mir zu­gleich in ei­ner nie wie­der ge­se­he­nen Furcht­bar­keit.

Es wur­de be­reits ge­sagt, dass ich so­wohl in der bür­ger­li­chen Welt wie in der des da­mals so ge­nann­ten nie­de­ren Vol­kes zu Hau­se war. In die­ser Be­zie­hung glich ich ent­fernt dem Eu­pho­ri­on, da ich mich im­mer wie­der von der einen zur an­de­ren hin­ab- und von je­ner zu die­ser em­por­be­weg­te. In ge­wis­sem Sin­ne ging dies Auf und Ab im­mer hö­her hin­auf, im­mer tiefer hin­un­ter: etwa von der Réu­ni­on im klei­nen Blau­en Saal, wo sich die Eli­te der Ba­de­ge­sell­schaft, Adel, Schön­heit, Reich­tum, Ju­gend, zu­sam­men­fand, ir­gend­ein nam­haf­ter Pia­nist sich hö­ren ließ, von Beetho­ven, Liszt, Cho­pin und an­de­ren großen Künst­lern ge­spro­chen und da­bei Cham­pa­gner, Man­del­milch, Sor­bet und an­de­res ge­trun­ken wur­de, bis zu ei­ner ge­wis­sen Trep­pe Un­term Saal, wo arme Frau­en, Töp­fe im Arm, stun­den­lang an­stan­den bis zur Kü­chen­tür und auf Ab­fäl­le war­te­ten. Und was die Brei­te mei­ner Eu­pho­ri­on­be­we­gung be­trifft und die An­täus­punk­te ih­rer Ab­sprün­ge, so la­gen die­se bald in der vor­de­ren, bald in der hin­te­ren Welt, die durch den Haupt­bau des Gast­hofs ge­trennt wur­den und von de­nen die eine die der glück­lich Ge­nie­ßen­den, die an­de­re die der Ar­beit, der Sor­ge, des Ver­zich­tes, der Verzweif­lung war.

Ohne die Son­nen­sei­te des Da­seins vor der Fassa­de des Hau­ses scheel an­zu­se­hen, rech­ne­te ich mich doch durch­aus zur an­de­ren Par­tei, die ge­wis­ser­ma­ßen im Schat­ten leb­te. Wie­der und wie­der stürz­te ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schat­ten zu­rück­zu­keh­ren.

*

Mei­ne Träu­me­rei­en, wa­chend wie schla­fend, tags wie nachts, moch­ten vom Nie­der­schlag mei­ner Er­fah­run­gen ge­speist wer­den, aber sie gin­gen weit dar­über hin­aus. Jä­gers­ze­nen, Kämp­fe mit Bä­ren, Ge­gen­wär­tig­s­ein bei ster­ben­den und ge­stor­be­nen Men­schen, mei­ne El­tern als Geis­ter wie­der­keh­rend, Flie­gen ohne Flü­gel, wie ich oft im Trau­me tat, das konn­te mit kei­ner mei­ner Er­fah­run­gen ir­gen­det­was zu tun ha­ben.

Wer mir die ers­ten Mär­chen er­zählt hat, weiß ich nicht, ich neh­me an, mei­ne Mut­ter. Ich selbst aber habe sehr früh den Kin­dern des Fuhr­manns Krau­se, Gu­stav und Ida, Mär­chen er­zählt, und zwar in der Stu­be der Krau­se­leu­te, win­ters, zur­zeit der Däm­me­rung. Wir hock­ten auf Fuß­bänk­chen in der »Hel­le«. Das war ein ge­müt­lich be­schie­ne­ner war­mer Win­kel zwi­schen Ofen und Wand.

Ida und Gu­stav wur­den nicht müde, mir zu­zu­hö­ren, selbst wenn ich Er­fin­dun­gen auf Er­fin­dun­gen stun­den­lang ge­häuft hat­te. Ich wur­de von ih­rem Hun­ger nach dem Wun­der­ba­ren ohne Gna­de wei­ter­ge­peitscht, bis mei­ne Geis­tes­kräf­te den Dienst ver­sag­ten, über­mü­det und miss­braucht.

Das Abenteuer meiner Jugend

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