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Vierzehntes Kapitel

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Die Au­gen mei­nes Va­ters blick­ten durch dop­pel­te Bril­lenglä­ser. Sie wa­ren hell­blau. Er nahm au­ßer des Nachts Bril­le und Pin­ce­nez1 nie­mals ab.

Sein Ge­sicht in der Ruhe war ganz Stren­ge und Ernst, tief ein­ge­gra­ben die senk­rech­ten Stirn­fal­ten, bu­schig die Brau­en, üp­pig auf der Ober­lip­pe der den Mund ver­de­cken­de Bart.

Für Kör­per­pfle­ge brauch­te mein Va­ter Tag für Tag lan­ge Zeit. Sei­ne An­zü­ge wa­ren vom bes­ten eng­li­schen Tuch und beim ers­ten Schnei­der in Bres­lau ge­fer­tigt. Eine Samm­lung von Schuh­werk wur­de von ihm selbst ge­rei­nigt und blank ge­putzt, er hät­te sie nie frem­der Hand über­ant­wor­tet.

Den da­mals üb­li­chen Schlaf­rock ver­ach­te­te er. Beim ers­ten Früh­stück be­reits war er bis auf die Bu­sen­na­del ta­del­los an­ge­klei­det.

Je­den Mor­gen rieb er sich selbst mit ei­nem in kal­tes Was­ser ge­tauch­ten, ro­hen und rau­en Lei­nen­tuch, in das er sich da­bei völ­lig ein­wi­ckel­te, von oben bis un­ten ab.

Da­ge­gen war mei­ne Mut­ter, seit ich sie kann­te, ge­gen ihr Äu­ße­res völ­lig gleich­gül­tig. Sie nann­te den Kör­per mit Luther einen elen­den Ma­den­sack, der ja doch schließ­lich den Wür­mern an­heim­fie­le.

Die schö­ne gol­de­ne Uhr­ket­te auf mei­nes Va­ters Wes­te und die Ber­lo­cken dar­an sind mir von früh er­in­ner­lich.

Schon sehr zei­tig, scheint mir, ist der Schei­tel mei­nes Va­ters ge­lich­tet ge­we­sen, er ging an den Schlä­fen in ganz klei­ne na­tür­li­che Löck­chen aus.

*

Ich ar­te­te zu­nächst mehr der Mut­ter nach. Mich viel zu wa­schen oder viel ge­wa­schen zu wer­den lieb­te ich nicht, eben­so­we­nig moch­te ich, wie schon ge­sagt, schö­ne Klei­der. Sie be­deu­te­ten Rück­sicht auf Fle­cke, Been­gung, ja ge­wis­ser­ma­ßen Ge­fan­gen­schaft. In die­ser Hin­sicht ließ mich der Va­ter mei­ner Wege ge­hen, wo­ge­gen er auf mei­ne Was­ser­scheu kei­ne Rück­sicht nahm und mich mit sei­ner Kalt­was­ser­kur ei­gen­hän­dig be­treu­te.

Es wur­den mor­gens Schwäm­me voll eis­kal­ten Was­sers über mei­nen ge­beug­ten Na­cken und Kopf aus­ge­drückt. Manch­mal mach­te mich der Schmerz halb wahn­sin­nig, aber ich durf­te nicht schrei­en, und auch sons­ti­gen Wi­der­stand gab es nicht, eben­so­we­nig, wenn der Va­ter mich in das ei­gens für mich ge­schnit­te­ne nass­kal­te Abreib­tuch wi­ckel­te und mich mit kräf­ti­gen Fäus­ten ab­schrum­pel­te. Hier war das schlimms­te der ers­te Au­gen­blick.

Der Pro­test mei­ner Mut­ter, die von al­le­dem nichts hielt, half eben­so­we­nig wie die zit­tern­de Er­ge­bung mei­ner zar­ten Kind­lich­keit. Schön und er­qui­ckend war die von mei­nem Va­ter be­lieb­te Art des Ab­trock­nens. Mir wur­de ein wei­ches Bett­la­ken um­ge­legt, wo­mit ich mich vor dem of­fe­nen Fens­ter gleich­wie mit Flü­geln plä­dern durf­te.

*

Neu­es Schuh­werk ließ mir mein Va­ter in der Werk­statt des Schus­ters Blie­mel zu Hin­ter­har­tau, neue An­zü­ge in der Werk­statt des Schnei­ders Leo am Ende der Pro­me­na­de per­sön­lich an­mes­sen. Leo, ein Zwerg, der eine Zwer­gin ge­hei­ra­tet hat­te, saß im­mer mit ge­kreuz­ten Bei­nen, sti­chelnd und von Tuch­lap­pen um­ge­ben, in ei­nem win­zi­gen Schau­fens­ter. Heu­te scheint mir, dass die­ses Männ­chen, sein Be­tra­gen und sei­ne Werk­statt noch dem Mit­tel­al­ter an­ge­hört ha­ben.

Mit be­son­de­rer Sorg­falt nahm sich der Va­ter mei­nes Schuh­werks an. Er sel­ber hat­te ver­bil­de­te Füße, wo­vor er uns Kin­der be­wah­ren woll­te. Ohne Rück­sicht auf die Mode des spit­zen Schuhs be­stand er auf Brei­te und Wei­te.

Mein Va­ter han­del­te oder schwieg, Re­dens­ar­ten mach­te er nicht. Auf sei­nem Arm habe ich no­lens vo­lens2 mit viel Ge­schrei im Lehm­teich hin­ter der Gas­an­stalt das ers­te Bad im Frei­en ge­nom­men. Noch sehe ich das be­droh­li­che, schwin­del­er­re­gen­de Glit­zern der klei­nen Wel­len um mich her.

*

Die­ser Lehm­teich hat mir spä­ter einen emp­find­li­chen Streich ge­spielt. Ich trieb mich wie stets auf der Stra­ße in der Nähe des Gast­hofs her­um, die Sai­son war in vol­lem Gan­ge. Da sprach mich ein Jun­ge, ein ge­bo­re­ner Hans­wurst na­mens Geis­ler, an, der einen herr­li­chen Ap­fel in der Hand hat­te. Der etwa zehn Jah­re alte Ar­men­häus­ler lang­weil­te sich. Er muss­te im Auf­trag einen wei­ten Weg ma­chen und ver­fiel dar­auf, mich zur Ge­sell­schaft mit­zu­lo­cken.

Der Geis­ler­jun­ge hat­te mich gern. Nur um mir eine Freu­de zu ma­chen, biss er Mai­kä­fern die Köp­fe ab, zer­kau­te Glas, stach sich Na­deln durch die Fin­ger und mach­te den wil­den Mann. Jetzt kauf­te er mir die Beglei­tung bis zu ei­nem Haus in Rich­tung des Nie­der­dorfs ge­gen einen ers­ten Biss in den Ap­fel ab. Als ich den Ap­fel bis zum Griebsch3 in mir hat­te, wa­ren wir un­ver­se­hens bei der Gas­an­stalt und dem da­hin­ter­lie­gen­den Lehm­teich an­ge­langt. Ich war mehr als eine hal­be deut­sche Mei­le weit von un­serm Hau­se ver­schleppt wor­den.

Das nun aber, was im Au­gen­blick hier am Tei­che ge­sch­ah, brach­te den zu­rück­ge­leg­ten Weg, den Gast­hof zur Kro­ne, die Ge­schwis­ter, die El­tern, ja mich selbst völ­lig in Ver­ges­sen­heit. Der Lehm­teich wur­de ab­ge­las­sen, und zu Aber­hun­der­ten spran­gen, schnalz­ten und pansch­ten in dem im­mer seich­ter wer­den­den Was­ser große Kar­pfen und klei­ne Fo­rel­len her­um. Sie wur­den von Män­nern in auf­ge­streif­ten Ho­sen aus dem gel­ben Schlamm her­aus­ge­grif­fen, am Ufer in Wan­nen und Fäs­sern zu­sam­men­ge­häuft. Kreb­se wur­den aus ih­ren Lö­chern her­vor­ge­zo­gen und zum all­ge­mei­nen Ver­gnü­gen und Ent­set­zen her­um­ge­reicht.

Al­les die­ses nahm mich ge­fan­gen. Die großen und klei­nen Fi­sche, die ich zum ers­ten Mal le­bend und nahe sah, ihre glot­zen­den und ver­zwei­feln­den Au­gen, die Fanglust, die mich er­griff, und zu­gleich die bit­te­re Er­kennt­nis des to­des­na­hen Zu­stan­des, in den alle die­se We­sen, noch eben frei und glück­lich, ge­ra­ten wa­ren: die pa­cken­de Ge­gen­wart von al­le­dem be­täub­te mich. Ich hat­te noch nicht Mit­tag ge­ges­sen, und als ich den Heim­weg an­trat, um, wie ich glaub­te, dazu noch recht­zei­tig vor der Mahl­zeit ein­zu­tref­fen, war es na­he­zu Abend ge­wor­den.

Mei­ne El­tern müs­sen ver­zwei­felt ge­we­sen sein. Die Po­li­zei war ver­stän­digt wor­den, nach al­len Him­mels­rich­tun­gen hat­te man Bo­ten aus­ge­schickt, die dann un­ver­rich­te­ter Din­ge zu­rück­ka­men. Es wa­ren Zi­geu­ner ge­sich­tet wor­den, der De­muth­teich wur­de ab­ge­sucht, ich konn­te zum Ba­den ver­führt und er­trun­ken sein.

Nun, die un­ge­heu­re Span­nung und Angst hat sich bei mei­nem Va­ter, als er mich wie­der an der Hand hat­te, in die Form ei­ner ziem­lich har­ten Züch­ti­gung auf­ge­löst.

*

Es war na­tür­lich, dass ich aus den Schul­bän­ken, wo ich mit den zer­lump­ten Ar­men­häus­lern Sei­te an Sei­te saß, ein­mal Krät­ze und Läu­se heim­brach­te. Ein an­de­res Übel, eine Haut­flech­te, die mei­nen gan­zen Kör­per über­zog, war erns­te­rer Art: Krank­heit und Ver­su­che zu ih­rer Hei­lung wur­den Mar­tern für mich. Mein Va­ter hat­te wie bei Carls Lun­gen­ent­zün­dung den Chir­ur­gus Rich­ter und mei­nen On­kel, Dok­tor Straeh­ler, her­an­ge­zo­gen. Die­ser, Ba­de­arzt und ein schö­ner, hu­mor­vol­ler Mann, ver­ord­ne­te Pin­se­lung mit Pe­tro­le­um. Hät­te man es an­ge­zün­det, der Schmerz hät­te nicht kön­nen grö­ßer sein. Da sich auch die­se Qual als nutz­los er­wies, ging mein Va­ter mit mir zu ei­nem Schä­fer, der den Ruf ei­nes Wun­der­tä­ters be­saß. Lei­der tat er dies­mal kein Wun­der, und da die Flech­te nur im­mer gräu­li­cher wu­cher­te, trat mein Va­ter mit mir eine Rei­se nach der Pro­vin­zi­al­haupt­stadt an. Es scheint, dass die Kon­sul­ta­ti­on ei­nes Der­ma­to­lo­gen dann das quä­len­de Übel be­hob.

Die Fahrt nach Bres­lau ge­sch­ah auf der kaum fer­tig­ge­wor­de­nen Stre­cke der Bres­lau-Frei­bur­ger Ei­sen­bahn. Man er­reich­te den Zug in Frei­burg oder Alt­was­ser. Ich ver­moch­te, nach Hau­se zu­rück­ge­kehrt, in Schil­de­run­gen des Wun­der­ba­ren, das ich er­lebt hat­te, be­son­ders in der Schu­le, mir nicht ge­nug zu tun.

In Wahr­heit nahm ich das heu­len­de, zi­schen­de, don­nern­de Dampfroß, das mit dem Zuge schwe­rer Wa­gen blitz­schnell da­hin­stürm­te, als eine Ge­ge­ben­heit. Schließ­lich war es kein grö­ße­res Wun­der als ir­gen­det­was von dem, was mei­nem Hin­ein­schrei­ten in die Welt in end­lo­ser Fül­le über­all ent­ge­gen­kam. Die Ma­schi­ne pfiff, wenn wir uns ei­ner Sta­ti­on an­nä­her­ten, wor­auf der Schaff­ner, den je­der Wa­gen hat­te, mit al­len Kräf­ten bis zum Krei­schen der Schie­nen die Brem­se zog. Wäh­rend der Fahrt be­schäf­tig­te mich am meis­ten das Spiel der Te­le­gra­fen­dräh­te, ihr Auf und Ab vor den Fens­tern. Ich wuss­te nicht, wie ihre Be­we­gung zu­stan­de kam. Pein­lich emp­fand ich die Ohn­macht uns­rer Ge­fan­gen­schaft und war be­freit, als wir in Bres­lau aus­stei­gen konn­ten. Mein Va­ter selbst aber war viel­leicht die we­sent­li­che Ent­de­ckung, die ich bei die­ser Bahn­fahrt ge­macht habe.

Er war auf ein­mal mein Ka­me­rad und nicht mehr die stei­fe Re­spekts­per­son. Das in­ti­me Ver­hält­nis von gleich und gleich über­traf noch den Zu­stand, wie er bei Fuhr­mann Krau­se herrsch­te. Auf jede mei­ner Be­mer­kun­gen ging er mit schalk­haf­ter Mie­ne ein, mit­un­ter la­chend, so­dass ihm un­ter den schar­fen, gold­ge­rahm­ten Bril­lenglä­sern die Trä­nen her­un­ter­roll­ten. Was sich dann im gan­zen au­ßer der ärzt­li­chen Kon­sul­ta­ti­on be­gab, war für mei­nen zar­ten Or­ga­nis­mus zu viel. So warf mich nachts mein re­bel­lie­ren­des Hirn aus dem Bett, und als mich mein Va­ter mit­ten im Zim­mer fand und auf­weck­te, über­fiel mich ein un­auf­halt­sa­mer, hem­mungs­lo­ser Heim­weh­krampf.

Der städ­ti­sche Lärm, der Ta­baks­qualm ei­ner al­ten Wein­stu­be und schließ­lich der Be­such ei­nes großen Thea­ters, den ich er­zwang, wa­ren schuld dar­an.

Ich sah in die­sem für mich ge­wal­ti­gen Hau­se »Or­pheus in der Un­ter­welt«, wo­bei die Mu­sik mir stö­rend war. Ich konn­te es kaum er­war­ten, bis wie­der ge­spro­chen wur­de. Eine Ra­ke­te, die beim Hin­ab­stei­gen des Or­pheus in die Un­ter­welt durch die Ver­sen­kung em­por­zisch­te und platz­te, be­deu­te­te für mich einen Hö­he­punkt.

*

Bei Va­ters Rück­kehr in den häus­li­chen Pf­lich­ten­kreis und den der Fa­mi­lie trat so­gleich die alte Ent­frem­dung wie­der ein. Mein Va­ter übte eine große Selbst­dis­zi­plin, mit­un­ter aber über­mann­te ihn die der gan­zen Fa­mi­lie ei­ge­ne leich­te Er­reg­bar­keit. Ir­gen­det­was moch­te von uns Kin­dern ver­fehlt wor­den sein, sei es, dass wir ein län­ge­res Aus­blei­ben durch eine Flun­ke­rei ent­schul­digt oder et­was, das er wis­sen muss­te, ver­heim­licht hat­ten. Er be­gann dann etwa mit den Wor­ten:

Wer lügt, der trügt;

wer trügt, der stiehlt;

wer stiehlt, der kommt an den Gal­gen.

Und nun wur­de mit der Wucht dro­hen­der Wor­te die Mög­lich­keit, ja die Wahr­schein­lich­keit ei­ner schreck­li­chen Zu­kunft im Ge­fäng­nis, im Zucht­haus und ei­nes grau­si­gen En­des un­ter dem Gal­gen oder auf dem Block aus­ge­malt. Man kann einen sol­chen Auf­wand, wie mein Va­ter ihn zu un­se­rem Schre­cken manch­mal trieb, un­mög­lich als pro­por­tio­nal der Ge­ring­fü­gig­keit un­se­rer Ver­ge­hen be­zeich­nen.

*

Mein Va­ter be­kämpf­te in uns die Furcht­sam­keit und be­son­ders auch die Ge­s­pens­ter­furcht. Wenn win­ters Geis­ter­ge­schich­ten er­zählt wur­den, was da­mals all­ge­mein üb­lich war, warf er meist nur sar­kas­ti­sche Bro­cken ein. Die Kor­ri­do­re al­ter Sch­lös­ser mit ih­ren ket­ten­schlep­pen­den wei­ßen Frau­en, die Er­schei­nung Ster­ben­der bei Ver­wand­ten, die hun­der­te Mei­len ent­fernt wohn­ten, im Au­gen­blick des To­des ge­nos­sen bei ihm kei­ne Glaub­haf­tig­keit. Ein be­stimm­ter Fall aber, den er sel­ber er­lebt hat­te, blieb auch für ihn un­auf­ge­klärt.

Nachts bei Mond­schein im Herbst kam er nach Hau­se. Auf dem Platz zwi­schen Eli­sen­hal­le und El­tern­haus an­ge­langt, hör­te er sei­nen Na­men ru­fen. Als er mit »Hier bin ich!« geant­wor­tet hat­te, trat eine kur­ze Stil­le ein. Die Stim­me kam – oder schi­en zu kom­men – aus ei­nem düs­te­ren Wäld­chen auf dem Kro­nen­berg, der un­se­ren Vor­gar­ten fort­setz­te. Die­sem Wäld­chen ge­gen­über lag der Eli­sen­hof, ei­ner Fa­mi­lie Enke ge­hö­rig. Un­se­re Hin­ter­gär­ten grenz­ten an­ein­an­der Zaun an Zaun.

Ein jun­ger und lei­der kran­ker Mensch aus die­ser Fa­mi­lie hat­te mit mei­nem Va­ter Freund­schaft ge­schlos­sen. Ich den­ke, das Gan­ze muss, als noch mei­nes Va­ters Va­ter, Groß­va­ter Haupt­mann, leb­te, vor­ge­fal­len sein. Nun also, der Ruf wie­der­hol­te sich, mein Va­ter emp­fand ihn als Hil­fe­ruf, und als er wie­der­um mit »Hier bin ich!« geant­wor­tet hat­te, rann­te er, wie um Hil­fe zu brin­gen, ge­gen das Wäld­chen hin­auf.

Eine Wei­le ver­geb­li­chen Su­chens über­zeug­te ihn, dass er ei­ner Ge­hör­täu­schung un­ter­le­gen sei, in der Stil­le der Nacht nicht un­ge­wöhn­lich. So war er bis vor das Kro­nen­por­tal zu­rück­ge­kehrt und woll­te so­eben den schwe­ren Schlüs­sel im Schloss um­dre­hen, als es aber­mals klar und deut­lich »Ro­bert!«, sei­nen Vor­na­men, rief. Mit leich­tem Schau­der be­trat er das Haus, ohne wei­ter Rück­sicht zu neh­men.

Am nächs­ten Mor­gen wur­de die Nach­richt ge­bracht, dass der jun­ge Enke ge­stor­ben sei. Und zwar in der Tat um die glei­che Zeit, in der mein Va­ter das Ru­fen ge­hört hat­te.

Auch die­sen Fall ent­klei­de­te mein Va­ter nach und nach des Wun­der­ba­ren. »Ge­s­pens­ter, die sich all­zu mau­sig ma­chen, soll man ein­fach beim Kra­gen neh­men«, sag­te er, »oder ih­nen mit ei­nem tüch­ti­gen Stock zu­lei­be ge­hen.« Hie und da, be­son­ders im Herbst, wo er Zeit fand, sich uns zu wid­men, wur­den ent­spre­chen­de Mut­pro­ben mit uns an­ge­stellt. An den spä­te­ren Nach­mit­tagen, wenn die Nacht be­reits her­ein­ge­bro­chen war und Mond­schein sie zu schwa­chem Däm­mer auf­hell­te, tra­ten wir etwa aus dem Klei­nen Saal auf die Ter­ras­se hin­aus, um noch ein we­nig Luft zu at­men. Die Eli­sen­hal­le, mit ih­rem do­ri­schen Gie­bel­bau, warf ih­ren Schat­ten auf den Platz, kein Mensch war zu se­hen weit und breit und eben­so­we­nig ein Laut zu hö­ren.

Da konn­te mein Va­ter plötz­lich be­haup­ten, dass er da und da, weit hin­ten auf ei­ner Bank der Eli­sen­hal­le, sei­nen Hut ver­ges­sen habe, und den Wunsch äu­ßern, ich möge se­hen, ob er noch dort lie­ge, und ihn wo­mög­lich zu­rück­brin­gen. Es wäre ein Pa­na­ma­hut oder ir­gend­so, und er wür­de ihn sehr un­gern ein­bü­ßen.

Die Hal­le war of­fen nach Os­ten ge­gen den Park und ge­gen Wes­ten ge­schlos­sen. An die­ser Sei­te, hin­ter der un­mit­tel­bar die kup­fer­far­be­ne Salz­bach rausch­te, hat­te man nach Art ei­nes Ba­sars Ver­kaufs­lä­den ein­ge­baut.

Wenn man über die große Freitrep­pe auf den lehm­ge­stampf­ten Bo­den des Tem­pel­bau­es trat, weck­te man lau­ten Wi­der­hall. Am Ende des Rau­mes traf man, nach­dem man über höl­zer­ne Stu­fen einen Holz­po­dest er­stie­gen hat­te, auf große Gla­stü­ren, die zum Kur­haus ge­hör­ten und des­sen Ge­sell­schafts­sä­le ab­schlos­sen. Rechts da­vor eine nied­ri­ge Tür führ­te in einen klei­nen, meist übel­rie­chen­den Raum, der auf der an­de­ren Sei­te durch ein glei­ches Tür­chen ver­schlos­sen war. Nicht ein­mal am Tage war es uns Kin­dern an­ge­nehm, durch die­sen »Sich­dich­für«, die­ses licht­lo­se Loch, hin­durch­zu­schlüp­fen. Es lief auf eine Brücke über die Salz­bach aus.

Im Fa­mi­li­en­kreis galt ich als das ver­hät­schel­te, zu­tun­lich wei­che Nest­häk­chen. Man wuss­te hier nichts – und nicht ein­mal ich sel­ber wuss­te es – von dem Ruf, den ich auf der Gas­se ge­noss, wo ich als ein ver­we­ge­ner, durch­trie­be­ner, gänz­lich furcht­lo­ser Bur­sche ge­nom­men wur­de. Wie oft war die Nacht über un­se­rer wil­den Spie­le­rei her­ein­ge­bro­chen: der fins­ters­te Win­kel im Ei­fer des Kriegs­spiels schreck­te mich nicht.

Jetzt, im an­de­ren See­len­ko­stüm, war ich scheu, ängst­lich, furcht­sam, ver­zär­telt, zim­per­lich. Nur mit he­ro­i­scher Über­win­dung konn­te ich dem Wun­sche des Va­ters nach­kom­men. Schon die Über­que­rung des Plat­zes, wo som­mers die Drosch­ken stan­den, war kei­ne Klei­nig­keit. Es kam dann das Er­stei­gen der Freitrep­pe mit dem tie­fen, düs­tern Rau­me als Hin­ter­grund. Kaum dass ich den hal­len­den Bo­den be­trat, auf dem die di­cken Schat­ten der Säu­len la­gen, fing ich auch schon zu lau­fen an, wor­auf so­gleich vom Schall mei­ner Soh­len Tau­sen­de dä­mo­ni­scher Stim­men laut wur­den. Sie schri­en und peitsch­ten all­sei­tig auf mich ein. Und nun ka­men die blin­den Gla­stü­ren der Kur­sä­le, die, ei­si­ge und lee­re Höh­len, da­hin­ter lau­er­ten. Das Kur­haus war im Win­ter ge­schlos­sen. Die Schei­ben klirr­ten von mei­nem Schritt, und un­ter mir tön­te hohl die Holz­die­le. Zur Rech­ten hat­te ich den scheuß­li­chen Sich­dich­für, worin ich mir et­was wie lau­ern­de mör­de­ri­sche Erin­nyen vor­stell­te. Wenn ich den Hut nun durch­aus nicht ent­de­cken konn­te, lief ich, viel­leicht mich an­ders be­sin­nend, nicht wie ge­hetzt da­von und zu­rück, son­dern be­weg­te mich steif und auf laut­los-furcht­sa­me Wei­se. Und nun tra­ten wohl vor die ver­na­gel­ten Lä­den die som­mer­li­chen In­ha­ber: das Ge­s­penst Ger­tisch­kes, des Por­zel­lan­ma­lers, des Glas­wa­ren­händ­lers Krebs, von dem be­kannt war, dass er über­all sei­nen Sarg mit sich führ­te. Das al­les war mehr als gru­se­lig.

*

Da­mals war Be­leuch­tung durch Gas eben auf­ge­kom­men. Mein Va­ter neig­te zu je­der Art von Mo­der­ni­tät, so leg­te man auch in der Preu­ßi­schen Kro­ne Gas­röh­ren. Die Bren­ner mit der in ei­ner Ex­plo­si­on sich ent­zün­den­den fä­cher­för­mi­gen Flam­me wa­ren pri­mi­tiv. Un­se­re ver­hält­nis­mä­ßig klei­nen Wohn­zim­mer er­füll­ten win­ters an lan­gen Aben­den gif­ti­ge Rück­stän­de. Das rüg­te die al­len Neu­hei­ten ab­ge­neig­te Mut­ter. Den Stolz des Va­ters auf die­se Art Be­leuch­tung beug­te das nicht.

Ei­nes Ta­ges nahm er mich mit in die Gas­an­stalt. Nun wur­de mir deut­lich, dass die Gas­be­leuch­tung von Ober-Salz­brunn über­haupt un­ter sei­ner Lei­tung stand und von ihm ein­ge­rich­tet wor­den war. Die Hei­zung der Re­tor­ten und die Be­die­nung des Ga­so­me­ters lag in der Hand ei­nes Werk­meis­ters na­mens Sa­lo­mon. Er, den selbst ich so­fort als Lun­gen­kran­ken er­ken­nen konn­te, hat­te viel­leicht die Salz­brun­ner Stel­lung in der Hoff­nung, an den Heil­quel­len zu ge­ne­sen, an­ge­nom­men. Die­ser Sa­lo­mon mit sei­nem Ernst, sei­ner hoh­len Stim­me, sei­nem blau­en Kit­tel, mit der Koh­len­schau­fel vor der zit­tern­den Weiß­glut sei­ner Re­tor­ten hat mir einen tie­fen Ein­druck ge­macht. Ich sah zum ers­ten Mal den mo­der­nen Ar­bei­ter, eine Men­schen­art, die mir einen ganz an­de­ren Re­spekt ab­nö­tig­te als jede, die mir sonst vor die Au­gen ge­kom­men war. Ein neu­er Adel, schi­en mir, um­gab die­sen Mann, der hier sei­ne Höl­len­schlün­de in Brand setz­te, in ih­rer ge­fähr­li­chen Nähe han­tier­te mit ge­las­se­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit und ei­nem un­be­irr­ba­ren Pf­licht­ge­fühl. Er er­klär­te mir, wie man den Ga­so­me­ter auf­füll­te, und mein Va­ter deu­te­te an, dass ein ein­zi­ger hin­ein­ver­irr­ter Fun­ke eine Ex­plo­si­on ver­ur­sa­chen kön­ne, die uns alle in Stäub­chen zer­rei­ßen wür­de.

Wel­che At­mo­sphä­re von schlich­tem Mut, Op­fer­be­reit­schaft in je­dem Au­gen­blick, erns­tem Wil­len zur Verant­wor­tung um­wit­ter­te die­sen Mann, über den ich von Stund an im­mer wie­der nach­den­ken muss­te.

Der re­spekt­vol­len Art mei­nes Va­ters die­sem Man­ne ge­gen­über konn­te ich an­mer­ken, dass er ähn­lich wie ich zu ihm stand.

1 Zwi­cker, Bril­le ohne Bü­gel <<<

2 (Lat.) not­ge­drun­gen, wohl oder übel <<<

3 Kern­ge­häu­se <<<

Das Abenteuer meiner Jugend

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