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Dreiundzwanzigstes Kapitel

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Die Fa­mi­lie fei­er­te in die­sem Jahr ein sehr an­spruchs­lo­ses Weih­nachts­fest, das mir al­ler­dings eine Drei­vier­tel­gei­ge als Ge­schenk brach­te. Ich hat­te mir ein­ge­re­det, es schlumm­re in mir viel­leicht ein Mu­si­ker. Al­lein der Grund, wes­halb ich mir eine Gei­ge ge­wünscht hat­te, war nicht der. Durch zwei Um­stän­de ist er wahr­schein­lich ge­legt wor­den. Mei­nem Va­ter war eine Gei­ge ge­stoh­len wor­den, die er von sei­nem Groß­va­ter über­kom­men hat­te, ei­nem We­ber und Dorf­mu­si­kus, der als sol­cher auch im Kir­chen­dienst der Stadt Hirsch­berg mit­wirk­te. Die Gei­ge in ih­rem Kas­ten hat­te im Gro­ßen Saa­le der Kro­ne ge­stan­den, Ein­bre­cher hat­ten zur Win­ter­zeit die Schei­ben der großen Gla­stü­ren ein­ge­drückt und die Gei­ge viel­leicht nur des­halb ge­raubt, weil der glän­zen­de Mes­sing­be­schlag des Kas­tens sie an­lock­te. Es mag ein gu­tes, al­tes Ti­ro­ler In­stru­ment ge­we­sen sein, bei­lei­be kein Stra­di­va­ri­us, aber die Pie­tät, die mein Va­ter da­für be­saß, fer­ner die Fan­ta­sie von uns Kin­dern und schließ­lich die un­be­grenz­ten Mög­lich­kei­ten, die bei al­ten Gei­gen ge­ge­ben sind, mach­ten sie am Ende dazu.

Die­se Gei­ge lag mir im Sinn und des­glei­chen der mu­si­ka­li­sche Ur­groß­va­ter. Und über­dies leb­te in Salz­brunn Dok­tor Oli­vie­ro, ein viel­be­schäf­tig­ter prak­ti­scher Arzt, der aus­ge­bil­de­ter Gei­ger war und sei­ne be­rufs­frei­en Stun­den der Gei­gen­kunst wid­me­te. Wäh­rend des Kur­saal­win­ters ent­stand das fan­tas­ti­sche Gerücht, dass er we­gen ei­ner Gei­ge in Un­ter­hand­lun­gen ste­he, die fünf-, sechs- oder acht­tau­send Ta­ler kos­ten sol­le. Es war ein be­grün­de­tes Gerücht, die Gei­ge ge­lang­te in sei­ne Hän­de.

Ir­gend­wie hat­te sich im An­schluss an die­se Um­stän­de eine fa­na­ti­sche Gei­gen­sehn­sucht in mir fest­ge­setzt. Es kam wohl auch Ei­tel­keit dazu, Ein­drücke der Ge­pflo­gen­hei­ten des ele­gan­ten Ka­pell­meis­ters von der Kur­ka­pel­le. Wenn die­se, wie öf­ters, Strauß­sche Wal­zer spiel­te, nahm er die Gei­ge selbst in die Hand, um die Spie­ler zu hö­he­rem Schwun­ge fort­zu­rei­ßen.

So zog mein Va­ter denn Dok­tor Oli­vie­ro zu Rat, als mein Wunsch im­mer bren­nen­der wur­de. Man möge mir, sag­te der Dok­tor, ru­hig will­fah­ren, man be­kom­me ja schon für ei­ni­ge Ta­ler ein für den An­fang ge­nü­gen­des In­stru­ment, und was sol­le ein Ver­such, gei­gen zu ler­nen, dem Kna­ben scha­den? Und schließ­lich bot Oli­vie­ro sich an, mich, selbst­ver­ständ­lich ohne Ent­gelt, zu un­ter­wei­sen.

Worauf denn auch wirk­lich der Un­ter­richt nach Neu­jahr be­gann.

Dok­tor Oli­vie­ro hat­te die ge­pfleg­tes­te und be­hag­lichs­te Häus­lich­keit. In den Zim­mern hör­te man kei­nen Tritt, weil die Fuß­bö­den mit ei­ner dün­nen Schicht Stroh über­deckt und mit Tep­pi­chen über­spannt wa­ren. Das Ehe­paar Oli­vie­ro war kin­der­los. Er, ein nicht großer Mann mit ei­nem beetho­ven­ähn­li­chen, aber ge­las­sen-gü­ti­gen Mu­si­ker­kopf, sie, eine statt­li­che, schö­ne Frau, die er­heb­lich jün­ger als er sein muss­te. Ich fühl­te mich wohl in die­sem Hau­se, des­sen Kul­tur eine in Salz­brunn un­ge­wöhn­li­che war und in dem ich mit ei­nem stil­len Gleich­maß von Güte be­han­delt wur­de.

Dok­tor Oli­vie­ro ging wäh­rend der Un­ter­richts­stun­de, im­mer mit aus­ge­such­tes­ter Ak­ku­ra­tes­se ge­klei­det, die Gei­ge an der Schul­ter, mit be­que­men Schrit­ten hin und her, jede Pau­se mei­ner jäm­mer­li­chen Krat­ze­rei be­nut­zend, um sich mit Läu­fen, Tril­lern, Dop­pel­grif­fen, Ok­tav­gän­gen und Fla­geo­letts schad­los zu hal­ten.

Mit­un­ter blick­te oder trat die schö­ne Arzt­frau her­ein, an vor­neh­mer Hal­tung und Klei­dung ein Typ, nach dem man heut im Hau­se ei­nes Land­arz­tes eben­so­lan­ge wie da­mals su­chen müss­te. Manch­mal er­hielt ich dann eine Sü­ßig­keit, oder es wur­de uns, wenn es drau­ßen sehr kalt war, in den stets über­heiz­ten Zim­mern Tee ser­viert. Man spür­te in al­lem, Ta­pe­ten, Mö­beln, Bil­dern und Vor­hän­gen, eine be­son­de­re Wohl­ha­ben­heit, die in der Tat hier zu­grun­de lag und nicht aus der Berg­manns-Pra­xis stamm­te.

Nie üb­ri­gens sah man Dok­tor Oli­vie­ro in ir­gend­ei­ner Gast­stu­be noch in der Re­stau­ra­ti­on ir­gend­ei­nes Ho­tels oder gar sei­ne Frau und ihn bei win­ter­li­chen Res­sour­ce­bäl­len oder den som­mer­li­chen Soi­reen für Ba­de­gäs­te. Fürst­lich pri­vi­le­gier­ter Ba­de­arzt war Dok­tor Oli­vie­ro nicht.

*

Eine Drei-Kai­ser-Zu­sam­men­kunft stand vor der Tür. Bis­marck hat­te sie im In­ter­es­se des Frie­dens – der Sie­ger will im­mer den Frie­den! – an­ge­regt. Alex­an­der II. von Russ­land, Franz Jo­seph von Ös­ter­reich und Wil­helm I. ei­nig­ten sich zur Auf­recht­er­hal­tung des Frie­dens und des Sta­tus quo. Kurz, al­les traf alle mög­li­chen An­stal­ten, um dem neu­en Reich und der neu­en Welt eine Frie­den­se­po­che zu ge­währ­leis­ten, in der sich ein fried­li­cher Wett­streit, des­sen Kräf­te wie un­ge­dul­di­ge Ros­se in den Ge­bis­sen schäum­ten, gren­zen­los ent­fal­ten konn­te und soll­te.

In die­se er­war­tungs­vol­le, von nah er­füll­ba­ren Hoff­nun­gen al­ler Art ge­sät­tig­te, freu­di­ger­reg­te Epo­che fiel plötz­lich und gänz­lich un­er­war­tet der kal­te, fins­te­re Schat­ten des Tha­na­tos. Ich weiß nicht, wo zu­erst: in Deutsch­land wa­ren die Schwar­zen Po­cken, war die Schwar­ze Pest aus­ge­bro­chen und raff­te, durch ärzt­li­che Kunst nicht auf­zu­hal­ten, aber und aber tau­sen­de Men­schen hin­weg. End­lich fiel auch in Salz­brunn der ers­te Schlag. Man hör­te am ers­ten Tage von ei­nem, von zwei, von drei Fäl­len im Nie­der­dorf, die schon am zwei­ten, mit zehn an­de­ren, töd­lich en­de­ten, wäh­rend am drit­ten Tage die Zahl der To­ten auf zwan­zig, am vier­ten auf drei­ßig, vier­zig stieg, Op­fer, von de­nen uns die meis­ten be­kannt wa­ren. Man schloss die Schu­len, und wir Kin­der durf­ten nur un­ter Wah­rung strengs­ter Vor­sichts­maß­re­geln aus dem Haus.

War ich nun ei­gent­lich angst- und furcht­ge­quält oder sonst tiefer be­wegt, als die un­sicht­ba­re Hand im­mer mehr Leu­te aus dem Le­ben riss, fast in jede be­kann­te Fa­mi­lie griff und sich dem Ober­dorf und dem Kur­saal be­droh­lich an­nä­her­te?

So­weit war ich durch­aus noch Kind, dass ich die Schlie­ßung der Schu­le als einen Glücks­fall be­grüß­te.

So haf­te­ten auch kei­nes­wegs die War­nun­gen mei­ner El­tern und des Dok­tors Straeh­ler vor mög­li­cher An­ste­ckung: war ich wie im­mer dem Hau­se ent­sprun­gen, so hat­te ich an sie kei­ne Erin­ne­rung. Ich schlug die stren­gen Ge­bo­te, kei­nen Men­schen zu spre­chen, noch gar zu be­rüh­ren, bei­lei­be kein Haus zu be­tre­ten, nicht ei­gent­lich in den Wind, son­dern dach­te im­mer erst dann an sie, wenn ich dies al­les nach al­ter Ge­wohn­heit ge­tan hat­te. Dok­tor Straeh­ler riet da­von ab, mich ein­zu­sper­ren, da ich, an frei­es He­rum­tol­len doch ge­wöhnt, durch Stu­ben­ar­rest am Ende noch är­ger ge­fähr­det wür­de.

Ich tum­mel­te mich im Dorf um­her und be­trat denn auch Zim­mer, in de­nen Leu­te zu Bett la­gen. War es ein Po­cken­kran­ker oder nicht, an den ich in ei­nem mod­ri­gen Gar­ten­ge­lass durch ir­gend­ei­nen Zu­fall ge­riet? Je­den­falls ist ein Ein­druck da­mit ver­knüpft, der sich mir ins Ge­müt ätz­te. Im glei­chen Zim­mer be­fand sich ein we­nig be­klei­de­tes, schlum­pi­ges Weib. »Was­ser!« fleh­te der Kran­ke sie an. – »Was­ser?!« schrie sie, »hol dir doch Was­ser!« – »Ich kann nicht, ich bin zu schwach«, sag­te er. – »Faul bist du, du bist faul!« war die Ant­wort. – »Merkst du denn nicht, wie es mit mir steht? Ich bin hin. Ich wer­de von die­sem Bett nicht mehr auf­ste­hen.« – »Dann blei­be doch lie­gen, Lum­pen­hund!« – »Frau«, klang es zu­rück, »denk dar­an, dass es eine Ge­rech­tig­keit auf Er­den, und wenn nicht auf Er­den, dann im Him­mel gibt. Du sollst die Stra­fen Got­tes nicht so her­aus­for­dern!« – Sie brach in ein häss­li­ches, wil­des La­chen aus. »Du re­dest von Stra­fen Got­tes, du Schuft, ge­hörst du nicht zehn­mal an den Gal­gen?!« – »Was­ser!« fleh­te aufs neue der Kran­ke. »Reich mir doch mal die Me­di­zin!« – »Hol dir das Was­ser, nimm dir die Me­di­zin!« – »O Gott, wenn es doch end­lich schon aus wäre!« – »Ich ma­che drei Kreu­ze: ja, wenn es doch aus wäre! Wenn es doch aus wäre! Ich sprän­ge el­len­hoch in die Luft! Ein Fau­len­zer we­ni­ger auf der Welt, eine schlech­te Lum­pen­ca­nail­le we­ni­ger!«

Ich ver­schloss die­se schreck­li­che Of­fen­ba­rung in mein Kna­ben­ge­müt, wo ich man­che ähn­li­che Mit­gift in mei­nem spä­te­ren Le­ben ent­deckt habe.

Hat­te ich die Schlie­ßung der Bren­del-Schu­le als den Be­ginn ei­ner frei­en Fe­ri­en­zeit be­grüßt, bald soll­te ich mich nach ihr zu­rück­seh­nen. Denn wie­der hat­te die Päd­ago­gik mei­nes Va­ters ein­ge­setzt. Hei­ter durch­grei­fend aber war sie dies­mal nicht, son­dern auf ein­fa­che Wei­se zwar, aber auch auf über­aus stren­ge durch­grei­fend. Va­ter mach­te mir höchst per­sön­lich am Fens­ter des Bil­lard­zim­mers einen Tisch zu­recht, gab mir einen von sei­nen dut­zend­wei­se vor­rä­tig ge­hal­te­nen neu­en Fe­der­hal­tern, mit ei­ner eng­li­schen Stahl­fe­der frisch ver­se­hen, und stell­te ein ent­kork­tes sau­be­res Tin­ten­fläsch­chen vor mich hin; köst­li­che wei­ße Quart­bo­gen wur­den von uns bei­den zu­sam­men­ge­hef­tet, ich er­hielt Blei­stift und Li­ne­al und muss­te sie un­ter sei­ner An­lei­tung li­ni­ie­ren.

Von da ab hat­te ich nichts zu tun, als die vor mir auf­ge­schla­ge­ne »Welt­ge­schich­te für das deut­sche Volk« von Fried­rich Chri­stoph Schlos­ser ab­zu­schrei­ben. »Auf die­se Wei­se«, sag­te mein Va­ter, »lernst du le­sen, schrei­ben und Welt­ge­schich­te zu glei­cher Zeit.«

So weit wäre dies nun ganz gut ge­we­sen, hät­te nicht mein Va­ter ein täg­li­ches Pen­sum von mir ver­langt, ge­gen das mei­ne frü­he­ren Schul­auf­ga­ben ein­fach nicht in Be­tracht ka­men. Mit zwei be­krit­zel­ten und be­klecks­ten Sei­ten mei­nes Schul­hef­tes er­klär­te Bren­del sei­ne Zufrie­den­heit, jetzt muss­te ich sit­zen wie an­ge­na­gelt und wur­de nicht eher los­ge­las­sen, bis das mir un­mög­lich Schei­nen­de Wahr­heit ge­wor­den war und ich sechs bis acht Druck­sei­ten sau­ber ko­piert hat­te.

Das Abenteuer meiner Jugend

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