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Zweiundzwanzigstes Kapitel

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Der Gast­hof Zur Son­ne, dem Kur­haus­por­tal schräg ge­gen­über, wur­de ge­führt von ei­nem ehe­ma­li­gen Schul­leh­rer, der die Toch­ter des Pas­tors Booß an der evan­ge­li­schen Kir­che zu Nie­der-Salz­brunn ge­hei­ra­tet hat­te. Die­ser Pas­tor Booß war ein äl­te­rer, klu­ger Mann und sehr wohl­ha­bend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war sei­ne im­mer wie­der­keh­ren­de, un­ver­meid­li­che Re­dens­art.

Wenn er mei­ne El­tern be­such­te, ge­sch­ah es auf einen Au­gen­blick: »Hörn Sie nur, ich habe nur eine Se­kun­de Zeit, hörn Sie nur. Die Ar­beit wächst mir über den Kopf, hörn Sie nur. Der Ober­kir­chen­rat, hörn Sie nur, und, hörn Sie nur, alle die neu­en Zu­stän­de! Wir be­kom­men auch noch die Zi­vilehe, hörn Sie nur! Es wird ja al­les jetzt auf den Kopf ge­stellt.«

Aus der Se­kun­de, die Pas­tor Booß sich ge­stat­ten woll­te, wur­de erst eine vier­tel, dann eine hal­be Stun­de, zu­letzt wur­de eine Stun­de, wur­den zwei, drei, vier dar­aus: so gut hat­te sich der alte Herr je­des Mal mit mei­nem Va­ter und mei­ner Mut­ter aus­ein­an­der­ge­setzt. Da­bei hör­te er we­ni­ger ih­nen als sie ihm die Beich­te ab.

Ich weiß nicht, aus wel­chem Grun­de der da­ma­li­ge Wirt der Son­ne, Ru­dolf Bei­er, sei­nen Lehr­be­ruf an den Na­gel ge­hängt hat­te. »Ich war nun nicht ge­ra­de ganz ein­ver­stan­den, hörn Sie nur, hörn Sie nur«, er­klär­te des öf­tern der Pas­tor, »aber es war nicht recht zu ma­chen mit ihm. Mei­ne Toch­ter hat ihn ge­hei­ra­tet. Was soll­te ich tun? Ich habe ihm also den Gast­hof ge­kauft. Ein­ver­stan­den war ich nicht ge­ra­de mit der Wahl mei­ner Toch­ter, hörn Sie nur, aber in sol­chen Fäl­len ist gu­ter Rat teu­er.«

Am Ende ei­nes pa­stör­li­chen Kur­haus­be­su­ches wa­ren oft man­che lee­re Wein­fla­schen bei­sei­te ge­stellt.

*

Carl und ich teil­ten mit der Mut­ter ein Schlaf­zim­mer. Fens­ter und Gla­stü­ren gin­gen auf eine brei­te Ve­ran­da hin­aus. Dar­un­ter lag eine win­ters ge­spens­tisch ver­öde­te Ter­ras­se, an wel­che die Kur­pro­me­na­den und ‑an­la­gen grenz­ten. Wir Jun­gens be­son­ders stell­ten uns vor, dass Ein­brü­che von der Ter­ras­se über die Ve­ran­da in den nied­ri­gen ers­ten Stock nicht um­ständ­lich sein müss­ten, wenn auch hie und da der Nacht­wäch­ter mit der Pfei­fe durch die An­la­gen ging.

So freund­lich die an der Stra­ße ge­le­ge­ne Vor­der­sei­te des Kur­saals war, umso grus­li­ger war des Nachts die Rück­sei­te. Wenn der Sturm von den klap­pern­den Ga­beln der al­ten Bäu­me heu­lend oder wie eine Kat­ze grei­nend die letz­ten Blät­ter riss und Ge­wöl­ke über den Mond jag­ten, wäre nie­mand un­ter den Salz­brun­nern ein Gang durch den Kur­park rat­sam er­schie­nen, der som­mers tag­täg­lich ein bun­ter Fest­saal war.

*

Ent­le­ge­ne Tanz­lo­ka­le sind in Schle­si­en volks­tüm­lich, in Wäl­dern und auf Hö­hen ge­le­gen dop­pelt be­liebt. Da der Päch­ter von Wil­helms­höh wohl schwer­lich hät­te die Pacht zah­len kön­nen, wenn er nur mit dem Som­mer und den Kaf­fee­gäs­ten des Ba­des zu rech­nen ge­habt hät­te, be­saß er die Kon­zes­si­on, zu ge­wis­sen Zei­ten Tanz­mu­si­ken ab­zu­hal­ten. Der von Ma­ler Raa­be im Geis­te der Ro­man­tik burg­ar­tig er­rich­te­te Bau und Aus­flugs­ort, schwe­bend über dem In­dus­trie­be­zirk, hat­te die größ­te Eig­nung da­für. Das Pub­li­kum aber, das in den Som­mer- und Win­ter­näch­ten auf und ab ström­te, er­for­der­te einen furcht­lo­sen Wirt, wie den Mül­ler von Wil­helms­höh, der nö­ti­gen­falls zu bo­xen ent­schlos­sen, ja un­ter Um­stän­den zu noch an­derm fä­hig war. Er ist ein­mal, wie man sag­te, in einen Zwei­kampf mit ei­nem Koh­len­ar­bei­ter, der blu­tig aus­ging, ver­wi­ckelt wor­den.

Kein Wun­der, dass sol­ches und ähn­li­ches un­se­re jun­gen Ge­mü­ter auf­reg­te. Ich muss der Wahr­heit ge­mäß er­klä­ren, we­ni­ger mich als den Bru­der Carl. Nie ging er zu Bett, be­vor er nicht al­les ab­ge­leuch­tet und in­son­der­heit fest­ge­stellt hat­te, dass kein Ein­bre­cher etwa ver­steckt un­ter ei­ner Bett­stel­le lag. Man ließ ihn ge­wäh­ren, da ja eine ge­wis­se Vor­sicht an sich nicht ver­werf­lich ist, und such­te nur, ihr Über­maß ab­zu­dämp­fen. Ich aber habe Carl ein­mal einen Scha­ber­nack ge­spielt. Ich mach­te, da ich ge­wöhn­lich frü­her als er zu Bett ge­schickt wur­de, aus Hose, Wes­te, Rock und Hut mei­nes Va­ters einen Po­panz zu­recht, den ich un­ter sein Bett leg­te. Ich hielt einen mit den Ar­men der Pup­pe ver­bun­de­nen Bind­fa­den in der Hand, wach­te in mei­nem Bet­te und war­te­te. End­lich kam mein Bru­der her­ein, wäh­rend ich mich schla­fend stell­te, und leuch­te­te mit ei­ner Ker­ze al­les ab.

Als er un­ter sei­ne Bett­stel­le ge­blickt hat­te, tat er es zum zwei­ten Male, wor­auf ich an mei­ner Schnur zupf­te. Er stand er­starrt, hielt das Licht und reg­te sich nicht, bis er da­mit auf den Ze­hen ge­gen die Tür und aus dem Zim­mer schlich.

Mit Dok­tor Straeh­ler, mei­nem Va­ter und mei­ner Mut­ter kam er nach ei­ni­ger Zeit zu­rück. Die Her­ren tru­gen je­der sein Bil­lard­queue, mei­ne Mut­ter lach­te und nann­te Carl einen dum­men Kerl. Und nun ging’s an ein Un­ter-die-Bet­ten-Gu­cken.

Ich hat­te die Pup­pe fort­ge­räumt, als mein Bru­der aus dem Zim­mer war. Jetzt, bei der wach­sen­den Hel­le, spiel­te ich Auf­wa­chen. Der Va­ter, die Mut­ter, der On­kel hat­ten je­der ein Licht in der Hand, und der On­kel glos­sier­te die Hand­lung: »Nein, hier liegt der Ha­lun­ke nicht! Hier ist die Ca­nail­le auch nicht vor­han­den! Der Bube hat sich in Luft auf­ge­löst. Hier steht ein Ge­fäß aus Por­zel­lan, ge­gen des­sen Ge­gen­wart nichts zu sa­gen ist.«

*

Das Bil­lard­zim­mer, aus dem die Her­ren und mei­ne Mut­ter her­ka­men, bil­de­te in sei­ner Wär­me und durch­leuch­te­ten Be­hag­lich­keit, sei­nem grü­nen Bil­lard­tuch und sei­nem Eck­so­fa einen Ge­gen­satz zu dem un­ge­müt­li­chen Schlaf­zim­mer. Hier ahn­te man von der wüs­ten Öde der hin­ter­wär­ti­gen An­la­gen nichts. Wenn sich mein Va­ter mit dem On­kel Dok­tor bei ei­nem Gla­se Grog im Bil­lard­spie­le maß, saß mei­ne Mut­ter in der So­fae­cke und sti­chel­te ge­müt­lich an ei­ner Weiß­näh­te­rei.

Es bil­de­te sich bei die­sem Zu­sam­men­sein ein hei­ter-fa­mi­li­ärer Ton. Es er­wärm­te uns, dass der jo­via­le, le­bens­fro­he und ele­gan­te Mann sich bei uns wohl­fühl­te. Aber es kam doch vor, dass mein Va­ter ihn zur Ord­nung rief, weil er sich auf bur­schi­ko­se Art und Wei­se, wenn auch nicht ohne Hu­mor, ge­hen ließ.

Man weiß, wel­che Art von Lus­tig­keit bei Bil­lard­spie­lern, die kei­ne Be­rufs­s­pie­ler sind, üb­lich ist. Sind die El­fen­bein­bäl­le zu lang­sam, so wird ih­nen zu­ge­re­det. Wenn sie zu schnell lau­fen, ruft man: »Hal­thalt!« Man schiebt gleich­sam äch­zend einen schwe­ren Wa­gen durch die Luft, wenn sie, im Be­griff, ihr Ziel zu er­rei­chen, kraft­los wer­den. Eine durch Zu­fall ge­glück­te Ka­ram­bo­la­ge ent­fes­selt den der Span­nung ent­fah­ren­den Auf­schrei: »Fuchs!«, oder man sagt: »Mehr Glück als Ver­stand.«

Der ele­gan­te Ba­de­arzt mach­te sich lang, er zog sich wie ein Fern­rohr aus, wenn er die Bahn ei­nes Bal­les ver­län­gern woll­te. Mein Va­ter, des­sen ge­las­se­ne Über­le­gen­heit wir Kin­der be­wun­der­ten, hat­te sei­ne Freu­de dar­an. Der On­kel Dok­tor hob das rech­te, das lin­ke Bein, wenn er sich über die Ban­de des Bil­lards leg­te, er schnitt Gri­mas­sen, und so kam es ein­mal bis zu ei­ner von ihm nicht ge­ra­de ge­woll­ten Stei­ge­rung, wo die Spaß­haf­tig­keit durch De­to­na­ti­on von un­er­laub­ter Stel­le durch ihn über­schrit­ten wur­de.

Da er Vor­wür­fe mei­nes Va­ters im Hin­blick auf mei­ne ge­gen­wär­ti­ge Mut­ter nur mit ei­nem jun­gens­haf­ten La­chen quit­tier­te, blieb schließ­lich auch sei­ner Base nichts üb­rig, als ei­nem sol­chen Vor­fall mit dem auch ihr an­ge­bo­re­nen Straeh­ler­schen Hu­mor zu be­geg­nen.

*

Das Of­fen­hal­ten des Kur­hau­ses den Win­ter über war dem pa­stör­li­chen Schwie­ger­sohn und Son­nen­wirt ganz ge­wiss nicht an­ge­nehm, wur­de doch ein Gut­teil sei­ner sons­ti­gen Aus­flugs­gäs­te da­hin ab­ge­lenkt. Er war mei­nem Va­ter über­haupt nicht grün, und die­ser stand mit­un­ter nicht an, sich über sein Käp­pi und sei­ne Die­ne­rei­en um die Schlit­ten und Wa­gen lus­tig zu ma­chen.

Trotz­dem fuhr ich die klei­nen Bei­ers im Stuhl­schlit­ten wohl ver­packt her­um und be­treu­te sie wie ein Kin­der­mäd­chen. Die­ser Zug, der sich schon bei den Mär­chen­er­zäh­lun­gen am Fuhr­mann Krau­se­schen Ofen an­ge­mel­det hat­te, wo Gu­stav und Ida Krau­se die Nutz­nie­ßer wa­ren, und der sich nun auf Ag­nes und Ru­dolf Bei­er über­trug, soll­te mich lan­ge durchs Le­ben be­glei­ten.

Ei­gent­lich wur­den we­ni­ger die eins­ti­gen Gäs­te der Son­ne als eine an­de­re, neue Schicht von Gäs­ten in den Kur­saal ge­zo­gen. Bei ei­ner Art Klub, der sich zwang­los ge­bil­det hat­te, stand zum Bei­spiel der Weiß­stei­ner Gent­le­man-Bau­er Karl Tscher­sich im Mit­tel­punkt. Sein Be­dürf­nis nach bäu­er­li­chem Lu­xus rich­te­te sich auf kost­ba­re Pfer­de, Wa­gen und Schlit­ten, Pel­ze in Form von Jacketts, Män­teln und Pelz­müt­zen, auf Schmuck und Stof­fe für die Frau, auf lu­xu­ri­öse Pfer­de- und Kuh­stäl­le, alle Sor­ten der teu­ers­ten und neues­ten Jagd­ge­weh­re im Büch­sen­schrank, auf sil­ber­be­schla­ge­ne Ge­schir­re und präch­ti­ges Sat­tel­zeug, dann aber auf reich­li­che und aus­ge­such­te Spei­sen und Ge­trän­ke.

Wo er auf­tauch­te – und er war Tag für Tag un­ter­wegs –, wuss­te man: Karl Tscher­sich spart mit dem Gel­de nicht! So muss­te sich auch mein Va­ter für den Tscher­sich-Kreis ganz be­son­ders vor­be­rei­ten. Fäss­chen mit Aus­tern ka­men aus den See­städ­ten, le­ben­de Hum­mer und Ka­vi­ar, und der Cham­pa­gner durf­te nicht aus­ge­hen.

*

Un­ge­heu­er war für mich und Carl die Sen­sa­ti­on, als es hieß, dass die Aus­ter le­ben­dig ge­ges­sen wür­de. Wir tru­gen die­se un­glaub­li­che Neu­ig­keit un­ter die Schul­ju­gend und spra­chen meh­re­re Wo­chen nur im­mer da­von. Auch war der Ver­such, eine Aus­ter zu es­sen, mit uns Jun­gen ge­macht wor­den, aber mit dem be­kann­ten Er­fol­ge, den man Er­bre­chen nennt.

Da­ge­gen wur­den über Karl Tscher­sich Wun­der­din­ge in die­ser Be­zie­hung be­rich­tet: er schluck­te Dut­zen­de die­ser Tie­re hin­un­ter und hör­te nur un­gern auf, weil er un­er­sätt­lich war.

Ich zweifle nicht, dass in die­sem Krei­se bei ge­schlos­se­nen Tü­ren ge­jeut wur­de. Ir­gend­wie an die Bild­flä­che tra­ten wir Brü­der bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten nicht. Wir wa­ren ge­bannt in un­se­re Pri­vat­zim­mer. Dort steck­ten wir die Köp­fe zu­sam­men und tu­schel­ten über die un­ter uns in den Ga­sträu­men sich be­ge­ben­den span­nen­den Din­ge. Ein Kauf­mann Lachs, der sein Schnitt­wa­ren­ge­schäft am Rin­ge der Kreis­stadt Wal­den­burg hat­te, hielt meis­tens die Bank. Was das be­deu­te­te, wuss­ten wir, wir hat­ten es längst aus den Ge­sell­schaftss­pie­len ge­lernt und aus dem Han­tie­ren mit Spiel­mar­ken. Der mär­chen­haf­te Reich­tum des Bau­ern be­schäf­tig­te uns, und wir glaub­ten, die Gold­stücke klin­geln zu hö­ren.

Ei­nes Nachts oder Abends, ge­gen halb elf, wur­de es plötz­lich sehr laut un­ter uns. Stüh­le wur­den ge­rückt, Ti­sche fie­len um, und ir­gen­det­was Glä­ser­nes ging mit Ge­schmet­ter in tau­send Scher­ben. Da sich nun et­was mit Ge­brüll von Zim­mer zu Zim­mer ge­gen den Aus­gang be­weg­te, tra­ten wir an die Fens­ter, die gra­de überm Por­ta­le la­gen, und sa­hen nun je­mand – es war der Kauf­mann Lachs – wie aus der Pis­to­le ge­schos­sen ins Freie stür­zen. Hin­ter ihm drein Tscher­sich mit ei­nem Bil­lard­queue – man weiß, sie sind un­ten mit Blei ge­füllt –, das er mit dem Schwung sei­ner gan­zen Bä­ren­kraft hin­ter dem Flüch­ti­gen her­schleu­der­te. Er fehl­te ihn, Gott sei Dank traf er ihn nicht, sonst wä­ren wir viel­leicht Zeu­gen ei­nes Tot­schlags ge­wor­den.

Hat­te nun Lachs vor­her zu viel Geld ge­won­nen? Je­den­falls war die Ka­ta­stro­phe nur durch eine klei­ne Unacht­sam­keit aus­ge­löst wor­den. Er schmeck­te eine große Bow­le ab und goss sein Glas, nach­dem er ge­kos­tet hat­te, in das Bow­len­ge­fäß zu­rück. Hier­auf wur­de Tscher­sich blau­rot im Ge­sicht, stieß ei­ni­ge Ti­sche und Stüh­le um, er­griff mit bei­den Hän­den die Bow­le und schmet­ter­te sie auf die Erde, dann rann­te er nach dem Bil­lard­queue, zu­gleich aber Lachs nach der an­de­ren Sei­te, so­dass ein Ab­stand zwi­schen ihn und den Groß­bau­ern kam, als die­ser das Queue wie eine Keu­le ge­packt hat­te.

*

Das Weih­nachts­fest rück­te wie­der­um nä­her. Es kün­dig­te sich an in dem Be­schlus­se des Va­ter­län­di­schen Frau­en­ver­eins, die Ar­men­be­sche­rung des Jah­res im Kur­saal ab­zu­hal­ten. Da Ma­da­me Enke Vor­sit­zen­de des Ver­eins war, so hat­te mein Va­ter mit ihr und Dia­ko­nus Spah­ner Be­spre­chun­gen.

Zwei ge­wal­ti­ge Christ­bäu­me, von de­ren obers­ten Lich­tern die De­cke sich an­schwärz­te, wa­ren im klei­ne­ren Kur­haus­saal auf­ge­stellt. Auf weiß­ge­deck­ter Huf­eis­en­ta­fel la­gen die Ge­schen­ke por­ti­ons­wei­se. Wäh­rend der Fest­lich­keit stand je­der der ar­men Men­schen, alte Weib­chen, alte Männ­chen, ver­härm­te Frau­en, vor sei­ner Por­ti­on. Sie stan­den da und schäm­ten sich. Sie ge­trau­ten sich kaum, zum Ge­sang den Mund zu öff­nen, zu­mal die bei­den strah­len­den Bäu­me ih­ren leib­haf­ti­gen Jam­mer ins grells­te Licht setz­ten.

Wir, mein Va­ter und mei­ne Mut­ter, sa­hen die­ses uns neue Schau­spiel mit Ab­nei­gung. Die alte Men­zel, eine ver­schäm­te Arme, war bei uns un­ter­ge­kro­chen; das Weib­chen kam aus dem Zit­tern nicht her­aus.

Dia­ko­nus Spah­ner er­griff die für ihn sel­te­ne Ge­le­gen­heit, sei­ne Pre­di­ger­ga­be leuch­ten zu las­sen, wo­bei die Be­schenk­ten ihre Por­tio­nen im­mer noch nicht be­rüh­ren, son­dern nur mit den Au­gen ver­schlin­gen durf­ten. Die Pre­digt dau­er­te dop­pelt so lan­ge als nö­tig war. Dann aber, end­lich, schi­en man zur Sa­che zu kom­men.

Ma­da­me Enke er­hob sich, auf der pom­pö­sen Brust den Lui­sen­or­den, je­der Zoll Ma­ria-The­re­sia.

Ihr be­deu­ten­der Kopf mit der run­den Nase und zwei schwar­zen, feu­ri­gen Au­gen ge­hör­te eher der sla­wi­schen als der deut­schen Ras­se an. Sie hat­te die schöns­ten Stücke, Ohr­ge­hän­ge, Bro­schen, Hals­ket­ten, aus dem Fa­mi­li­en­schmuck der Hin­de­mith an­ge­legt, ganz dem fest­li­chen Abend an­ge­mes­sen. Und, wie ge­sagt: den Lui­sen­or­den, eine De­ko­ra­ti­on, die von ihr am meis­ten ge­schätzt und von al­len am meis­ten be­nei­det wur­de.

Hat­ten das Kind­lein in der Krip­pe, Ma­ria und Jo­seph, Ochs und Ese­lein aber je sol­che Wor­te ge­hört und in sol­chem Ton, wie sie aus dem Mun­de der Trä­ge­rin des Lui­sen­or­dens nun her­vor­gin­gen? Schon die ers­ten Ver­laut­ba­run­gen der wohl­tä­ti­gen Dame schie­nen den Bart­flaum, den sie auf der Ober­lip­pe trug, ge­wis­ser­ma­ßen zu recht­fer­ti­gen.

»Ihr wisst, dass ihr von mild­tä­ti­gen Men­schen hier be­schenkt wer­det«, hieß es un­ge­fähr, »und ich set­ze vor­aus, dass ihr das an­er­kennt und dank­bar seid.« Es klang re­so­lut, und man wuss­te so­fort, mit Frau Enke an­bin­den wür­de viel Ener­gie er­for­dern. Sie schüt­te­te dann, sich mehr­fach bis zu Kom­man­do­tö­nen stei­gernd, eine Fül­le mo­ra­li­scher For­de­run­gen aus, die nun noch von den ver­wirr­ten Gäs­ten des Christ­kin­des ver­ar­bei­tet wer­den muss­ten, be­vor sie ihre Por­tio­nen er­grei­fen durf­ten.

Und plötz­lich ver­nahm man zu all­ge­mei­nem Er­stau­nen und Be­frem­den et­was wie einen wü­ten­den Wort­wech­sel. Man er­kann­te dann, dass er ein­sei­tig war, dass näm­lich Ma­da­me Enke ein hohl­wan­gi­ges Berg­ar­bei­ter­weib aufs schreck­lichs­te öf­fent­lich ab­kan­zel­te: man hat­te ihm, hieß es, im vo­ri­gen Jahr Kin­der­klei­der und der­glei­chen ein­be­schert, die sie nicht ver­wen­det, son­dern ver­kauft habe. »Ei­gent­lich ge­hö­ren Sie gar nicht hier­her, Sie ver­die­nen gar nicht, aufs neue be­schenkt zu wer­den. Aber mer­ken Sie sich: es ist heu­te das letz­te Mal, falls Sie sich wie­der­um sol­cher Be­güns­ti­gung un­wür­dig zei­gen!«

Es war wohl der äu­ßers­te Tief­stand, auf den die ge­mü­ti­schen Ei­gen­schaf­ten der Ma­da­me Enke je ge­sun­ken wa­ren.

Die­ses Er­leb­nis, im ho­hen Gra­de roh, ent­rüs­tend und an­stö­ßig, ist mir als ein Pa­ra­dig­ma sol­cher Ver­an­stal­tun­gen, wie sie nicht sein sol­len, bis heu­te nach­ge­gan­gen. Ma­da­me Enke hat­te auf mei­ner Büh­ne aus­ge­spielt.

Das Abenteuer meiner Jugend

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