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Fünfundzwanzigstes Kapitel

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Die Sai­son war im Gang, das Ho­tel zur Kro­ne, wie im­mer um die­se Zeit, glich ei­nem Bie­nen­haus. An­kom­men­de Gäs­te, Kut­scher und al­ler­lei Leu­te lärm­ten im Hof.

»Hauf­fe, sullst assa kum­ma!« schrie die klei­ne, jetzt sie­ben­jäh­ri­ge Ida Krau­se mit durch­drin­gen­der Stim­me täg­lich um zwölf Uhr vom Haus hin­über zu den Stal­lun­gen. Den der­ben, klei­nen, re­so­lu­ten Strunk hat­te man gern, und mein Va­ter freu­te sich je­des Mal, wenn er Idas »Hauf­fe, sullst assa kum­ma!« ver­nahm. Sag­te man ihm, dass er ihr das Ge­schrei ver­bie­ten soll­te, lehn­te mein Va­ter la­chend ab.

Plötz­lich, nach­dem ich sie tags zu­vor noch ih­ren pflicht­ge­treu­en Ruf hat­te aus­sto­ßen hö­ren, wur­de be­kannt, Ida Krau­se sei tot. Sie war an Diph­the­ri­tis ge­stor­ben.

Der Ruf also, der den al­ten Pfer­de­knecht Hauf­fe zu je­nem Mit­ta­ges­sen auf­for­der­te, das ich selbst ein­mal als Gast am Krau­se­tisch un­ver­ge­ss­li­chen An­ge­den­kens ein­ge­nom­men hat­te, er­scholl von nun an in Ewig­keit nicht mehr. Ein schein­bar un­s­terb­li­ches Et­was, ein tüch­ti­ges, bei all sei­ner Ju­gend be­reits ar­beits­wü­ti­ges Bau­ern­mä­del hat­te sich ins Nichts auf­ge­löst. Ich habe we­der die Lei­che ge­se­hen, noch habe ich den klei­nen Sarg be­glei­tet, als man Ida un­ter Voran­tritt der Schu­le und des Leh­rers Bren­del vom Ober­dorf nach dem Nie­der­dorf, par­al­lel dem Flus­se der Salz­bach, zu Gra­be trug.

Die­ser Tod, un­zei­tig bis zum Wi­der­sinn, gab mir zwar im­mer wie­der zu den­ken, nahm mir je­doch sel­ber nichts von mei­ner kna­ben­haf­ten Le­bens­si­cher­heit.

*

Ich weiß nicht, wie ein neu­er Brun­nen­in­spek­tor na­mens Man­ser zu sei­nem Pos­ten ge­kom­men und Nach­fol­ger mei­nes Groß­va­ters ge­wor­den ist. Er hat­te den Krieg als Feld­we­bel mit­ge­macht und war mit dem Ei­ser­nen Kreuz I. Klas­se für be­son­de­re Ver­diens­te be­lohnt wor­den. Ein bar­scher und mi­li­tä­ri­scher Ton mach­te ihn an­fangs un­be­liebt. Er un­ter­lag hier­in der Zeit­mo­de. Auch mit mei­nem Va­ter ge­riet er des­we­gen sehr bald in Kol­li­si­on. »Ich ver­bit­te mir die­sen Un­ter­of­fi­zier­ston!« wa­ren die Wor­te, mit de­nen mein Va­ter ei­nes Ta­ges den Ver­kehr zwi­schen sich und dem neu­en Man­ne ge­re­gelt hat­te. Ob es ihn wohl mil­der stimm­te und ob er über­haupt dar­an dach­te, dass die Kar­rie­re sei­nes ver­stor­be­nen Va­ters, wie die Man­sers im Sieb­zi­ger Krieg, in den Frei­heits­krie­gen ihre Wur­zel hat­te, aus de­nen er eben­falls als Feld­we­bel und mit Aus­zeich­nung her­vor­ge­gan­gen war?

Ich er­in­ne­re mich ei­nes Vor­gangs auf der Pro­me­na­de, der eine Sei­te des neu­en Geis­tes be­son­ders sicht­bar mach­te. Schon frü­her wa­ren in Salz­brunn Ti­ro­ler auf­ge­taucht, durch die grü­ne, knie­freie Tracht und der­bes ge­na­gel­tes Schuh­werk kennt­lich. Ei­ner von ih­nen hat­te so­gar eine le­ben­de Gem­se mit­ge­bracht. Er schob sie in ei­ner Kis­te, über die ihr Rücken und Kopf nur eben hin­aus­rag­te, auf sei­nem Kar­ren von Ort zu Ort: »Willst du nicht das Lämm­lein hü­ten?« Die Bal­la­de Fried­rich Schil­lers vom Gem­sen­jä­ger steck­te mir be­reits im Kopf:

… Plötz­lich aus der Fel­sen­spal­te

tritt der Geist, der Ber­ge­sal­te.


Und mit sei­nen Göt­ter­hän­den

schützt er das ge­quäl­te Tier.

›Musst du Tod und Jam­mer sen­den‹,

ruft er, ›bis her­auf zu mir?

Raum für alle hat die Erde –

was ver­folgst du mei­ne Her­de?‹

Man mag er­mes­sen, wel­chen Ein­druck mir nun die Ge­gen­wart ei­ner wirk­li­chen Gem­se hät­te ma­chen sol­len. Aber ei­gent­lich war ich ein we­nig ent­täuscht, denn das fried­li­che Tier­chen, das sich durch­aus und durch­um, aber be­son­ders durch sei­ne Hörn­chen, als wirk­li­che Gem­se er­wei­sen konn­te, stell­te sich doch auch als na­her Ver­wand­ter uns­rer ge­wöhn­li­chen Zie­ge her­aus, nur schi­en es mir gü­ti­ger, rei­ner, herz­li­cher. Dass es sich, ge­wohnt an den Glanz und die Frei­heit al­pi­ner Schnee­gip­fel, in sei­ner Kis­te wohl­fühl­te, glaub­te ich nicht, ob­gleich es sich für ge­reich­te Gras­bü­schel und Blät­ter dank­bar er­zeig­te.

Ein an­de­rer Ti­ro­ler, zwar ohne Gem­se, er­schi­en auf der über­füll­ten Pro­me­na­de ei­nes Ju­li­nach­mit­tags. Die Kur­ka­pel­le mu­si­zier­te mit be­son­de­rer Ver­ve in ih­rem Pa­vil­lon. Mein On­kel Her­mann, der Ba­de­arzt, im grau­en Geh­rock und grau­en Zy­lin­der, so­wie sei­ne Kol­le­gen, Dok­tor Va­len­ti­ner und Sa­ni­täts­rat Bie­fel, nicht min­der ele­gant, la­gen wie im­mer vor dem Por­tal des Brun­nen­hau­ses pe­ri­pa­te­tisch1 ih­rer Pra­xis ob. Schwind­süch­ti­ge und Ge­sun­de pro­me­nier­ten durch­ein­an­der, je­der das Glas mit kal­tem oder ge­wärm­tem Brun­nen oder ei­nem Ge­misch von Esels­mol­ken und Brun­nen in der Hand.

Der sau­ber und sti­lecht ko­stü­mier­te Ti­ro­ler war ein schö­ner, zwi­schen sech­zig und sieb­zig ste­hen­der al­ter Mann mit kraft­voll ge­bräun­ten Kni­en und präch­ti­gen Schul­tern. Sein ge­wal­ti­ger Schnurr­bart, der kein dunkles Haar zeig­te, war wohl­ge­wach­sen und wohl­ge­wichst, sein dich­tes, schnee­wei­ßes Haupt­haar des­glei­chen. Wie eine glän­zen­de, bürs­ten­ar­ti­ge Kap­pe stand es um sei­nen Kopf.

Das Wohl­ge­fal­len war groß, wo im­mer dies Mus­ter­exem­plar ei­nes Stei­er­mär­kers, Kärnt­ners oder Pinz­gau­ers vor­über­kam. Man wur­de dann all­ge­mein auf ihn auf­merk­sam, als er sich vor dem Mu­sik­tem­pel un­ter den Au­gen der Kur­ka­pel­le und ih­res Di­ri­gen­ten zu tun mach­te.

Sei­ne Vor­keh­run­gen, die ich wie alle, die sie sa­hen, mit ei­ner Art hei­te­ren Span­nung ver­folg­te, zeig­ten eine ge­wis­ser­ma­ßen hu­mo­ris­ti­sche Selt­sam­keit. Er rück­te zu­nächst eine klei­ne, qua­dra­ti­sche, frisch ge­ho­bel­te Kis­te im Gar­ten­kies zu­recht, die er mit ei­nem ro­ten Tuch über­deck­te. Es lös­te all­ge­mei­nes Ge­läch­ter aus, als er mit sei­nen Na­gel­schu­hen die­sen far­bi­gen So­ckel be­trat und kra­chend ein­drück­te.

Der ker­ni­ge Mann ging nun ohne sein Pie­de­stal2 dazu über, die Dar­bie­tung der Kur­ka­pel­le mit schril­lem Vo­gel­ge­schmet­ter zu be­glei­ten, was, wäre es nicht so rüh­rend naiv ge­we­sen, ohne Zwei­fel ein Un­fug war. Als er sei­ne Kunst eine Wei­le zum Er­göt­zen der Pro­me­na­de aus­ge­übt hat­te, sah man drei Brun­nen­schöp­fer in schle­si­scher Bau­ern­tracht, mit lan­gen Schaft­s­tie­feln an den Fü­ßen, durch das bun­te Ge­wüh­le schwer her­an­trap­sen. Das Trio pack­te den weiß­haa­ri­gen Mann, nahm ihn, no­lens vo­lens, teils am Kra­gen, teils bei den Hän­den und führ­te ihn trotz sei­nem Wi­der­stan­de, sei­nem ei­ge­nen Pro­tes­te und dem der Kur­gäs­te in das Keller­ge­fäng­nis des Po­li­zei­ge­wahr­sams ab. Man­ser, der neue Brun­nen­in­spek­tor, hat­te, sei­ne Kom­pe­tenz über­schrei­tend, die­se sinn­lo­se Ar­re­tie­rung ver­fügt.

Die Em­pö­rung war all­ge­mein. Wo­chen­lang müs­sen dem neu­en Man­ne die Ohren von kei­nes­wegs schmei­chel­haf­ten Ur­tei­len über die Bru­ta­li­tät sei­nes wi­der­sin­nig-an­ti­deut­schen Ein­griffs ge­klun­gen ha­ben.

Mei­ne Schwes­ter Jo­han­na war aus der Pen­si­on zu­rück­ge­kehrt, zu ei­nem schö­nen Mäd­chen her­an­ge­wach­sen und ein wah­res Mus­ter­bei­spiel von Wohl­er­zo­gen­heit. Sie wohn­te in ei­nem Zim­mer­chen des Ho­tels, hielt sich aber tags­über meist im Kur­län­di­schen Hof, dem Hau­se des Fräu­leins von Ran­dow, auf, de­ren Pfle­ge­toch­ter, Fräu­lein Jasch­ke, eine ge­prüf­te Leh­re­rin, ihr Un­ter­richt im Fran­zö­si­schen gab und über­haupt ihre Er­zie­hung fort­setz­te.

Wie Jo­han­na jetzt mit Mes­ser und Ga­bel bei Tisch ver­fuhr, er­reg­te mir stau­nen­de Be­wun­de­rung. Die eng­li­sche Art und Wei­se zu es­sen, bei der man um nichts in der Welt das Mes­ser zwi­schen die Lip­pen brin­gen durf­te, war da­mals auf­ge­kom­men. Selbst­ver­ständ­lich, dass Jo­han­na ge­schmack­voll ge­klei­det war und dass ihr ge­sam­tes Auf­tre­ten nun­mehr dem ei­ner Toch­ter aus gu­tem Hau­se ent­sprach. So war ich über­aus stolz auf sie, ob­gleich ich mich zu ähn­lich ab­ge­zir­kel­ten For­men, was mich selbst be­traf, kei­nes­wegs ver­ste­hen konn­te.

Wenn ich mich mit mei­ner schö­nen Schwes­ter da­mals in den Pro­me­na­den zei­gen konn­te, fand sich da­ge­gen mein Fa­mi­li­en­stolz aufs höchs­te be­frie­digt.

Be­stän­dig schi­en sie Ge­burts­tag zu ha­ben, wenn man die Hul­di­gun­gen durch Kon­fekt und Blu­men be­rück­sich­tig­te, mit de­nen tag­aus, tagein ihr Zim­mer be­dacht wur­de.

Ein be­son­de­rer Ver­eh­rer Jo­han­nas war der alte Os­tel­bier3 Huhn, der­sel­be, der mir ein­mal das Da­naer­ge­schenk des Roll­wa­gens mit vier Pfer­den in ei­nem Ver­kaufs­stand der Eli­sen­hal­le auf­ge­drängt hat­te. Auch Gu­stav Haupt­mann, wie selbst­ver­ständ­lich, hul­dig­te ihr. Es war nicht das ers­te Mal, dass ei­ner hüb­schen Nich­te ge­gen­über der On­kel in den Cour­ma­cher über­ging.

Durch Jo­han­nas Er­fol­ge wur­de da­mals Tan­te Eli­sa­beth Straeh­ler, eine der nun ver­wais­ten Schwes­tern vom Dachrö­dens­hof, aus ih­rem Ver­steck her­vor­ge­lockt. Dass sie be­reits zwei­und­drei­ßig zähl­te, die Nich­te Jo­han­na aber kaum sieb­zehn, konn­te sie die­ser schwer ver­ge­ben. Noch ist mir ihr Ant­litz er­in­ner­lich, des­sen Nase und Mund eine ge­wis­se Scheel­sucht nicht ver­ber­gen konn­ten, wenn sie Jo­han­nas an­sich­tig ward. Da trug mei­ne Schwes­ter etwa ein zu kur­z­es Kleid, oder es war zu tief aus­ge­schnit­ten. Sie nann­te es auch einen Skan­dal, wenn es sich durch leb­haf­te Far­ben und hüb­schen Schnitt aus­zeich­ne­te, und stand nicht an, auf ge­wis­se pro­vo­kan­te Da­men der Stra­ße da­bei an­zu­spie­len. Ihr Mund­werk brach­te es manch­mal so weit, dass sich Hann­chens Zorn in wü­ten­den Trä­nen aus­tob­te.

*

Die Res­te des Geis­tes vom Dachrö­dens­hof stan­den nicht mehr im Zen­trum des Orts, son­dern wa­ren gleich­sam ir­gend­wo ins Dun­kel der Pe­ri­phe­rie ge­rückt, be­son­ders seit Man­ser er­schie­nen war und eine an­geb­lich ziem­lich pomp­haf­te Re­si­denz in den lan­gen Dienst­ge­bäu­den hin­ter dem Brun­nen­hof er­rich­tet hat­te. Für das buck­li­ge Tänt­chen Au­gus­te gilt dies in­des­sen nur be­dingt. Fromm und re­si­gniert wie sie im­mer war, wur­de sie nur durch das bit­te­re Auf­bäu­men ih­rer Schwes­ter ge­gen die ver­än­der­ten Um­stän­de auf­ge­stört und in de­ren see­li­sche Mi­se­ren wie­der und wie­der ge­gen ihre Nei­gung hin­ein­ge­zo­gen. Ge­mein­sam frei­lich war bei­den Schwes­tern die ent­schie­de­ne Ab­sa­ge an die neue Zeit, die sie durch­aus nicht ver­ste­hen konn­ten, nur dass Tan­te Au­gus­te sich nicht erst jetzt von der Welt ab­zu­wen­den brauch­te, da sie schon seit lan­gem ihr Ge­nü­gen in der Bi­bel, in Tho­mas a Kem­pis, in from­men Poe­si­en und Mu­sik ge­sucht und ge­fun­den hat­te.

*

Um jene Zeit schloss ich mich auf eine fast selt­sa­me Wei­se an mei­ne Schwes­ter an. Lieb­te ich sie? War es Ei­fer­sucht? Ich maß­te mir je­den­falls an, sie auf man­cher­lei Wei­se zu ty­ran­ni­sie­ren.

Ich hat­te Freu­de an je­dem heim­li­chen Scha­ber­nack. Hat­te mei­ne Schwes­ter sich in den hei­ßen Nach­mit­tags­stun­den, um zu schrei­ben, zu le­sen oder zu ru­hen, in ihr Zim­mer zu­rück­ge­zo­gen und ein­ge­schlos­sen, was bei dem Gast­hof­be­trieb nur na­tür­lich war, so schlich ich her­an, klopf­te be­schei­den an die Tür und war, wenn Jo­han­na öff­ne­te, nicht zu se­hen. Ich wie­der­hol­te die­sen Streich mehr­mals am Nach­mit­tag und wur­de von ihr nie­mals ent­deckt. Blieb be­greif­li­cher­wei­se das be­schei­de­ne Klop­fen mit der Zeit wir­kungs­los, so führ­te ich Faust­schlä­ge ge­gen die Tür, ein Un­fug, den mei­ne Schwes­ter nicht über­hö­ren konn­te.

*

Die Ver­kaufs­stän­de des Ba­de­or­tes reiz­ten um die­se Zeit mehr und mehr mei­ne Be­gehr­lich­keit. Bald war es ein Berg­kris­tall, eine wei­ße oder rote Koral­le, ein Achat­schäl­chen, das ich be­sit­zen woll­te, ein großer oder klei­ner Gum­mi­ball. Ein­mal war ich ver­ses­sen auf ein brau­nes le­der­nes Por­te­mon­naie, das die Son­ne ei­gen­ar­tig ge­bleicht hat­te. Es übte eine bei­na­he krank­haf­te An­zie­hungs­kraft auf mich aus. Ich hat­te mir pfen­nig­wei­se, ich weiß nicht wo, Geld zu­sam­men­ge­schnorrt, so­dass ich na­he­zu Drei­vier­tel des Prei­ses bei­sam­men hat­te. Mit der wach­sen­den Sum­me war ich wie­der und wie­der zum Ti­sche des flie­gen­den Händ­lers zu­rück­ge­kehrt, aber er ließ sich durch­aus nichts ab­mark­ten. Bis zur Verzweif­lung aus­ge­höhlt von der durch die­ses Por­te­mon­naie und sei­ne Pa­ti­na er­reg­ten Zwangs­idee, poch­te ich an Jo­han­nas Zim­mer. Ich poch­te und tob­te, bis sie öff­ne­te. Aber ich traf sie eben­so un­er­bitt­lich hart, wie der un­er­bitt­lich har­te Ver­käu­fer war.

Wenn ich von die­ser klei­nen Ge­schich­te ab­se­he, so muss ich ge­ste­hen, ich habe viel­fach nur aus Freu­de am Är­gern mei­ne Schwes­ter ge­quält. Schwer zu sa­gen, welch ein letz­tes Ge­fühl von Un­be­frie­digt­sein zu­grun­de lag. Vi­el­leicht war ir­gend­ein dump­fes Ha­dern mit ei­nem un­ver­stan­de­nen Ge­schick die Ur­sa­che, auf Grund ei­nes rast­lo­sen Un­be­ha­gens, das mich da­mals wohl ge­le­gent­lich über­kom­men hat, ei­ner Emp­fin­dung von Sinn­lo­sig­keit mei­ner Exis­tenz. Ein häss­li­cher Dä­mon, viel är­ger als Puck, hat­te mich in Be­sitz ge­nom­men.

*

Was für ein Neu­es woll­te da­mals in mir auf­ste­hen und wühl­te in mir? Habe ich mich viel­leicht im Spie­gel der Schön­heit er­blickt und miss­bil­ligt? Am Ende woll­te sich da­mals das Ende mei­ner un­be­wuss­ten Kind­haf­tig­keit lei­se an­kün­di­gen, aber: »Su­che nicht al­les zu ver­ste­hen, da­mit dir nicht al­les un­ver­ständ­lich blei­be«, sagt ein Phi­lo­soph. Und so las­se ich denn den Um­stand auf sich be­ru­hen, der das Rohe in mir ge­gen das Ve­re­del­te, das Wil­de ge­gen das Ge­setz­te, das Ther­si­tes­haf­te ge­gen das Gute, das Häss­li­che ge­gen das Schö­ne auf­zu­ru­fen schi­en.

Vi­el­leicht sah mei­ne Schwes­ter in mei­nem Ver­hal­ten mit Be­sorg­nis Zei­chen der Ver­wahr­lo­sung und hat­te sich mit ih­rer Leh­re­rin Mat­hil­de Jasch­ke dar­über aus­ge­spro­chen. Sie nahm mich je­den­falls ei­nes Ta­ges zu die­ser Dame und de­ren Pfle­ge­mut­ter, dem Fräu­lein von Ran­dow, mit.

Bei­de Per­sön­lich­kei­ten neig­ten sich mit ei­ner großen Zart­heit und Wär­me zu mir. Ich durf­te Tee trin­ken, Ku­chen es­sen und mich in den Räu­men des Hau­ses, ge­nannt Kur­län­di­scher Hof, nach Be­lie­ben um­se­hen. Wohl­füh­len konn­te sich hier ein zü­gel­lo­ses Na­tur­kind zu­nächst frei­lich nicht, aber es über­kam mich ein heim­li­ches Stau­nen, eine stil­le Be­wun­de­rung. Die Zim­mer mit ih­ren an­ti­ken Mö­bel­stücken und ih­ren Par­kett­fuß­bö­den ro­chen nach po­lier­tem Holz und nach Boh­ner­wachs und wa­ren mit Re­se­da und Gold­lack in Va­sen und Scha­len par­fü­miert.

Fräu­lein von Ran­dow war wohl­ha­bend. Ich habe die hohe, wür­de­vol­le Er­schei­nung mit der wei­ßen Rü­schen­hau­be und dem schlich­ten grau­en Ha­bit deut­lich in Erin­ne­rung. In ih­rem Be­sitz be­fand sich eine alte Vi­tri­ne, die von vier Moh­ren ge­tra­gen wur­de. Ein an­de­rer Schrank mit vie­len klei­nen Schü­ben war mit Oli­ven­holz four­niert und das Äu­ße­re je­des Fa­ches mit so­ge­nann­tem Land­schafts­mar­mor aus­ge­legt. Je­des der bei­den Stücke war eine Sel­ten­heit. Aber auch al­les üb­ri­ge der ge­sam­ten Ein­rich­tung war kost­bar und von er­le­se­nem Ge­schmack. Das Gan­ze, als es spä­ter durch Erb­schaft an Mat­hil­de Jasch­ke, her­nach auf mei­ne Schwes­ter über­ging, blieb jahr­zehn­te­lang eine Fund­gru­be und ist trotz man­cher Ver­käu­fe und Schen­kun­gen bis zum heu­ti­gen Tag noch nicht er­schöpft.

Die selbst­ver­ständ­li­che Frei­heit und Si­cher­heit, mit der mei­ne Schwes­ter sich im Hau­se der ad­li­gen Dame be­weg­te und wie sie hier gleich­sam als da­zu­ge­hö­rig be­trach­tet wur­de, stei­ger­te mei­nen Re­spekt vor ihr. Und in der Tat hat­te schon da­mals das Ver­hält­nis des weiß­ge­lock­ten Fräu­leins von Ran­dow zu ihr einen müt­ter­li­chen Cha­rak­ter an­ge­nom­men. Ähn­lich stand es mit Fräu­lein Jasch­ke, der Pfle­ge­toch­ter.

Ein re­so­lu­ter Geist und ein gol­de­nes Herz wa­ren ver­ei­nigt in ihr, Ei­gen­schaf­ten, wo­mit sie sich über­all durch­setz­te.

»Das größ­te Zart­ge­fühl schul­den wir dem Kna­ben«, sagt Ju­ve­nal. Es war auch der Grund­satz, nach dem ich im Kur­län­di­schen Hof be­han­delt wur­de. Hier er­schloss sich mir ah­nungs­wei­se ein bis da­hin un­be­kann­tes Bil­dungs­ge­biet, wenn es mich vor­erst auch nur sehr ge­le­gent­lich und sehr flüch­tig be­rüh­ren moch­te. Eine ge­wis­se Ver­wandt­schaft be­stand al­ler­dings zwi­schen die­sem Hau­se und Dachrö­dens­hof als den letz­ten Aus­läu­fern ei­ner Kul­tur, die im großen gan­zen ver­sun­ken war.

*

In der Um­ge­bung des Fräu­leins von Ran­dow herrsch­te der Geist hei­ter-erns­ter Welt­lich­keit, der kei­ne mo­ra­li­sche Schär­fe zeig­te und es ei­nem ganz an­ders als in der schar­fen At­mo­sphä­re um das buck­lig-from­me Tänt­chen Au­gus­te wohl­wer­den ließ, de­ren spit­ze Bli­cke und spit­ze­re Wor­te fort­wäh­rend Kri­tik üb­ten. Wel­che der bei­den Geis­tess­phä­ren an sich tiefer und be­deut­sa­mer war, ent­schei­de ich nicht.

Es war der Kum­mer mei­ner Mut­ter, dass mein Va­ter zu sei­ner Toch­ter Jo­han­na, so­lan­ge sie Kind war, kein freund­li­ches Ver­hält­nis ge­win­nen konn­te. Er schi­en sie im­mer zu­rück­zu­set­zen. Es war nicht zu er­grün­den, ob dies nun nach Hann­chens gleich­sam tri­um­pha­ler Rück­kehr aus der Pen­si­on an­ders ge­wor­den war. Im­mer­hin schi­en sich mein Va­ter zu­rück­zu­hal­ten, und wahr­schein­lich hat­te mei­ne Schwes­ter im Kur­län­di­schen Hof mit der im­po­nie­ren­den ad­li­gen Dame und ih­rer re­so­lu­ten und ge­bil­de­ten Pfle­ge­toch­ter einen neu­en und star­ken Rück­halt ge­fun­den.

Die­ser Rück­halt ver­stärk­te sich.

Er führ­te als­bald im Dachrö­dens­hof und so­gar bei mei­ner Mut­ter zu Ei­fer­sucht.

Tan­te Au­gus­te und Fräu­lein Jasch­ke hat­ten ein­an­der nichts zu sa­gen und mie­den sich. Eli­sa­beth stand Fräu­lein Jasch­ke nä­her, da sie im­mer noch Hoff­nun­gen welt­li­cher Art nähr­te, aber das Ver­hält­nis war krie­ge­risch. Nie ist zwi­schen bei­den das Kriegs­beil ver­gra­ben wor­den. Meis­tens war es die See­le Jo­han­nas, um die man auf bei­den Sei­ten stritt, Eli­sa­beth im ze­lo­ti­schen Sinn, Mat­hil­de ih­ren Zög­ling ver­tei­di­gend.

1 auf der Leh­re des Ari­sto­te­les be­ru­hend <<<

2 Pie­de­stal = (meist auf­wen­dig ge­stal­te­ter) So­ckel <<<

3 Groß­grund­be­sit­zer und Jun­ker <<<

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