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Vierundzwanzigstes Kapitel

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Ei­nes Mor­gens wach­te mei­ne Mut­ter, mit der ich, wie schon ge­sagt, das nicht sehr an­hei­meln­de Schlaf­zim­mer teil­te, auf eine selt­sa­me Wei­se auf. »Ger­hart, gehe doch mal«, sag­te sie, im Bett sich auf­rich­tend, »Ger­hart, gehe doch mal …« Wei­ter kam sie nicht. »Ger­hart, willst du so gut sein und …« Aber auch dies­mal kam sie nicht wei­ter. »Ger­hart, mir ist näm­lich, musst du wis­sen …« Aber­mals trat die Sto­ckung ein.

Ich er­kann­te so­gleich, dass mei­ne Mut­ter nur halb bei Be­sin­nung war und hilf­los um sich her tas­te­te. »Ger­hart, willst du nicht Va­ter sa­gen …«

Ich sprang aus dem Bett und rief ihn her­bei.

Dok­tor Straeh­ler, Dok­tor Oli­vie­ro und Dok­tor Rich­ter wur­den ge­ru­fen. Nach ih­rem ge­mein­sa­men Auss­pruch be­stand kein Zwei­fel, dass die furcht­ba­re Hand der herr­schen­den Pest in un­ser Haus und nach mei­ner Mut­ter ge­grif­fen hat­te. Sie war da, un­ter un­serm Dach, mit­ten un­ter uns. Kei­ner wuss­te, ob er ihr noch ent­ge­hen konn­te.

Die Kran­ke wur­de so­gleich im Hau­se iso­liert, so gut oder schlecht, wie es da­mals üb­lich war. Aber in­fol­ge der Ener­gie mei­nes Va­ters wur­den alle Vor­sichts­maß­re­geln, An­ste­ckung zu ver­mei­den, durch­ge­führt. Im­mer­hin lag der Ein­gang zum Kran­ken­zim­mer nur vier oder fünf Schritt von dem un­se­rer Wohn­stu­be. Carl und ich wur­den so­gleich ge­impft, alle Haus­ge­nos­sen des­glei­chen, und es hat denn auch eine Über­tra­gung der Krank­heit im Kur­haus nicht statt­ge­fun­den.

Dass mein Va­ter und wie mein Va­ter die Mut­ter lieb­te, er­wies sich bei die­ser Ge­le­gen­heit.

Der Kur­saal war nun also ein Blat­tern­haus. Er muss­te als Gast­hof ge­schlos­sen wer­den und wur­de – ich weiß nicht durch wel­che äu­ße­re Zei­chen – als ver­seucht kennt­lich ge­macht.

Wo­chen­lang sah mei­ne Mut­ter nur ihre »graue Schwes­ter« und den Arzt, selbst mein Va­ter durf­te sie nicht be­su­chen.

Als er uns mit­teil­te, was die Mut­ter be­trof­fen habe, war sei­nem sonst so un­be­weg­lich erns­ten Ge­sicht alle Stren­ge ver­lo­ren­ge­gan­gen. Sei­ne sonst so be­stimm­te Aus­drucks­wei­se war fast ton­los und beb­te vor Un­si­cher­heit: »Die arme Mut­ter ist krank, sehr krank. Wir müs­sen zu Gott be­ten, dass er die gute Mut­ter er­hal­te: die arme Mut­ter, die gute Mut­ter«, sag­te er, zwei Ei­gen­schafts­wor­te, die er bis­her, wenn er von ihr sprach, nie ge­braucht hat­te.

Sor­gen­vol­le Wo­chen ver­gin­gen nun, in de­nen wir auf das Be­fin­den der Mut­ter aus dem Ver­hal­ten des Va­ters schlie­ßen konn­ten, auch wenn er kei­ne Be­rich­te gab. Stieg im Kran­ken­zim­mer die Ge­fahr, so war der Va­ter schweig­sam und un­ru­hig, wa­ren die Ärz­te hoff­nungs­voll, so spür­ten wir das an ei­ner ge­wis­sen Zärt­lich­keit, mit der uns der Va­ter be­han­del­te.

Es kam dann ein Tag, an dem er nach dem Be­such der Ärz­te zu uns trat, die gol­de­ne Bril­le ab­nahm und putz­te und mit feuch­ten Au­gen sprach: »Un­ser lie­ber himm­li­scher Va­ter scheint be­schlos­sen zu ha­ben, dass wir un­se­re gute Mut­ter be­hal­ten sol­len. Sorgt nun, dass ihr sel­ber ge­sund bleibt, macht euch fort an die Luft, springt im Post­hof her­um, aber mei­det die an­de­ren Men­schen!«

Die Ärz­te be­hiel­ten recht. Bald be­zo­gen sich die Kran­ken­be­rich­te nur noch auf ein­zel­ne Pha­sen der Re­kon­va­les­zenz, den Rück­gang des Fie­bers und sein Ende, die Art und Men­ge der Nah­rungs­auf­nah­me, die man der Kran­ken zu­bil­lig­te, die Mit­tel, die man ge­gen die zu be­fürch­ten­den Blat­ter­nar­ben an­wand­te, Mit­tel, wel­che die Hoff­nung recht­fer­tig­ten, es wer­de im Ant­litz mei­ner Mut­ter kei­ne ent­stel­len­de Spur der über­stan­de­nen Krank­heit zu­rück­blei­ben.

Mit der Na­tur über Früh­lings­an­fang hin­weg wuchs mei­ne Mut­ter wie­der­um mehr und mehr ins Le­ben hin­ein, und ei­nes Ta­ges hieß es, sie kön­ne nun bald auf­ste­hen.

*

An die­sem Tage, mor­gens, wur­de mir in Ge­gen­wart mei­nes Va­ters bei dem Zwerg­schnei­der Leo, dem Lö­wen, ein eben fer­tig­ge­stell­tes neu­es Ge­wand, Jackett, Hose, Wes­te, an­ge­zo­gen. Ich war vor Ent­zücken au­ßer mir. Lei­der muss­te ich es wie­der aus­zie­hen, durf­te es aber an der Sei­te des Va­ters nach Hau­se tra­gen. Dass mein Va­ter zu über­ra­schen lieb­te, weiß man schon. Eine sol­che Über­ra­schung stand mir be­vor, ehe wir am Por­tal des Kur­hau­ses wie­der an­lang­ten. Mein Va­ter frag­te mich, wer denn wohl jene Dame sein möge, die hin­ter dem Fens­ter rechts über der Tür sit­ze. Ich blick­te hin­auf und sah eine lä­cheln­de, blei­che Frau, die mir zu­nächst Be­frem­den er­reg­te, bis ich dann plötz­lich be­griff, dass es mei­ne wie­der­er­stan­de­ne Mut­ter war.

Dies be­deu­te­te einen un­aus­sprech­lich glück­se­li­gen Au­gen­blick, der ein über­schweng­lich freu­di­ges Ra­sen in mir aus­lös­te. Ich hat­te die Mut­ter Wo­chen und Wo­chen lang nicht ge­se­hen. Auch ohne sie hat­te ich frei­lich ge­lebt, aber nun erst be­griff ich, dass dies ein ver­gleichs­wei­se ar­mes, kal­tes, me­cha­ni­sches Le­ben ge­we­sen war: im In­nern die Un­ge­duld und das Ab­war­ten. Nun aber traf mich der Strahl ih­rer krea­tür­li­chen Mut­ter­lie­be, al­les er­neu­ernd durch und durch.

Noch konn­te ich nicht hin­auf zu ihr und ihr um den Hals flie­gen, noch nicht ein­mal ihre Stim­me zu hö­ren ver­moch­te ich. Aber sie soll­te doch wis­sen, sie muss­te doch wis­sen, wie sehr ihr blo­ßer An­blick hin­ter den Fens­ter­schei­ben mich be­schenkt und mich glück­lich ge­macht hat­te. Des­halb riss ich wie toll die Hose, die Wes­te, die Ja­cke des Schnei­ders Leo aus der Um­hül­lung her­aus. Ich zeig­te sie ihr, ich schwenk­te die Klei­dungs­stücke hoch in den Hän­den, ich tanz­te mit ih­nen einen los­ge­las­se­nen, gro­tes­ken In­dia­ner­tanz.

*

In den nächs­ten Wo­chen sah ich mei­ne Mut­ter im­mer nur auf die glei­che Wei­se Tag für Tag, bis sich beim ers­ten wei­chen Früh­lings­lüft­chen das Fens­ter öff­ne­te und das Wort mei­ner Mut­ter wie­der an mein Ohr, wie mei­nes an das ihre schlug.

Die Epi­de­mie war ab­ge­klun­gen. Ihre Op­fer wa­ren da­hin, die To­ten tot. Aber der Früh­ling war wie im­mer le­ben­dig. Die Sta­re tru­gen zu Nest mit Pfei­fen und großer Ge­schäf­tig­keit. Ich pflück­te für mei­ne Mut­ter Kro­kus und Him­mels­schlüs­sel. Noch blieb die Bren­del-Schu­le ge­schlos­sen, aber wir durf­ten die Trom­meln ab­ho­len und zo­gen da­mit, ge­führt vom Tam­bour­ma­jor, wie­der­um zum al­ten Birn­baum hin­aus und hin­auf. Die Welt und mit ihr der Pa­trio­tis­mus und alle gu­ten Hoff­nun­gen der neu­en Zeit wa­ren wie­der­um gleich­sam auf­ge­taut. Be­geis­tert rühr­ten wir un­se­re Trom­meln.

Ei­nes Mor­gens zo­gen wir fei­er­lich un­ter dem Fens­ter mei­ner Mut­ter auf. Ich hat­te den Tam­bour­ma­jor un­schwer dazu be­wo­gen. Wir nah­men Stel­lung und führ­ten in höchst ex­ak­ter Wei­se, die Kalbs­fel­le mit den Schlä­geln be­ar­bei­tend, der na­he­zu ge­sun­de­ten Kur­haus­wir­tin uns­re Küns­te vor. Es war ein re­gu­lä­res Trom­mel­ständ­chen, was wir ihr da­mals ge­bracht ha­ben. Auch soll­te sie se­hen, dass sie nicht einen Nichts­nutz zum Soh­ne hat­te, son­dern einen, der eine Stel­lung ein­zu­neh­men und zu be­haup­ten ver­stand.

Das Abenteuer meiner Jugend

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