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Achtzehntes Kapitel

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Am 13. Juli 1870 reis­te mein Va­ter für einen Tag nach Do­mi­ni­um Lohnig und nahm mich mit. Aus wel­chem Grun­de er die­sen für ihn un­ge­wöhn­li­chen Be­such mach­te, weiß ich nicht. Das Ver­hält­nis zwi­schen ihm und On­kel Gu­stav Schu­bert war ach­tungs­voll, aber man hat­te sich nicht sehr viel zu sa­gen. Gra­de dar­um muss die Ur­sa­che von Be­deu­tung ge­we­sen sein.

Die lan­gen Ge­sprä­che zwi­schen Va­ter und On­kel hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren, die kurz be­mes­se­ne Frist des Auf­ent­halts und der Ernst, der auch beim Abendes­sen nicht aus den Mie­nen der Män­ner wich, lie­ßen die alte Spiel­freu­de zwi­schen Vet­ter Ge­org und mir dies­mal nicht auf­kom­men. Mor­gens dar­auf brach­te uns On­kel in der üb­li­chen Land­kut­sche nach Strie­gau zur Bahn, eine Fahrt, die meh­re­re Stun­den ver­lang­te. Ich weiß nicht, wer es war, der uns in ei­ner glei­chen Kut­sche ent­ge­gen­kam, sie hal­ten ließ und uns zu­wink­te.

Das Dump­fe, das über der gan­zen Rei­se ge­le­gen hat­te, lös­te, wie Ge­wit­ter­schwü­le ein ers­ter Blitz, die Nach­richt, die der Win­ken­de mit­brach­te. »Mei­ne Her­ren«, rief er, »wir ha­ben den Krieg! Ges­tern hat Kö­nig Wil­helm in Bad Ems den Ge­sand­ten Na­po­le­ons, der ihn wie einen La­kai­en Frank­reichs be­han­deln woll­te, ein­fach auf die Stra­ße ge­wor­fen. Die ge­sam­te nord­deut­sche Ar­mee mo­bi­li­siert, auch die süd­deut­schen Fürs­ten ma­chen mit, Bay­ern, Ba­den, Würt­tem­berg. Es braust ein Ruf wie Don­ner­hall!«

Mein Va­ter und On­kel Schu­bert wa­ren bleich ge­wor­den.

Da­mals stand ich noch vor Vollen­dung des ach­ten Le­bens­jah­res, aber es war nicht schwer zu be­grei­fen, dass sich et­was ganz Un­ge­heu­res, Grund­stür­zen­des er­eig­nen soll­te. Und nun wur­de im Wei­ter­fah­ren zum ers­ten Mal zwi­schen Va­ter und On­kel der Name Bis­marck laut, ein Name, den mein Be­wusst­sein bis da­hin nicht re­gis­triert hat­te. »Bis­marck,« sag­te der On­kel, »stürzt uns in ein sehr schlim­mes und sehr ge­fähr­li­ches Aben­teu­er hin­ein. Der All­mäch­ti­ge sei uns gnä­dig! We­der sind wir ge­rüs­tet ge­nug, aber wenn wir es wirk­lich wä­ren, wie wol­len wir den über­le­ge­nen Waf­fen und Mas­sen Frank­reichs wi­der­ste­hen?«

Dem wei­chen und gü­ti­gen On­kel Gu­stav Schu­bert ge­gen­über schi­en mein Va­ter ein eben­so sanf­tes und wie­der­um gänz­lich ver­än­der­tes We­sen zu sein, aber er woll­te doch nicht in die Ver­zagt­heit des lie­ben Ver­wand­ten ein­stim­men. Mit ru­hi­gen und be­stimm­ten Wor­ten trat er für Bis­marck und sei­ne Hal­tung ein: er habe im­mer ge­wusst, was er wol­le, und es im­mer zum gu­ten Ende ge­führt. Er nann­te dann Molt­ke, Roon, Vo­gel von Fal­cken­stein und er­klär­te, wenn wirk­lich Bay­ern, Würt­tem­berg, Ba­den und Sach­sen mit­gin­gen, hät­te der Sieg eine große Wahr­schein­lich­keit.

*

Man schrieb den 25. No­vem­ber 1870, als der Brun­nen­in­spek­tor Fer­di­nand Straeh­ler, mein Groß­va­ter, starb. Die De­pe­schen Kö­nig Wil­helms, die Nach­rich­ten glän­zen­der Sie­ge und wie­der Sie­ge wa­ren noch an sein Ohr ge­schla­gen: die Er­stür­mung von Wei­ßen­burg, die der Spi­che­rer Hö­hen, die Sie­ge bei Wörth, Gra­ve­lot­te und St. Pri­vat, schließ­lich die Ka­pi­tu­la­ti­on von Se­dan.

Das be­deu­te­te die Her­auf­kunft ei­ner neu­en Zeit. Er stand vor dem Ab­schluss ei­ner al­ten, die zu­gleich mit dem sei­nes Le­bens vollen­det war.

Ei­ni­ger­ma­ßen fei­er­lich pil­ger­te ich mit mei­ner Mut­ter in das Ster­be­haus. Tan­te Gus­tel und Tan­te Lie­sel hat­ten ver­wein­te Au­gen. Schwei­gend be­ga­ben wir uns in ein hin­te­res Zim­mer des Dachrö­dens­hofs, das nach mei­ner Erin­ne­rung nur durch ein Guck­loch oben in der Wand Licht er­hielt. Es war Ende No­vem­ber, aber ein son­nen­hei­te­rer, fri­scher Tag.

Et­was un­ter ei­nem lei­ne­nen Bet­tuch Ver­bor­ge­nes hat­te für mich eine schau­er­li­che An­zie­hungs­kraft. Man deck­te es ab, und ich sah eine mir zu­nächst un­ver­ständ­li­che Mas­se, die lang­sam durch einen Fuß, durch eine gel­be runz­li­ge Hand, durch et­was Haupt­haar und Ohr als mensch­li­che Form zu er­ken­nen war. Es wa­ren die ir­di­schen Res­te mei­nes Groß­va­ters.

Man hat­te den To­ten mit großen Blö­cken Ei­ses um­legt. Ich war nicht ge­rührt. Hät­te mei­ne Emp­fin­dung Aus­druck ge­fun­den, viel­leicht wür­de es durch ein be­frem­de­tes Kopf­schüt­teln ge­sche­hen sein. Ich war wirk­lich ganz ein be­frem­de­tes Kopf­schüt­teln.

Die tote Mas­se, die da lag, zwi­schen Eis­stücken – konn­te sie mein Groß­va­ter sein und ge­we­sen sein? Das war er ge­we­sen, er, des­sen stol­ze Gleich­gül­tig­keit mich ver­letzt, des­sen gan­ze Er­schei­nung mir aber doch Ehr­furcht er­weckt hat­te? Also das war un­ser al­ler Los! Man hat­te wohl Grund, sich das ge­gen­wär­tig zu hal­ten.

*

Die Stun­den dar­auf ver­ei­nig­ten äu­ßers­te Ak­ti­vi­tät im Spiel und ver­schwie­ge­ne Me­di­ta­tio­nen, wie denn viel­leicht über­haupt Träu­me­rei und Ak­ti­vi­tät viel­fach ver­bun­den sind.

Es gab einen röt­lich ge­stri­che­nen ho­hen Kar­ren mit zwei Rä­dern in un­serm Hof. Ich be­spann­te ihn mit etwa acht Jun­gens zu vier und vier und stand, eine Peit­sche schwin­gend, dar­auf. Ein Wirr­sal von Zucker­schnü­ren er­setz­te die Zü­gel. So ras­ten wir pol­ternd über die Dorf­stra­ße, ras­ten in den Post­hof hin­ein, wo die Ross­kas­ta­ni­en mit dem Gold ih­rer Blät­ter den Bo­den ver­deckt hat­ten und brau­ne Früch­te in Men­ge her­um­la­gen. Dort be­lu­den wir, von Son­nen­schein und Herbst­fri­sche be­lebt, un­sern Kar­ren mit Laub, um ich weiß nicht was da­mit aus­zu­rich­ten. Und nun ras­ten wir wie­der dort­hin, wo wir her­ka­men. Äu­ßer­lich war es für mich ein herr­li­cher Rausch. Im In­nern je­doch hat­te sich eine un­ge­such­te Er­kennt­nis wie ein Pfeil ein­ge­bohrt, ein Zu­stand, der sich nicht än­dern konn­te. Den Pfeil zu ent­fer­nen, die Wun­de zu hei­len, gab es kei­ne Mög­lich­keit.

Ei­gent­lich zum ers­ten Mal hat­te ich den Ge­dan­ken des un­ab­wend­ba­ren To­des mit mir selbst in Ver­bin­dung ge­bracht. Du ent­rinnst, stel­le dich, wie du willst, so sprach eine Stim­me in mir, dem Ende dei­nes hoch­mö­gen­den Groß­va­ters nicht: er reich­te ei­ner Za­rin den Mund­be­cher, aber das ret­te­te ihn kei­nes­wegs vor dem Schick­sal, das eben das all­ge­mei­ne ist. Schie­be es noch so lan­ge hin­aus, su­che es noch so sehr zu ver­ges­sen, len­ke dich tau­send­fäl­tig in die Fül­le und den Reich­tum des Le­bens ab: ei­nes Ta­ges wird es auch dir un­ab­wend­ba­re Ge­gen­wart. Du kannst es kei­nem an­de­ren zu­schie­ben, du musst da­bei­sein, du ganz per­sön­lich. Und wenn du auch hun­dert Jah­re alt wür­dest, geht es am Ende nicht ohne dich. Du wirst at­men, le­ben und le­ben wol­len wie jetzt, dann wird es hei­ßen: leg weg, was du in Hän­den hast, ein Stück Brot, eine Hand­voll Zucker­schnü­re, oder was es auch im­mer sei, es ist aus, du musst fort – musst ster­ben. Und das Ster­ben wie das Le­ben wirst du hin­neh­men müs­sen als Ge­gen­wart.

An mei­nem letz­ten Ge­burts­tag, den ich vor we­ni­gen Ta­gen ge­fei­ert hat­te, stan­den acht bren­nen­de Jah­res­lich­ter um den ob­li­ga­ten Streu­sel­ku­chen her­um. Al­les in die­sen Blät­tern Er­zähl­te lag hin­ter mir, ja un­end­lich viel mehr, was ei­ni­ger­ma­ßen er­schöp­fend mit­zu­tei­len Men­schen­kraft über­stei­gen wür­de. Durch fünf von die­sen acht Jah­ren war ich gleich­sam mit flie­gen­dem Haar hin­durch­ge­stürmt, hat­te ge­lacht, ge­weint, ge­rast, ge­lit­ten, ge­kämpft, und was noch sonst. Aber über al­les sieg­te der in­ne­re, flie­ßen­de Strom von Le­bens­lust. Un­be­que­mes und Un­an­ge­neh­mes wur­de mit ei­ner Be­we­gung ähn­lich der ei­nes Foh­lens, wenn es, die Mäh­ne um sich wer­fend, ei­gen­sin­nig da­von­ga­lop­piert, ab­ge­schüt­telt.

Nun aber, seit Groß­va­ters Tode, ge­lang dies mit­un­ter so ganz nicht mehr.

*

Wenn sich mei­ne Mut­ter im Som­mer nach den Stra­pa­zen in der glü­hen­den und lär­men­den Ho­tel­kü­che, nach­dem ei­ni­ge hun­dert Men­schen ab­ge­füt­tert wa­ren, tod­mü­de in ihr Schlaf­zim­mer ge­flüch­tet hat­te und, schwer auf­seuf­zend und halb­laut ge­gen al­les und al­les pro­tes­tie­rend, auf dem Bett lag, ließ ich mir von ihr ängst­lich be­stä­ti­gen, dass sie doch nicht etwa ster­ben wer­de. Eine sol­che Be­fürch­tung lag gar nicht so fern. »Ger­hart, ich bin so le­bens­mü­de!« war ja im­mer wie­der ihr Stoß­seuf­zer. Al­ler­lei, wie ich fühl­te, nag­te an ihr. Es ent­deck­te sich nicht nur in den man­cher­lei Kla­gen, be­son­ders im Som­mer über Hit­ze, Ar­beits­über­häu­fung, Kü­chenär­ger, Ho­tel­be­trieb.

In Wahr­heit stand eine un­sicht­ba­re Mau­er zwi­schen dem Gast­hof zur Preu­ßi­schen Kro­ne und dem be­nach­bar­ten Dachrö­dens­hof, ih­rem El­tern­haus. Die Hei­rat mit mei­nem Va­ter war dort schließ­lich ver­zie­hen, aber nie­mals ge­bil­ligt wor­den. Da mei­ne Mut­ter nun kei­nes­wegs in dem er­war­te­ten Sin­ne glück­lich ge­wor­den war, ging ein Zwie­spalt durch ihre See­le.

Ich ahn­te das al­les in man­chem drücken­den Au­gen­blick, wenn ich in Mut­ters Nähe weil­te, aber dann tat ich eben wie­der dem Foh­len gleich und ga­lop­pier­te da­von, ins Freie.

Die wirt­schaft­lichs­te un­ter den Töch­tern des Brun­nen­in­spek­tors war mei­ne Mut­ter. Heut weiß ich, dass sie auch die klügs­te ge­we­sen ist. Rein äu­ßer­lich wäre viel­leicht eine grö­ße­re Har­mo­nie er­zielt wor­den, wenn die ge­nia­le und seh­ni­ge Tan­te Ju­lie mit ih­ren ge­sell­schaft­li­chen Ta­len­ten in den Gast­hof, mei­ne Mut­ter in das Do­mi­ni­um Lohnig ein­ge­hei­ra­tet hät­te. Auf ei­nem Guts­hof, sag­te sie im­mer, sei ihr wah­res Wir­kungs­feld. Auch ist es ein Guts­be­sit­zer in Quols­dorf ge­we­sen, dem sie um mei­nes Va­ters wil­len einen Korb ge­ge­ben hat.

Nicht beim Tode des Brun­nen­in­spek­tors, aber bei Ver­tei­lung der Erb­mas­se bra­chen alle ver­harsch­ten Wun­den in den See­len mei­ner El­tern wie­der­um auf.

*

Mich mit den An­ge­le­gen­hei­ten der Er­wach­se­nen ernst­lich zu be­schäf­ti­gen, be­stand bis­her kei­ne Not­wen­dig­keit. Es war selbst­ver­ständ­lich, dass mei­ne El­tern, mensch­li­che Göt­ter, in je­der Be­zie­hung für mich sorg­ten. Zwei­fel an der ge­si­cher­ten Macht und Kraft, aus der sie es ta­ten und tun muss­ten, be­stan­den nicht. Auf dem Wege von Lohnig nach Strie­gau, in der Land­kut­sche, ging mir zum ers­ten Mal mei­ne Ver­bun­den­heit mit ei­ner großen Volks­ge­mein­schaft auf, von de­ren Wohl und Wehe mein ei­ge­nes nicht zu tren­nen war. Und mehr als das: näm­lich so weit ver­brei­tet, so zahl­reich, so stark und wehr­haft die­se Volks­ge­mein­schaft war, sie war ver­letz­lich, sie konn­te in Fra­ge ge­stellt, ja zer­stört wer­den.

Die ge­wohn­heits­mä­ßi­gen, fort­lau­fen­den Kna­ben­sor­gen stör­ten mich nicht, sie ge­hör­ten zu mei­ner Per­sön­lich­keit. Nun aber wur­de ich in die all­ge­mei­ne Sor­ge um Volk und Va­ter­land hin­ein­ge­zo­gen, und et­was mir bis­her ganz Fer­nes und Frem­des be­las­te­te mich.

Die­se be­fremd­li­chen Düs­ter­nis­se im Rau­me mei­nes Ge­müts wur­den bald vom Fan­fa­ren­ge­schmet­ter der Sie­ge auf­ge­löst. Feu­er­wer­ke, Ra­ke­ten, Leucht­ku­geln, Son­nen stie­gen im­mer­wäh­rend, so­gar am hel­lich­ten Tage, em­por, als gäl­te es, der na­tür­li­chen Son­ne am Him­mel den Rang ab­zu­lau­fen.

Jetzt aber, nach dem Tode des Groß­va­ters, er­wies sich ein an­de­rer Bo­den, des­sen un­an­tast­ba­re Fes­tig­keit ich als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­ge­setzt hat­te, als nicht ganz so fest und nicht ganz so trag­fä­hig. Und ich sah mich aber­mals ge­zwun­gen, frem­de An­ge­le­gen­hei­ten, sol­che er­wach­se­ner Men­schen, mei­ner ei­ge­nen El­tern so­gar, in ge­wis­sem Be­tracht zu den mei­nen zu ma­chen.

Vom Be­gräb­nis des Groß­va­ters weiß ich nichts, ver­stän­di­ger­ma­ßen wur­de ich ganz und gar da­von fern­ge­hal­ten. Auch wein­te sich mei­ne Mut­ter nicht vor uns Kin­dern aus. Dann kam die Er­öff­nung des Te­sta­ments, von der wir er­fuh­ren und über die wir Ge­schwis­ter uns al­ler­lei span­nen­de Din­ge zu­tu­schel­ten. Wir fühl­ten bald, dass zu­gleich zwi­schen Va­ter und Mut­ter eine Span­nung ein­ge­tre­ten war, die sich bei mei­nem Va­ter als Zu­rück­hal­tung, ja als Käl­te äu­ßer­te. Er ver­ab­scheu­te Heu­che­lei. Die Trau­er aber um den al­ten, stei­fen, un­ver­söhn­li­chen Schwie­ger­va­ter kann bei ihm nicht sehr tief ge­we­sen sein.

*

Der Er­öff­nung des Te­sta­ments bei­zu­woh­nen, hat­te mein Va­ter, wie ich im Ne­ben­zim­mer hö­ren konn­te, er­regt und bei­na­he mit Ver­ach­tung ab­ge­lehnt, wor­auf mei­ne Mut­ter wei­nend al­ler­lei, was ich nicht ver­ste­hen konn­te, ant­wor­te­te. Es fie­len Aus­drücke wie Lei­chen­fled­de­rei, die der Krieg po­pu­lär ge­macht hat­te. Er trei­be sie nicht, so sag­te mein Va­ter, er ent­wür­di­ge sich nicht durch Lei­chen­fled­de­rei. Kurz, mei­ne Mut­ter muss­te al­lein ge­hen, da sie doch ihre In­ter­es­sen nicht un­ver­tre­ten las­sen konn­te.

Ich ver­hielt mich mäus­chen­still in der Vier, als die Mut­ter am spä­ten Nach­mit­tag aus dem Dachrö­dens­hof zu­rück­kehr­te und in der Drei auf den Va­ter traf. Sie hat­te ihm, wie sie uns spä­ter ein­mal er­zähl­te, eine Schür­ze voll Gold im Wer­te von tau­send Ta­lern nicht ohne ei­ni­ge Freu­de und ei­ni­gen Stolz mit­ge­bracht. Ich hör­te zu­nächst, wie mein Va­ter äu­ßerst er­regt die Wor­te »Be­hal­tet euch eu­ren Mam­mon!« der Mut­ter ent­ge­gen­schleu­der­te, und dann das Fal­len, Klin­gen und Rol­len von Geld.

Ich weiß nicht, was mei­ne Mut­ter, ver­wun­det und ver­letzt, wie sie sein muss­te, geant­wor­tet hat, sie muss aber auch bei ihm eine wun­de Stel­le be­rührt ha­ben. Vi­el­leicht schob sie ihm un­ter, dass ihm die Sum­me zu ge­ring wäre.

Je­den­falls brach die Ent­rüs­tung mei­nes Va­ters un­ge­hemmt und in ei­ner nie ge­hör­ten Wei­se aus, die mich zit­tern mach­te. Man fühl­te, wie sich jahr­zehn­te­lang ver­letz­ter Stolz auf­bäum­te und in Macht­lo­sig­keit der Em­pö­rung über­schlug. Eine un­über­brück­ba­re Kluft zwi­schen mei­ner Mut­ter und mei­nem Va­ter tat sich auf, von de­ren Vor­han­den­sein in mei­ne glück­li­che Da­seins­form kaum der Schat­ten ei­ner Ver­mu­tung ge­fal­len war. Das Gan­ze war in ei­ner lan­gen Rei­he von Punk­ten eine An­kla­ge ge­gen die Fa­mi­lie mei­ner Mut­ter. Haupt­säch­lich warf er ihr Hoch­mut, Dün­kel in je­der Form, Her­zens­käl­te und was nicht noch al­les vor. Am Ende des sich furcht­bar stei­gern­den Wort­wech­sels brach mei­ne Mut­ter wie­der in Trä­nen aus. Wei­nend warf sie dem Va­ter vor, er habe ihr vor der Hoch­zeit fest ver­spro­chen, den Gast­hof zur Kro­ne bin­nen höchs­tens zwei Jah­ren zu ver­kau­fen. Er habe die­ses Ver­spre­chen nicht ein­ge­löst und sie die­sem Mo­loch ge­op­fert. Sie has­se das Haus, sie ver­flu­che das Haus. Sie habe ih­ren Ab­scheu vor dem gan­zen Gast­haus­we­sen klar und deut­lich ohne je­den Rück­halt ihm im­mer und lan­ge vor der Ehe zum Aus­druck ge­bracht. Sie habe es sich aber lan­ge nicht schlimm ge­nug ge­dacht, es sei al­les noch sehr viel schlim­mer ge­kom­men. Es habe ihre Lie­be zer­stört, ihre Ehe zer­stört. Das wol­le hei­ßen: ihr Glück zer­stört. »Oder«, fuhr sie dann im­mer wei­nend fort, »willst du be­haup­ten, dass ein Fa­mi­li­en­le­ben in die­sem Mar­ter­kas­ten mög­lich ist? Im Som­mer ste­cke ich die Nase nicht aus der Kü­che her­aus; sehe ich dich oder höre ich dich, ist es höchs­tens, wenn du mich oder je­mand an­ders run­ter­kan­zelst. Du machst im Büro oder Sa­lon den vor­neh­men Mann, und ich, an­ge­zo­gen wie eine Schlum­pe, schä­le in der Kü­che Kar­tof­feln oder pel­le Scho­ten aus. Und wenn ich auf Ord­nung hal­ten will und die Leu­te, vor­an der Chef, mich an­grob­sen, gibst du nicht mir, son­dern ih­nen recht. Du spei­sest im Saal, Ger­hart und Carl krie­gen ihre Tel­ler voll Es­sen in der Bü­fett­stu­be. Ich sehe den gan­zen Som­mer kei­nen ge­deck­ten Tisch« – mei­ne Schwes­ter Jo­han­na war da­mals in ei­nem Pen­sio­nat, mein Bru­der Ge­org in Bunz­lau auf der Real­schu­le – »und im Win­ter ist es wie eben jetzt. Man hat sich den Som­mer hin­durch nicht einen Au­gen­blick Ruhe ge­gönnt, bei drei­ßig Grad Hit­ze un­ter dem Glas­dach der Kü­che halb tot ge­schun­den, da­mit man im Win­ter schlaflo­se Näch­te in Sor­gen und Ängs­ten hat. Du sitzt mit Gu­stav im Büro, ihr schreibt, ihr rech­net, ihr rech­net und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rech­net und schreibt, ihr rech­net und schreibt die Schul­den, die uns drücken, nicht weg und könnt die fäl­li­gen Zin­sen nicht auf­brin­gen. Dann nimmst du ver­stimmt mit mir und den Kin­dern dein biss­chen Abend­brot und gehst mit Gu­stav in die Schenk­stu­be. Du brauchst Zer­streu­ung, wie du sagst, ich blei­be al­lein in dem großen, zu­gi­gen, kal­ten Haus und mag se­hen, wie ich mich mit mei­nen Ge­dan­ken, mei­nen Sor­gen, mei­nen be­rech­tig­ten Zu­kunft­s­ängs­ten ab­fin­de. Wenn du mich we­nigs­tens ein­weih­test, aber du schweigst, du sagst mir nichts. Ich will dei­ne Sor­gen mit dir tra­gen, das Le­ben wür­de für mich viel leich­ter sein.«

Ich könn­te von die­sen Din­gen nicht mehr spre­chen, wie ich es heu­te kann, wenn ich sie da­mals nicht re­gis­triert hät­te. Wie alt ein acht­jäh­ri­ger Kna­be sein kann, ah­nen im All­ge­mei­nen er­wach­se­ne Men­schen nicht. Was mich zu­nächst am tiefs­ten über­rasch­te und schmerz­te, war das Ver­hält­nis der Mut­ter zu dem Hau­se, ohne das ich mich und die Welt nicht zu den­ken ver­moch­te. Die­se schö­nen Säle, Bil­der und Zim­mer, die­se rät­sel­haf­ten Kam­mern un­term Dach, die­se Trep­pen, Kor­ri­do­re und tau­send­fäl­ti­gen Schlupf­win­kel, die Welt Un­term Saal, der hal­len­de Tun­nel, der von dort in den Hin­ter­gar­ten ging, die be­moos­ten Dä­cher, der Tau­ben­schlag: der ge­ra­de­zu ein­zig­ar­ti­ge, un­über­treff­li­che Schau­platz mei­nes Wer­dens, mei­ner Spie­le, mei­nes Le­bens über­haupt soll­te in Wahr­heit ein wohl auch kin­der­fres­sen­der, glü­hen­der Mo­loch sein, der das Le­bens­glück mei­ner Mut­ter ver­nich­tet hat­te? Mei­ne Mut­ter sel­ber be­haup­te­te das.

Ihr das zu glau­ben, ih­ren un­be­greif­li­chen Irr­tum, ihre Blind­heit die­sem Pa­ra­die­se ge­gen­über auch nur zu ent­schul­di­gen, war für mich ein Ding der Un­mög­lich­keit. Und so stand ich auf Va­ters Sei­te, als er sag­te, dass nun ein­mal sein se­li­ger Va­ter ihm dies Haus hin­ter­las­sen habe und er, selbst die Pie­tät ge­gen den müh­sam er­run­ge­nen Be­sitz sei­ner El­tern bei­sei­te­ge­setzt, es kei­nes­falls ge­gen ein But­ter­brot ver­schleu­dern kön­ne.

Die pein­li­che Aus­ein­an­der­set­zung und ihre lei­den­schaft­li­che Maß­lo­sig­keit ka­men ei­nem lo­ka­len Erd­be­ben gleich, das den fa­mi­li­ären Bo­den er­schüt­ter­te. Nie­mals er­lang­te er mehr sei­ne alte Fes­tig­keit.

Mit die­sen Er­fah­run­gen war die Er­kennt­nis ver­knüpft, dass die selbst­ver­ständ­li­chen Voraus­set­zun­gen mei­nes bis­he­ri­gen Da­seins nicht durch­aus stand­hiel­ten. Mir gin­gen be­stimm­te Sät­ze und Wor­te mei­ner Mut­ter im­mer aufs neue durch den Sinn: »Du sitzt mit Gu­stav im Büro, ihr schreibt, ihr rech­net, ihr rech­net und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rech­net und schreibt, ihr rech­net und schreibt die Schul­den, die uns drücken, nicht weg und könnt die fäl­li­gen Zin­sen nicht auf­brin­gen.«

Auch mei­nen Ge­schwis­tern wa­ren die schwe­ren Kri­sen zwi­schen Va­ter und Mut­ter nicht ver­bor­gen ge­blie­ben. Selt­sa­mer­wei­se nah­men wir für den Va­ter und ge­gen den Dachrö­dens­hof Par­tei. Aus dem er­reg­ten Ge­mun­kel von Jo­han­na und Carl und ge­le­gent­lich hin­ge­wor­fe­nen Wor­ten der Mut­ter ging mir nach und nach, ge­gen mein Wi­der­stre­ben, auf, dass noch an­de­re Men­schen als wir Ei­gen­tums­rech­te auf den Gast­hof zur Kro­ne hat­ten, was mich aufs schmerz­lichs­te traf und ent­rüs­te­te.

Das Abenteuer meiner Jugend

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