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Siebenundzwanzigstes Kapitel

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Im Fe­bru­ar er­leb­te ich einen Fa­schings­ball. Im Mas­ken­ge­wim­mel be­weg­te sich je­mand un­ter ei­nem rie­si­gen schwar­zen Drei­mas­ter. Die­se ins Gi­gan­ti­sche ge­stei­ger­te Kopf­be­de­ckung war ei­gent­lich ein Tin­ten­fass, in dem eine Gän­se­fe­der steck­te. Das mons­trö­se Ge­bil­de zog mei­ne Au­gen vor al­lem an und er­reg­te in mir un­end­li­ches Stau­nen. Und mein Stau­nen stei­ger­te sich, als ich ei­ni­ge Tage spä­ter die­ses Papp­de­ckel-Tin­ten­fass in ei­nem Zim­mer der Kro­ne ent­deck­te und er­fuhr, dass beim Bal­le der Kopf mei­nes Va­ters dar­un­ter ge­steckt hat­te.

*

Das Vor­spiel des Bal­les in­ner­halb der Fa­mi­lie zeig­te mei­ne Schwes­ter Jo­han­na zu­gleich als Haupt­ak­teu­rin und als Un­schulds­lamm. Es ist in­so­fern merk­wür­dig, als es wie­der Ge­gen­sät­ze und Un­stim­mig­kei­ten im We­sen mei­ner El­tern bloß­leg­te. Mei­ne Mut­ter frön­te der Tra­di­ti­on, wo­nach man eine hei­rats­fä­hi­ge Toch­ter aus­führ­te. Die­se Ge­pflo­gen­heit aber, die mei­ne Mut­ter als schö­ne Pf­licht auf­fass­te, wi­der­te mei­nen Va­ter an. Bei der Be­spre­chung zwi­schen Va­ter und Mut­ter, ob man Jo­han­na auf den Ball brin­gen sol­le oder nicht, hör­te ich mei­nen Va­ter sa­gen: »Tue, was du willst, ich gehe nicht mit; ich müss­te mich schä­men in Grund und Bo­den, wenn ich mei­ne Toch­ter wie ein Pferd auf dem Vieh­markt aus­bie­ten soll­te.«

Tan­te Eli­sa­beth wühl­te aus an­de­ren Grün­den, näm­lich aus Ei­fer­sucht, ge­gen den Ball. Das al­tern­de Mäd­chen war ziem­lich üp­pig und voll­blü­tig, die Fa­schings­be­lus­ti­gung zog sie wie die al­ler­sü­ßes­te Lo­ckung der Höl­le an, aber sie hät­te den Ball­be­such we­der vor ih­rer Schwes­ter Au­gus­te noch vor ih­ren pie­tis­ti­schen Freun­den ver­ant­wor­ten kön­nen. Sie fing ih­ren Feld­zug ge­gen den dro­hen­den Mum­men­schanz mit Ein­wän­den ge­gen die zu er­war­ten­de ge­misch­te Ge­sell­schaft, ge­gen die Un­sitt­lich­keit der Mas­ken­frei­heit und ähn­li­ches an, be­mä­kel­te dann die Ko­stü­me, an de­nen Mut­ter und Toch­ter sti­chel­ten, und wand­te sich ge­gen die Tanz­sün­de. Trotz­dem sie im End­ziel aber mit mei­nem Va­ter über­ein­stimm­te, zog sie meis­tens vor zu ver­schwin­den, so­bald er in die Nähe kam.

Tan­te Eli­sa­beth, de­ren im­per­ti­nen­te Ge­gen­wart mei­nen Va­ter al­lein schon auf­reiz­te, fuhr in die­sen Wo­chen wie eine auf­ge­stör­te Hum­mel zwi­schen Dachrö­dens­hof und Kro­ne hin und her, be­la­den mit im­mer neu­en Ein­wän­den, wo­durch die Reiz­bar­keit al­ler Be­tei­lig­ten ge­stei­gert wur­de. Ei­nes Ta­ges ver­bot mein Va­ter dann ge­ra­de­zu Tan­te Eli­sa­beth das Haus, sprach aber zu­gleich von Mäd­chen- und Men­schen­han­del, an dem er sich kei­nes­falls be­tei­li­gen wer­de.

Auch mei­nem Bru­der Carl und mir schi­en das Ge­tue um mei­ne Schwes­ter vor dem Ball et­was Fremd­ar­ti­ges. Mus­ter­kna­ben wa­ren wir nicht. Als wir sie nun von mei­ner Mut­ter, der Schnei­de­rin, Tan­te Eli­sa­beth und den Haus­mäd­chen fei­er­lich wie ein Op­fer­lamm be­han­delt sa­hen, er­gin­gen wir uns in al­ler­hand Ne­cke­rei­en, auf die sie je nach­dem mit La­chen, mit Er­re­gung oder mit Ent­rüs­tung ant­wor­te­te. So­gar bis zu Trä­nen brach­te sie un­se­re Un­barm­her­zig­keit.

Jo­han­na Ka­tha­ri­na Rosa nann­ten wir sie mit den Na­men, die sie bei der Tau­fe er­hal­ten hat­te, und füg­ten einen wahr­haft Ra­be­laiss­chen Reim dar­an. Der Re­spekt vor der »hö­he­ren Toch­ter« hielt sich nun ein­mal im häus­li­chen Krei­se nicht. Auch fühl­ten wir kei­nen Re­spekt vor Ball­klei­dern. Wir mal­ten aus, wie sie ihr zar­tes Pen­si­ons­köpf­chen beim Tanz an die Brust des be­trun­ke­nen Bau­ers Ru­dolf le­gen wür­de oder an die des schwind­sucht­kran­ken Brief­trä­gers oder an Glas­ma­ler­meis­ter Ger­titsch­kes Kopf, der sich nach Her­mann des Che­rus­kers bei den Rö­mern üb­li­chem Na­men Ar­min nann­te.

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Es scheint, dass auch Fräu­lein Mat­hil­de Jasch­ke, das nun ver­wais­te von Ran­dow­sche Pfle­ge­kind, bei die­ser Un­ter­neh­mung ab­seits blieb. Auch ohne das Trau­er­jahr, in dem sie stand, wür­de es kaum an­ders ge­we­sen sein. Ihr Ein­fluss war, wie ich glau­be, so­wohl durch ei­ge­nen Ent­schluss wie durch den mei­ner Mut­ter aus­ge­schal­tet, die noch ein­mal müt­ter­li­che Ge­walt über ihre Toch­ter mit letz­ter Ent­schie­den­heit aus­üb­te.

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Der Abend ist schließ­lich her­an­ge­kom­men. Un­ser ge­schlos­se­ner Lan­dau­er stand vor der Tür. Mei­ne ge­putz­te, mit grü­nem Tüll dra­pier­te Schwes­ter wur­de dem Va­ter vor­ge­führt. Er schi­en ent­setzt. Mit ei­nem so auf­ge­don­ner­ten Frau­en­zim­mer zu er­schei­nen, sei für ihn ein Ding der Un­mög­lich­keit. Man kann sich den­ken, wel­che Wir­kung ein sol­ches Ur­teil eine Vier­tel­stun­de vor Be­ginn des Bal­les bei Schwes­ter und Mut­ter hat­te.

Wie es in sol­chen Fäl­len üb­lich ist, wur­de zu­nächst das gan­ze Fest in Bausch und Bo­gen auf­ge­ge­ben. Mei­ne Schwes­ter schloss sich in ih­rem Zim­mer ein und er­klär­te, sie wol­le zu Bet­te gehn. Mei­ne Mut­ter, in ih­ren Be­mü­hun­gen, mit we­nig Geld et­was Kleid­sa­mes her­zu­stel­len, nach An­sicht ih­res Gat­ten ge­schei­tert, war au­ßer sich. Es ent­spann sich ein hef­ti­ger Wort­wech­sel, bei dem nach und nach wie­der ein­mal al­les das zu­ta­ge kam, was sie ge­gen ih­ren Mann auf dem Her­zen hat­te.

»Das ist es eben: du ziehst dich zu­rück, du bist ein ein­sa­mer Son­der­ling«, sag­te sie. »Du magst es nicht, wenn man fröh­lich ist. In un­se­rer Fa­mi­lie war Fröh­lich­keit und Got­tes­furcht. Wir gönn­ten ein­an­der ein Ver­gnü­gen. Mein Va­ter hat­te ein klei­nes Ge­halt, er muss­te mit sei­nen Pfen­ni­gen haus­hal­ten. Aber wenn er mei­ner Mut­ter oder uns Kin­dern ein Ver­gnü­gen ma­chen konn­te, so gab er mit vol­len Hän­den. Ich habe dir doch wahr­haf­tig zeit mei­nes Le­bens kei­ne Kos­ten ge­macht. Die paar sei­de­nen Klei­der, die ich be­sit­ze, und auch das, das ich an­ha­be, hat mei­ne Mut­ter schon ge­tra­gen. Ehe ich dich um einen Gro­schen zu bit­ten wage, bei­ße ich mir lie­ber die Zun­ge ab. Was liegt mir denn schließ­lich an dem Ball? Wa­rum aber soll Hann­chen nicht ein­mal ihr Ver­gnü­gen ha­ben? Wa­rum musst du uns denn al­les und al­les ver­gäl­len mit dei­ner Bit­ter­keit, dei­ner schlech­ten Lau­ne, dei­ner Men­schen­feind­lich­keit? Da will ich doch lie­ber gar nicht le­ben, als im­mer und ewig un­ter ei­nem sol­chen Dru­cke zu sein. Wenn ich den­ke, mein gu­ter Va­ter … Wenn ich an mei­ne lie­be, gute, im­mer hei­te­re Mut­ter den­ke! Aber das ist es, es herrscht hier kein Glau­be, kein Gott­ver­trau­en. In die­sem Hau­se herrscht kei­ne Got­tes­furcht …« Und so ging es fort.

Mein Va­ter mach­te die­sem über­stürz­ten Re­de­fluss auch da­durch kein Ende, dass er ihn wie eine Li­ta­nei be­han­del­te, die er längst von An­fang bis zu Ende aus­wen­dig wis­se. Es war nicht ab­zu­se­hen, wie man nach ei­nem sol­chen Prälu­di­um doch noch auf den Ball kom­men kön­ne.

Aber da griff der Halb­bru­der mei­nes Va­ters, der her­zens­gu­te, stot­tern­de On­kel Gu­stav Haupt­mann, ein, der ein­mal einen fran­zö­si­schen Gast mit den Wor­ten emp­fan­gen hat­te: »Une cham­bre, une cham­bre, wenn ich fra­gen darf?« – Es ge­lang ihm, Jo­han­na um­zu­stim­men. Sie wur­de von ihm still­schwei­gend in den Wa­gen und auf den Ball ge­bracht, was die El­tern zu ih­rem Er­stau­nen er­fuh­ren, als der Lan­dau­er, um auch sie ab­zu­ho­len, wie­der­um vor der Kro­ne stand. Und wirk­lich, nach al­le­dem stak dann das Haupt mei­nes Va­ters un­ter dem rie­si­gen Drei­mas­ter-Tin­ten­fass, was einen recht jä­hen Sprung von der Tra­gik zur Ko­mik be­deu­te­te.

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Über dem Abend stand je­doch über­haupt kein gu­ter Stern. Ein Pro­vi­sor des Apo­the­kers Lin­ke fühl­te sich durch die grü­ne Far­be des Stof­fes be­un­ru­higt, den mei­ne Schwes­ter trug. Er stell­te fest, nach­dem er eine klei­ne Pro­be des Stof­fes an ei­nem Streich­holz ver­brannt hat­te, dass er nach Knob­lauch roch, also ar­se­nik­hal­tig war. Der Jüng­ling woll­te wahr­schein­lich auf­fal­len. Mei­ne Mut­ter und mei­ne Schwes­ter lach­ten ihn aus. Aber er konn­te nicht da­für ste­hen, dass mei­ne Schwes­ter, wenn sie tan­ze und tran­spi­rie­re, ohne eine schwe­re Ver­gif­tung da­von­kom­me. Das war für mei­nen Va­ter zu viel. In ei­nem Zim­mer der Men­de­schen Braue­rei hat­te er be­reits ganz in der Stil­le sein Tin­ten­fass und sei­nen Do­mi­no ab­ge­legt. Es war noch nicht elf. Das Ver­gnü­gen hat­te ei­gent­lich noch nicht recht an­ge­fan­gen, als man schon wie­der die Gum­mi­schu­he in der Gar­de­ro­be über­zog und, in Pel­ze ver­mummt, sich in ver­bit­ter­ter und ent­täusch­ter Stim­mung da­von­mach­te.

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Um die Os­ter­zeit etwa wur­de für mich mein äl­tes­ter Bru­der Ge­org ge­bo­ren. Al­ler­lei klei­ne Be­geg­nun­gen und Ne­cke­rei­en der vor­her­ge­hen­den Jah­re hat­ten mir ihn nicht ei­gent­lich ge­gen­wär­tig und le­ben­dig ge­macht. Das ge­sch­ah nun, da er als Ober­pri­ma­ner in die Fe­ri­en kam.

Mir sind von da zwei Sei­ten sei­nes We­sens er­in­ner­lich: die eine war gleich­sam ein letz­tes, kna­ben­haf­tes, kör­per­li­ches Au­s­to­ben, wäh­rend die an­de­re in ei­ner sich reif und er­wach­sen ge­ben­den Art be­stand und ei­ner da­mit ver­knüpf­ten Nei­gung zu Dis­kus­sio­nen, die ja üb­ri­gens in der Fa­mi­lie lag. Und wie­der­um wa­ren es re­li­gi­öse Fra­gen, die er haupt­säch­lich zur Spra­che brach­te, was eben­so mit der Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on zu­sam­men­hing.

Das ex­pan­si­ve kör­per­li­che Aus­le­ben des Bru­ders, das sich gleich an­fangs in ei­nem Akt des Über­muts ge­gen mich rich­te­te, hät­te mich bei­nah ums Le­ben ge­bracht. Er zeig­te mir Bo­xer­kunst­stücke. Erst schlug er mich auf die obe­ren Arm­mus­keln, und ich klei­ner Pix box­te weid­lich zu­rück. Dann sag­te er: »Stell dich vor mich hin!«, was ich so­gleich ge­hor­sam aus­führ­te. Er ball­te die Faust, er beug­te und streck­te den ge­straff­ten Arm, wo­bei er mir spie­le­risch ge­gen den Ma­gen ziel­te. Dann stieß er vor, mit der Ab­sicht na­tür­lich, noch vor der Berüh­rung mei­nes Kör­pers in­ne­zu­hal­ten. Aber er hat­te sich nicht in der Ge­walt und die Ent­fer­nung falsch be­rech­net. So ge­sch­ah es, dass mir die Faust in den Ma­gen fuhr, mir den Atem raub­te und mich stracks auf die Erde warf, wo ich mich, mit Er­sti­ckung rin­gend, laut­los um­her­wälz­te.

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Ge­org war da­mals üb­ri­gens ganz be­son­ders kämp­fe­risch auf­ge­legt und fand in mir den be­geis­ter­ten Part­ner und Geg­ner. Mit lan­gen, bieg­sa­men Wei­den­ger­ten schlu­gen wir auf­ein­an­der ein. Das Kampf­spiel war nach Art ei­ner Jagd ar­ran­giert, bei der Ge­org das Wild, Bru­der Carl, ich und ei­ni­ge be­vor­zug­te Dorf­jun­gen die Meu­te wa­ren. Der Kraft­über­schwang des vom vie­len Sit­zen und Büf­feln über­sät­tig­ten Pri­ma­ners führ­te bei die­ser Hetz über Trep­pen, Kor­ri­do­re und Dach­bö­den, durch Säle, Kü­chen, Stäl­le und Gär­ten, über Zäu­ne, Lei­tern und fla­che Dä­cher hin­weg, wo­hin wir ihm über­all un­ent­wegt nach­stürm­ten. Gna­de in der Ver­tei­di­gung kann­te er nicht. Und ich, wie ich wahr­heits­ge­mäß zu be­rich­ten habe, kei­ne Furcht. Es war ein Mut, der da­mit rech­ne­te, dass nur Schmerz, nicht aber der Tod in Fra­ge kam. Und Schmerz zu er­lei­den schreck­te mich nicht. Die Schlä­ge der Wei­den­ger­te saus­ten um­sonst in mein Ge­sicht und lie­ßen große Schwie­len dar­auf zu­rück. Kei­nen Au­gen­blick hemm­ten sie mein ent­schlos­se­nes Vor­ge­hen. So trug auch Ge­org sei­ne Schwie­len da­von.

Die­ses Os­ter­ver­gnü­gen war eine tol­le und wil­de Ra­se­rei, al­les Bis­he­ri­ge die­ser Art über­stei­gend.

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Ich hat­te den Ein­druck, dass mein äl­tes­ter Bru­der mir ein be­son­de­res In­ter­es­se zu­wand­te. Vi­el­leicht war es ihm über­ra­schend, zu er­ken­nen, welch selt­sa­mes Frücht­chen in mir her­an­ge­wach­sen war, von dem er so gut wie nichts wuss­te. Er hat­te wohl an­de­res zu tun ge­habt in den kur­z­en Fe­ri­en­zei­ten der Ver­gan­gen­heit, als sich mit ei­nem klei­nen Bru­der zu be­schäf­ti­gen, der üb­ri­gens selbst kei­nen An­schluss such­te und über­all ei­ge­ne Wege ging. Nun aber, da Ge­org sel­ber die männ­li­che Rei­fe er­langt hat­te und ihm der für sein Al­ter noch kind­li­che Bru­der fer­ner ge­rückt und frem­der ge­wor­den war, schi­en es ihm einen Reiz zu ge­wäh­ren, ihn wo­mög­lich all­sei­tig zu er­grün­den.

Oder hat­te er viel­leicht von mei­nem Va­ter den heim­li­chen Auf­trag dazu?

Es war nicht leicht, mich ver­trau­lich zu ma­chen, so­lan­ge das wohl­er­zo­ge­ne Bür­ger­kind dem Pro­le­ta­ri­er­jun­gen von der Stra­ße den Platz ge­räumt hat­te. Denn die­ser hat­te in sich die Ab­nei­gung sei­ner Klas­se ge­gen die hö­he­re, ihre Ver­steckt­heit, ihr Miss­trau­en und eine Scheu, man kön­ne in die ihm lieb­ge­wor­de­ne Sphä­re in­di­vi­du­el­ler Frei­heit ein­grei­fen.

Der für sei­ne zehn Jah­re noch über­aus zar­te und kind­li­che Kna­be, der ich ge­we­sen sein muss, hat wohl dem er­wach­se­nen Bru­der mehr als ein­mal Ent­set­zen er­regt, wenn er ihn, ver­trau­lich ge­macht, in ge­wis­se Ab­grün­de we­ni­ger sei­ner Gas­sen- als sei­ner Gos­sen­er­fah­rung bli­cken ließ. Um mich nicht kopf­scheu zu ma­chen, stell­te er sich bei mei­nen Er­öff­nun­gen harm­los amü­siert. In Wirk­lich­keit, wie er mir spä­ter sag­te, sind ihm die Haa­re zu Ber­ge ge­stie­gen.

Üble und schmut­zi­ge Hand­lun­gen gab es nicht zu beich­ten oder sonst mit­zu­tei­len. Da­ge­gen hat­ten sich umso mehr häss­li­che Rei­me­rei­en wan­dern­der Stra­ßen­bar­den mei­nem Ge­dächt­nis ein­ge­prägt. Sie sind von ei­ner so aus­ge­sucht Ra­be­laiss­chen und auch zwei­deu­ti­gen Art, dass ich nicht dar­an den­ken kann, sie mit­zu­tei­len. Ich hat­te sie trotz al­ler Ro­heit und Ge­mein­heit wie et­was ganz Selbst­ver­ständ­li­ches hin­ge­nom­men, al­ler­dings auch mit ei­ner im Grun­de un­be­tei­lig­ten Sach­lich­keit.

Nicht ohne deut­li­ches Un­be­ha­gen spür­te ich da­mals, dass ich nicht mehr al­lent­hal­ben so un­be­ach­tet und un­ge­hemmt da­hin­le­ben konn­te wie bis­her. Über­ra­schen­de Fra­gen und Mah­nun­gen mei­ner Mut­ter, eine stren­ge­re Fest­le­gung des­sen, was ich au­ßer dem Hau­se tun durf­te, durch den Va­ter und schließ­lich so­wohl Rü­gen als Un­ter­richts­ver­su­che mei­ner Schwes­ter Jo­han­na be­läs­tig­ten mich. Be­son­ders an mei­ner Schwes­ter habe ich die Em­pö­rung über den neu­en Zu­stand im­mer wie­der bis zur Ra­se­rei aus­ge­las­sen.

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Im Üb­ri­gen war durch Bru­der Ge­org, der von der Fa­mi­lie mehr und mehr als Er­wach­se­ner be­han­delt wur­de, ein fri­scher Luft­zug ins Haus ge­kom­men. Nicht nur hat­te er al­ler­lei lus­ti­ge Schul­ge­schich­ten mit­ge­bracht, er war auch er­füllt von Er­leb­nis­sen der Tanz­stun­de, ei­nem Kur­sus, den mitz­u­ma­chen ihm der Va­ter er­laubt hat­te. Mit mei­ner Schwes­ter als Dame tanz­te Ge­org uns Pol­ka und Wie­ner Wal­zer vor und den schwe­ren Ma­su­rek, des­sen schwie­ri­ge Pas wir mit Mühe nach­ahm­ten. Der Tanz­meis­ter mit sei­nen ko­mi­schen Kom­man­dos, sei­nen An­wei­sun­gen, die hüb­schen jun­gen Da­men re­so­lut an­zu­fas­sen, wur­de gleich­sam leib­haf­tig durch sei­ne Schil­de­rung, und end­lich wur­de durch ihn un­ter Bil­li­gung und Ge­nug­tu­ung mei­nes Va­ters die Dis­kus­si­on von al­ler­lei Fra­gen am Fa­mi­li­en­tisch in Gang ge­bracht.

Mein Va­ter schi­en sei­nen Söh­nen schwei­gend ent­ge­gen­zu­le­ben. Er war­te­te gleich­sam dar­auf, sie er­wach­sen zu se­hen, um Stüt­zen und Freun­de an ih­nen zu ha­ben. Mit mei­ner Mut­ter gab es Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten, wir kann­ten sie gleich­sam als täg­li­ches Brot.

Mit dem Auf­tre­ten des Pri­ma­ners Ge­org fing die Er­ör­te­rung all­ge­mei­ner Fra­gen an, in die sich mein Va­ter, als ob ihn da­nach ge­hun­gert hät­te, gern ver­wi­ckel­te. Sie ent­ho­ben ihn ei­ner Iso­lie­rung, wie mir scheint, zu der er sich selbst für Jahr­zehn­te ver­ur­teilt hat­te. Sein We­sen wäh­rend die­ser Zeit war wie das ge­gen je­der­mann: Schweig­sam­keit, ja Un­nah­bar­keit. Sei­ne Äu­ße­run­gen gin­gen nir­gend über das im so­zia­len Ver­kehr un­be­dingt Er­for­der­li­che hin­aus; selbst mei­ne Mut­ter ist ver­ge­bens im­mer wie­der ge­gen die Burg­mau­ern sei­ner Ver­schlos­sen­heit Sturm ge­lau­fen. Nun aber, Ge­org ge­gen­über, und so­mit auch Carl und mir ge­gen­über, trat er of­fen aus sich her­aus.

Es gab in un­se­rer Fa­mi­lie »Auf­trit­te«. Mein und be­son­ders Carls Tem­pe­ra­ment konn­te ohne der­glei­chen Hö­he­punk­te nicht aus­kom­men. Schwes­ter Jo­han­na reiz­te uns durch ge­heu­chel­te Käl­te. Sie ver­ar­bei­te­te ihre Auf­trit­te in­ner­lich. Bei­spie­le, wel­che das Tem­pe­ra­ment mei­ner Mut­ter und mei­nes Va­ters durch hef­ti­ge Auf­trit­te be­stä­tig­ten, sind in die­sen Blät­tern schon an­ge­führt. Spä­te­re Vor­fäl­le wer­den be­wei­sen, dass mein Bru­der Ge­org in die­ser Be­zie­hung viel­leicht am stärks­ten be­las­tet war und ge­le­gent­lich von ei­nem maß­lo­sen, höchst ge­fähr­li­chen Jäh­zorn über­mannt wur­de.

Um jene Os­tern trug sich die­ser tra­gi­ko­mi­sche Auf­tritt zu: Das neu­ge­ba­cke­ne Den­ken Ge­orgs hat­te für sich die Fra­ge ent­schie­den, ob Je­sus von Na­za­reth ein Mensch oder ein Gott ge­we­sen sei. Ge­org hat­te be­haup­tet, er sei zwar der edels­te und reins­te der Men­schen, die je ge­lebt hät­ten, aber doch nur ein Mensch. Wäre Je­sus ein Gott ge­we­sen und hät­te er sich als ein­ge­bo­re­ner ein­zi­ger Sohn Got­tes ge­fühlt, so wäre sein Op­fer kein Op­fer ge­we­sen. Wie sol­le auch ein Mensch den Tod er­lei­den, der sel­ber von sich wis­se, dass er ein Gott und dass er un­s­terb­lich sei. Und so war denn das A und O der Dar­le­gung mei­nes Bru­ders Ge­org am Fa­mi­li­en­tisch, der auch Carl bei­wohn­te, dass Je­sus ein Mensch und nicht Got­tes Sohn wäre.

Nie­mand ver­sah sich des Ein­drucks, den die­se Er­öff­nung auf den da­mals wohl drei­zehn­jäh­ri­gen Bru­der Carl mach­te. Er sprang vom Stuhl, er wein­te fast vor Ent­rüs­tung und Wut. Aus sei­nem Mun­de spru­del­ten ei­ni­ge Mi­nu­ten lang die hef­tigs­ten Vor­wür­fe: »Du wirst es bü­ßen! Du wirst es zu bü­ßen ha­ben!« schrie er sei­nen äl­te­ren Bru­der an. Was er sage, sei Blas­phe­mie, sei Got­tes­läs­te­rung, sei ver­bre­che­ri­scher Un­glau­be. Die Mut­ter, der Va­ter wa­ren ver­dutzt. Dem Ver­tre­ter auf­ge­klär­ter Ide­en blieb die Spra­che weg. Schwes­ter Jo­han­na war ver­zückt wie bei al­lem, was Carl in den Au­gen­bli­cken sei­ner idea­lis­ti­schen Auf­schwün­ge äu­ßer­te. Die­ser aber schloss, sich in wei­nen­der Hef­tig­keit über­schla­gend, in­dem er vor Ge­org auf­stampf­te, in ei­ner Wie­der­ho­lung, die nicht sei­ne Über­zeu­gung, son­dern sein hei­ligs­tes Wis­sen ver­riet: »Ich sage dir, Je­sus ist Got­tes Sohn!«

Carl wur­de all­sei­tig be­sänf­tigt und durch die üb­li­che Un­wahr­haf­tig­keit be­ru­higt, es sei nicht so ge­meint.

Was mich be­traf, so exis­tier­te die Fra­ge da­mals für mich noch nicht. Ich wuss­te von ihr so­wie auch da­von, dass es ein pro­tes­tan­ti­sches und ein ka­tho­li­sches Glau­bens­be­kennt­nis gab, aber ich nahm alle die­se Tat­sa­chen als das und nichts an­de­res hin. Al­les, was mit Kir­che und Re­li­gi­on zu­sam­men­hing, ließ mich gleich­gül­tig, au­ßer in ei­nem aber­gläu­bi­schen Sin­ne. In die­sem quäl­te mich, wie ich schon be­rich­tet, manch­mal Furcht vor ir­di­schen Stra­fen und Höl­len­furcht. Mei­ne heim­lich sum­mier­ten Sün­den, be­son­ders was Un­wahr­haf­tig­keit be­traf, wa­ren zu un­über­seh­ba­ren Men­gen an­ge­wach­sen. Ich hat­te aber die Ge­wiss­heit durch das Wort mei­ner Schwes­ter Jo­han­na, dass sie alle mit ei­nem Male am Tage der Kon­fir­ma­ti­on mit dem Ge­nuss des Abend­mah­les hin­weg­ge­nom­men wür­den.

Ich nahm also in der Fra­ge selbst zwi­schen Ge­org und Carl nicht Par­tei. Per­sön­lich da­ge­gen fand ich mich von dem er­wach­se­nen und den­ke­ri­schen We­sen Ge­orgs mehr als von Carls Be­trof­fen­heit und Ent­rüs­tung an­ge­zo­gen. Carls ver­zwei­fel­te Weh­lei­dig­keit konn­te ge­gen die ge­sun­de, an­griffs­lus­ti­ge Fri­sche des Bru­ders Ge­org nicht auf­kom­men. Carl rühr­te mich ir­gend­wie, Ge­org be­wun­der­te ich.

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Es scheint mir, dass nach dem Ab­zug Ge­orgs Jo­han­na mit der Auf­sicht über mich in Schul­din­gen be­traut wor­den ist. Das war eine un­dank­ba­re Auf­ga­be, der sie au­ßer­dem nicht ge­wach­sen war. Nicht nur hat sie hier auf lan­ge hin­aus mei­ne Nei­gung ver­scherzt, son­dern sie hat­te auch al­ler­lei üble Ei­gen­schaf­ten mei­ner Na­tur ken­nen­zu­ler­nen, mit de­nen ich mich zur Wehr setz­te. Mei­ne Mut­ter wag­te sich nicht an mich, weil ich das Nest­häk­chen war, mein Va­ter schi­en sich ver­steckt zu ha­ben oder war von ei­ge­nen wach­sen­den Sor­gen um den Be­stand des Hau­ses in An­spruch ge­nom­men.

Ich schwan­ke nicht, mir für die­se Zeit alle häss­li­chen Ei­gen­schaf­ten der wer­den­den Fle­gel­jah­re zu­zu­schrei­ben. In dem Be­stre­ben, mich aus der au­to­ri­ta­ti­ven Um­klam­me­rung mei­ner zä­hen Schwes­ter frei zu ma­chen, war mir je­des Mit­tel will­kom­men. Manch­mal muss ich ein Un­hold ge­we­sen sein, was nie­mand, der mich von un­ge­fähr er­blick­te, mei­nem sanf­ten und zar­ten We­sen zu­trau­te. Ich warf Bü­cher und Tin­ten­fass an die Wand, sprang vom Stuhl und lief da­von, gleich nach­dem mei­ne Schwes­ter mich durch ein Ge­misch von Dro­hun­gen und Über­re­dun­gen zur Er­le­di­gung mei­ner Schul­ar­bei­ten wil­lig ge­macht hat­te. »Was willst du mich leh­ren«, schrie ich ihr ins Ge­sicht, »du bist düm­mer als ich!« Mehr als ein­mal be­droh­te ich sie, ging ge­gen sie vor und dräng­te die Leh­re­rin aus dem Zim­mer.

Es war mein Da­sein, das ich gut fand, mit dem ich so lan­ge zu­frie­den ge­we­sen und das ich im Grun­de bis an mein Le­bens­en­de bei­zu­be­hal­ten wünsch­te, das ich mit dem Mut der Verzweif­lung ver­tei­dig­te. Es war die Wut ge­gen den Zaum, die Kan­da­re, das Kumt, die Zugstri­cke und den Wa­gen, die mich zu ei­nem um sich bei­ßen­den, bäu­men­den, aus­schla­gen­den jun­gen Pfer­de mach­te.

Es wa­ren mir noch zwei Jah­re be­stimmt, bis sich die völ­li­ge Zäh­mung durch­set­zen konn­te.

Das Abenteuer meiner Jugend

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