Читать книгу Ich bin dann mal nicht weg - Gernot Zimmermann - Страница 14
Tag 8
Donnerstag, 16. April 2020
ОглавлениеWegen Schlechtwetter musste ich meine Wanderung durch Innsbruck zwei Tage lang unterbrechen, aber heute geht’s weiter. Der nächste Stadtteil steht an, die Roßau. Die befindet sich östlich der Reichenau und ist eigentlich ein reines Gewerbegebiet. Keine Ahnung, wie viele Menschen in der Roßau wohnen, aber ich gehe stark davon aus, dass in keinem Stadtteil weniger Leute zu Hause sind.
Die erste Straße der Roßau beginnt schon an der Geyrstraße und ich weiß auch erst seit dem Studieren des Stadtplans, dass der Grabenweg (Flurname) bis hierher reicht. Der Grabenweg präsentiert sich ab besagter Kreuzung als reiner Fußweg, der nach etwa 200 Metern neben der SB-Tankstelle an der Andechsstraße endet. Vorerst! Der Grabenweg hat nämlich eine Besonderheit zu bieten, denn er besteht aus zwei Teilen, die nicht nur durch eine Kreuzung getrennt sind. Man muss nämlich gute 100 Meter weit der Andechsstraße in Richtung Süden folgen, sie an der Ampel gegen Osten hin überqueren und kommt erst dann zum Grabenweg Teil 2. Das ist wirklich speziell und ich weiß gar nicht, ob es so etwas in Innsbruck noch einmal gibt. Aber ich werde es mit Sicherheit herausfinden ...
Den Grabenweg bin ich oft entlangmarschiert, wenn ich von daheim zu Fuß in die ECHO-Redaktion gegangen bin. Dauert vielleicht eine halbe Stunde und wäre mit dem Fahrrad natürlich schneller gewesen. Aber nach ein paar haarsträubenden Gefahrensituationen – der Grabenweg ist nicht sonderlich breit, im Gewerbegebiet Roßau sind beinahe mehr LKW als PKW unterwegs und wenn sich zwei Brummis begegnen, bleibst du als Radler übrig – habe ich den Drahtesel lieber im Keller gelassen. Übrigens, gleich einmal nach dem „Mediamarkt“ gibt es tatsächlich zwei Wohnhäuser, auf einem der Balkone sehe ich sogar einen Menschen. Ein paar leben also offenbar doch hier …
Körperlich fühle ich mich heute nicht so super, schon von Beginn an zuppelt meine Wade, es ist unglaublich, wie negativ sich zwei Tage Nichtstun auf meine Muskulatur auswirken. Ich muss immer wieder stehen bleiben und nutze jede Gelegenheit, mich mal für eine Minute oder so niederzusetzen, sei es an einer Bushaltestelle oder auf einem Mäuerchen. So komme ich zwar langsam, aber trotzdem voran und schließlich habe ich den verdammt langen Grabenweg hinter mir, der ist sicher die längste Straße der Roßau. Er mündet in den Archenweg (alte Grundbuchbezeichnung), blöderweise ziemlich exakt in dessen Mitte. Weil es von der Strategie her günstiger ist, biege ich nach rechts ab, latsche am Baggersee vorbei und dann den ordentlichen Anstieg zum ehemaligen Müllberg hinauf. Bis weit nach dem Schranken, wo sich halt die unsichtbare Gemeindegrenze von Innsbruck befindet. Und das alles im Bewusstsein, dass ich diesen Weg dann gleich noch einmal in die andere Richtung gehen darf. Scheiß Schweine-Meter, das bequeme Chauffeur-Service von Ilse geht mir in diesem Moment schwer ab. Vor allem der Anstieg hat mich ordentlich mitgenommen, meine Wade hat mich dort immer wieder zum Stehenbleiben gezwungen. Dafür ist es hinunter viel besser gegangen, da bin ich in einem Zug gleich bis zum Baggersee gekommen. Ach, der Baggersee. Die Erinnerungen überfallen mich geradezu, einige davon habe ich ja schon in meinem Buch „Ich war ein Reichenauer Rattler“ erzählt. Den Baggersee kenne ich schon aus meiner frühen Kindheit und wie ich mit meinem Bruder Robert hier als 8-Jähriger – am Weg zu unserem Abenteuerspielplatz Müllberg – vorbeigeradelt bin, da gab es, meiner Erinnerung nach, den See noch gar nicht. Stattdessen eine riesige Baugrube, wo die Firma Katzenberger Schotter abgebaut hat. Dann wurde die Grube irgendwann geflutet und als ich als Teenager mit meinem Jugendfreund Ralfi durch die Roßau strawanzt bin, da hat es neben dem großen noch einen kleinen Baggersee gegeben. Heute ist das eine topmoderne Freizeitanlage und die Innsbrucker nennen den Baggersee liebevoll ihre „Reichenauer Adria“. Das Wasser hat Trinkwasserqualität und es tummeln sich mehrere Fischarten darin. Und offenbar ist der Baggersee im Laufe der Zeit auch immer wieder mal als Entsorgungsstation für exotische Aquariumsbewohner verwendet geworden – anders lassen sich der Amerikanische Sonnenbarsch, die Rotwangenschildkröte oder die Neuseeländische Zwergdeckelschnecke nicht erklären. Was es nicht alles gibt …
Inzwischen habe ich den Baggersee längst hinter mir gelassen und das Schöne am Archenweg ist, dass er sich bruchlos mit der Roßaugasse (alter Flurname) fortsetzt. Auch in dieser Straße ist die ganze linke Seite von Gewerbebetrieben gesäumt, während rechts der Inn fließt, getrennt durch eine schöne Promenade. Da könnte ich auch gehen, aber ich entscheide mich für die Straße.
Ein paar hundert Meter wird die Roßaugasse schon lang sein und es ist inzwischen ziemlich warm geworden. Ich komme zum Recyclinghof der Innsbrucker Kommunalbetriebe (IKB), der ja wieder geöffnet hat. Und ich traue meinen Augen nicht – mindestens 20 Fahrzeuge warten auf der Straße auf die Einfahrt, der letzte steht fünf Meter vor der Kreuzung mit dem Langen Weg. Die Leute dürften die Corona-bedingte Heimquarantäne offensichtlich zum Entrümpeln genutzt haben …
So, die Roßaugasse habe ich hinter mir, auf zu neuen Ufern. Dazu muss ich den Langen Weg ein Stück nach Süden gehen, dann zweigt links die Trientlgasse (Priester und Wanderlehrer, 1817–1898) ab. An der Trientlgasse steht gleich am Anfang ein Flüchtlingsheim, also wohnen doch noch ein paar mehr Menschen in der Roßau. Bis jetzt bin ich nämlich – außer am Grabenweg – noch an keinen Wohnhäusern vorbeigekommen.
Die Trientlgasse geht kerzengeradeaus, das hat der 15-jährige Ralfi dereinst für eine Wahnsinnsfahrt mit einem Motorrad ausgenutzt. Mit mir am Sozius, selbstverständlich beide ohne Helm. Von wem er sich die 1000er Kawasaki ausgeliehen hatte? Ich hab’s vergessen, aber die Raserei ist mir in Erinnerung geblieben. Ralfi hat schlicht und ergreifend den Grasgriff voll aufgedreht und alle Gänge der Reihe nach hochgeschalten. Gleich einmal hat es ihm das Hemd aufgerissen, ich habe die Knöpfe wegspritzen gesehen. Und etwa bei Höchstgeschwindigkeit hat mir der Fahrtwind derart brutal Ralfis Haare ins Gesicht gepeitscht, dass danach zahlreiche kleine Schnittwunden zu sehen waren. Wir haben nur gelacht darüber. Wie heißt es so schön? Unvernunft ist das Privileg der Jugend. Stimmt – und manchmal überlebt man diese Unvernunft sogar …
Ich habe inzwischen die Trientlgasse auch überlebt, jetzt fehlt mir in der Roßau nur noch eine richtig lange Straße, der Rest sind eher kleinere Querverbindungen. Die parallel zur Trientlgasse angelegte Valiergasse (Südtiroler Pionier der Raumfahrt, 1895–1930) wird mich wieder zurück zum Langen Weg bringen und danach werde ich für heute Schluss machen. Meine Wade mag nicht mehr und ich bin es leid, sie alle paar Minuten durch Stehenbleiben besänftigen zu müssen. Da stimmt etwas Gröberes nicht, denn dass sich ein Muskelkater so lange hält, das ist ja nicht normal. Mal schauen, wie das weitergeht, aber jetzt mache ich erst mal die Valiergasse fertig. Die war in meiner Reichenauer Zeit immer mein Heimweg vom Baggersee und ich bin sie sehr oft entlanggegangen. Früher waren hier nur vereinzelt Firmen angesiedelt, das Möbelhaus Pallhuber zum Beispiel ist damals schon dagestanden. Heute wird hier übrigens Autozubehör verkauft. Kurz vor dem Ende der Valiergasse komme ich dann noch beim Schützenheim Reichenau vorbei. Das hat sich in den letzten 40 Jahren überhaupt nicht verändert, auch der Parkplatz davor schaut noch genauso aus wie damals. Ich war ja zwei, drei Jahre lang Mitglied der Reichenauer Schützenkompanie und habe auf diesem Parkplatz das Exerzieren und das Abfeuern der Ehrensalven gelernt. Lang, lang ist’s her.
Gleich nach dem Schützenheim befindet sich der große Parkplatz des „Lidl“-Markts und schon von Weitem sehe ich Ilse im Auto auf mich warten. Geschafft – knapp an die zehn Kilometer waren das heute, sie haben sich aber wie fünfzig angefühlt. Mal schauen, ob es morgen wieder besser funktioniert. Vielleicht muss ich erst wieder richtig ins Gehen reinkommen …
Ach ja, was mir heute aufgefallen ist – es ist liegt eine völlig neue Art von Müll herum: Schutzmasken. Ich habe bis vor ein paar Wochen noch nie in meinem Leben eine Gesichtsmaske am Boden liegen gesehen, jetzt liegen sie zuhauf am Straßenrand und auch auf den Gehsteigen. An einigen Dutzend bin ich in letzter Zeit sicher vorbeigekommen, ein Münzfund wäre mir lieber ...
Reim des Tages:
Mit Vollgas durch die Trientlgasse,
das fanden wir damals richtig klasse.