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Christentum und Religion außerhalb der Kirchen
ОглавлениеGegenüber der beschriebenen Marginalisierung der Kirchen als Institutionen kann allerdings festgehalten werden, dass es bezüglich der Inhalte, um welche es in den Konfessionskirchen geht, genau gegenläufig bestellt ist. Sinn ist „in“. Der Sinnmarkt boomt. Religion ist keineswegs ein ewiggestriger Ladenhüter. Im Gegenteil, Religion gehört – und zwar in zunehmendem Maße – zu den attraktiven Themen eines über sich selbst aufgeklärten Lebens; eines Lebens, das auch nach seinen Tiefen und nach seinen Geheimnissen fragt.
Das Problem scheint zu sein, dass die Menschen den großen Konfessionskirchen das Thema Religion in vielen Fällen nicht mehr zutrauen. Dabei muss man aber auch eine konfessionelle Differenz in den Blick nehmen. Das abnehmende Zutrauen in die Religionsfähigkeit der Kirche dürfte auf protestantischer Seite nämlich noch stärker ausgeprägt sein als auf katholischer. Dem Protestantismus ist mit dem Verständnis von Kirche, wie es Martin Luther ausgebildet hat, gewissermaßen bereits ein Grundmisstrauen gegenüber der Institution, gegenüber der eigenen Kirche eingeschrieben. Wir werden auch darauf zurückkommen.
Dass die Kirche selbst Sachwalter der Religion, mithin des Heiligen ist, bringt die katholische Kirche in eine Position, die dazu führt, dass die Gläubigen ihre eigene Kirche gewissermaßen wie selbstverständlich für religionskompetent halten. Die Kirche ist sozusagen selbst das Heil. Oder anders gesagt, nur über die Kirche und durch die Kirche ist Heil gegenwärtig. Auch das jeweilige Verständnis dessen, was Kirche ist, wird uns noch eingehender beschäftigen. Auf dieses Misstrauen der Gläubigen gegenüber der Religionsfähigkeit ihrer Kirche reagieren die Kirchen – im Sinne des gerade Entfalteten vor allem die evangelischen Kirchenleitungen – mit einer Verkirchlichung der Religion. Auch das wird uns noch weiter beschäftigen.
Religion ist dann zunächst und vor allem Religion in ihrer kirchlichen Gestalt. Das zeigt sich bei der Aufwertung der Gottesdienste und der Kasualien. Letzteren kommt etwa mit der Frage nach der Zulassung zum Patenamt und der Ausstellung eines Patenscheines nachgerade Rechtsqualität zu. So ist zum Patenamt zugelassen, wer einer Konfessionskirche zugehört. Das ist Vereinsdenken, das die Frage, ob jemand Religion hat, mithin religiös ist, außen vor lässt und diese Fragen auf blutleere und trockene Vereinsstatuten reduziert. Beim Protestantismus scheint dies durch Impulse der katholischen Schwesterkirche noch verstärkt zu werden, was sich bei allen Formen hierarchischen Denkens in der Kirchenleitung, aber auch in der gemeindlichen Praxis zeigt.
Der Bedeutungsschwund und manches mehr führt wohl auch dazu, dass die Kirchen ihr eigenes Profil gegenwärtig eher wie das sprichwörtliche Licht unter dem Scheffel stellen. Auch dies wird man vor allem für den Protestantismus sagen müssen. Wenn nicht alles täuscht, dann hat daran auch und vor allem die gegenwärtige ökumenische Diskussion wesentlichen Anteil. Wie in der modernen Soziologie formuliert: Werden Singularitäten (in diesem Fall die Konfessionskirchen) miteinander verglichen, kann das nur unter Ausblendung ihrer sie auszeichnenden Wesensmerkmale geschehen. Denn die Eigenkomplexitäten der Singularitäten machen regelrechte Vergleichstechnologien erforderlich. Und diese reduzieren Komplexitäten. „Notre-Dame in Paris und der Dogenpalast in Venedig sind dann zwei Exemplare des gotischen Baustiles, das Christentum und der Islam sind beides monotheistische Religionen…“1 Wir könnten auch sagen, Komplexitätszuwachs führt zur Komplexitätsreduktion. Daher ist bei den gegenwärtigen ökumenischen Gesprächen in der Regel, wie wir jetzt mehrfach gesehen haben, auch keine Rede mehr von den spezifischen Inhalten – mithin dem Profil –, die die jeweilige Konfessionskirche auszeichnen. Dem gilt es gegenzusteuern. Erforderlich wäre es, das Eigene, das Besondere, das, was die eigene Unverwechselbarkeit ausmacht, wieder in den Blick zu nehmen.
Motor in der Ökumene waren seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem die konfessionsverschiedenen Ehepaare. Sie bewegte in erster Linie die Frage, ob sie Gemeinschaft bei der Feier des Abendmahles haben können oder nicht. Auch andere theologische Grundfragen wurden hier gewissermaßen stellvertretend für die gesamte ökumenische Landschaft diskutiert: die Bedeutung der Kirche, das Verständnis des Amtes eines Priesters bzw. eines Pfarrers, die Frage nach der Stellvertretung Christi in der Person des Papstes und vieles mehr. Die Debatte um die gemeinsame Mahlfeier führte dazu, dass in nicht wenigen Gemeinden eine gemeinsame Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier Praxis wurde. Die Frage nach der Zulassung zum Abendmahl wurde sozusagen aufgeweicht.
Dem setzte die katholische Kirchenleitung spätestens zum ökumenischen Kirchentag 2003 ein Ende, indem die Unmöglichkeit der Mahlgemeinschaft erneut unterstrichen wurde. Zur jüngsten Initiative, die durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, im Frühsommer 2018 erfolgte, wird man festhalten müssen, dass sie wiederum merkwürdig halbherzig ausfiel. Warum – so fragt man sich – soll die Gemeinschaft nur für konfessionsverschiedene Ehepaare und nicht für alle Anderskonfessionellen diskutiert werden? Andererseits wäre dies ein erster Schritt und es stünde dem Protestantismus gut an, den deutschen Reformkatholizismus nicht bei nächstbester Gelegenheit im Regen stehen zu lassen. Bei der letzten größeren Initiative im Umfeld von Donum Vitae unter dem damaligen Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann war der deutsche Reformkatholizismus gegenüber Rom leider wenig erfolgreich.
Hinzu kommt allgemein gesehen jene Entwicklung, die wir eben bereits gestreift haben. In jüngerer Zeit verlagerte sich der Glaube des Einzelnen in zunehmendem Maße in die Privat- bzw. gar in die Intimsphäre. Bereits bei Jesus von Nazareth findet sich der Satz, dass diejenige oder derjenige, der beten wolle, in sein Kämmerlein gehen, sich also zurückziehen solle. Von Jesus selbst ist uns eine solche Frömmigkeitspraxis überliefert. Er ging in die Einsamkeit, wenn er mit seinem Vater allein sein wollte. Durch die Entdeckung der religiösen Individualität und vor allem durch die Bedeutungszunahme des Einzelnen innerhalb der Moderne wurde diese Entwicklung enorm verstärkt. Wie wir noch genauer sehen werden: Vor der Klammer, in der steht, was ein Mensch glaubt, steht immer dieses Ich: „Ich“ glaube … Mit der Verschiebung des Glaubens in die Privat- und Intimsphäre schwand aber auch der Gesprächsbedarf konfessionsverschiedener Ehepaare.
Schließlich wird man sagen können, dass durch die beschriebenen Entwicklungen ein Prozess befördert wurde, den gewiss auch anderweitige Motivlagen begünstigt haben, nämlich der Exodus der Religion aus den großen Konfessionskirchen. Es gehört zu den spannenden Aufgaben der Zeitdiagnostik zu ermitteln, wo Religion außerhalb der Kirchen verifiziert werden kann.
Hier ist zunächst und als Erstes an den großen Markt des Kulturellen zu denken, der sich derzeit ohnehin in einem nicht unerheblichen Wandel befindet. Diese Veränderungen bringen es auch mit sich, dass Menschen Religion in Zusammenhängen leben, die in deutlicher Entfernung zu kirchlichen Wirklichkeiten stehen. Zu denken wäre hier etwa an den großen Markt des Filmes, in dem etwa Schuld und Vergebung, Erlösung und Heil thematisiert werden, an Musik und Konzerte, an Events aller Art, aber auch an eine blühende Freizeitindustrie, die sich in Sport und Natur, in Literatur und zahlreichen Formen der Selbstfindung und in der Kombination vieler dieser Elemente miteinander auslebt.
Sprach man im ausgehenden vergangenen Jahrhundert von einem Christentum außerhalb der Kirchen und räumte diesem hohe Bedeutung und ein selbstverständliches Recht ein, so gilt heute das Gleiche für eine Religion außerhalb der Kirchen. Das Christentum außerhalb der Kirche war ein mündiges, ein selbstverantwortetes Christentum, das sozusagen für seine Praxis auf die Kirche verzichten konnte. Im Unterschied zu einem Christentum außerhalb der Kirche ist eine Religion außerhalb der Kirche allerdings schwerer zu identifizieren.
Jedenfalls bedarf eine entsprechende Diagnostik noch mehr an Sensibilität und Anstrengung, als es für ein Christentum außerhalb der Kirche der Fall war. Doch es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen. Denn auch für eine Religion außerhalb der Kirche könnte es bezeichnend sein, dass sie für ihre Praxis auf die Kirchen verzichten kann. Und es könnte für eine solche Religion außerhalb der Kirchen möglicherweise auch gelten, dass sie Religion in einem ganz eigentlichen Sinn sind, dass wir es hier im besonderen Maße mit lebendiger Religion zu tun haben.