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Zwischenbilanz

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Eine erste Diagnose kann daher lauten, dass die großen Konfessionskirchen erheblich unter dem Schwund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung leiden. Unsere moderne ausdifferenzierte Gesellschaft bedarf keines Wächteramtes kraft höherer Ordnung. Die ökumenischen Anstrengungen können dem wenig oder gar nichts entgegensetzen. Im Gegenteil, sie verstärken diesen Bedeutungsschwund eher noch! Wenn nicht mehr recht einzusehen ist, welche Bedeutung den Kirchen in unserer Gesellschaft zukommt, dann ist auch nicht einzusehen, welcher Gewinn mit einem gemeinsamen Auftritt verbunden sein könnte. Es handelt sich dann bei einer intensivierten Ökumene nicht mehr um zwei sinkende Schiffe, sondern um zwei oder mehrere Konfessionskirchen – je nachdem, wie viele in den Blick genommen werden – in einem sinkenden Schiff.

Der Protestantismus diskreditiert sich selbst, indem er den ihn kennzeichnenden Grundgedanken der religiösen Gleichheit nicht konsequent in die Praxis umsetzt. Anders gesagt: Die ihm wesensgemäß aufgegebene Struktur der Pluralität wird letztlich nicht wirklich und nicht konsequent gelebt. Die mit dem Drang zur Eindeutigkeit einhergehende Gefahr der Komplexitätsreduzierung trifft für alle Konfessionskirchen zu und zu solcher Reduktion von Komplexität kommt es insbesondere in aktuellen ökumenischen Diskursen, die geradezu davon leben, die Eigenheiten einer Konfessionskirche zu nivellieren oder auszublenden. Der Katholizismus etwa ist ohne sein spezifisches Kirchenverständnis als Katholizismus gar nicht zu verstehen. Und wer dem Protestantismus sein Wesensmerkmal nimmt, dass er sich als Gewissensreligion versteht, der ignoriert eine seiner wesentlichen Grundbestimmungen.

Daher hatte auch der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im vorletzten Jahrhundert zu Recht darauf hingewiesen, dass es in der Auseinandersetzung zwischen den großen Konfessionen nicht um „wahr“ oder „falsch“ gehen kann. Die Anwendung dieser Prädikate, der Prädikate „wahr“ oder „falsch“, ist im Diskurs der Konfessionen unzulässig, weil sie eben auf ihre je eigene Weise Individualisierungen der christlichen Religion sind. Mit ihrem jeweiligen immanenten Recht verkörpern die Konfessionen, was unter christlicher Religion verstanden werden kann. Und diese jeweilige Individualisierungsgestalt lässt sich nur verstehen, wenn die Aspekte ihres Wesens erkannt und verstanden werden.

Wer die profilbestimmenden Momente einer Konfession nicht versteht, versteht nicht, warum es sich bei ihr um eine Individualisierungsgestalt der christlichen Religion handelt, denn er oder sie versteht dann gerade nicht, was diese Gestalt individuiert und als besondere kennzeichnet. Nur wer ermessen kann, warum dies so und jenes anders ist, kann je eigene Weisen verstehen, in denen das Eine – nämlich die christliche Religion – einmal so und einmal eben auch anders auftreten kann. Genau darin aber dürfte ein wahrhaft ökumenisches Interesse bestehen, sich angesichts der sich voneinander unterscheidenden Profile in Respekt zueinander zu verhalten, verbunden in der Überzeugung, dass es sich je um eigene Individualisierungsgestalten der einen christlichen Religion handelt. Anders gesagt gilt wohl umgekehrt auch, nur wer die Individualisierungsgestalten der christlichen Religion erkennt, entdeckt, was Religion in dieser spezifischen christlichen Form ist.

Dabei sind vereinnahmende und egalisierende Verhaltensweisen ebenso fehl am Platze wie etwa das ausgrenzende Votum von Dominus Jesus, mit dem der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger auf die gemeinsame Feststellung zur Rechtfertigungslehre reagierte, indem dort nämlich formuliert wurde, dass „die evangelische Kirche nicht Kirche im eigentlichen Sinne“ sei. Die evangelischen Kirchen (wie es aufgrund der historischen Genese genauer heißen muss, da hat Joseph Ratzinger Recht) sind Kirchen nicht im Sinne des katholischen Verständnisses von Kirche und wollen dies auch gar nicht sein, aber sie sind Kirchen im Sinne eines evangelischen Verständnisses einer Individualisierungsgestalt der christlichen Religion. Bereits hier zeichnet sich ab, wie ein argumentativ ausweisbares Verständnis von Ökumene heute lauten könnte; wir können es mit der tradierten Formel der versöhnten Verschiedenheit zusammenfassen. Darauf werden wir zurückkommen. Jedoch zeichnet sich auch jetzt schon ab, dass hinter solche Verschiedenheit kein Weg zurückführt.

Bevor wir damit beginnen, ist allerdings auf den möglichen Einwand zu diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten hinzuweisen, dass diese ja gar nicht den jeweiligen Standpunkt adäquat wiedergäben. Als ich kürzlich bei einer Podiumsdiskussion darauf aufmerksam machte, dass der religiöse Gleichheitsgedanke etwas typisch Protestantisches sei, wurde eingewandt, dass dieser Gedanke auch im Zweiten Vatikanum eine entscheidende Rolle spiele. Und es mag durchaus sein, dass Vergleichbares in den entsprechenden Texten gefunden werden kann. Selbstverständlich kann hier nicht der Anspruch erhoben werden, die Textgrundlagen zu den jeweiligen Gesichtspunkten vollständig zu überschauen. Das mag anderen überlassen bleiben. Jedoch denke ich, dass – um beim Beispiel zu bleiben – der religiöse Gleichheitsgedanke bei der konfessionellen Schwesterkirche nicht das spezifische Profil hat, das ihn bei uns Evangelischen auszeichnet.

In der breiten Überlieferungsgeschichte des Katholizismus lassen sich vermutlich zu so gut wie jeder Problemkonstellation Textstellen finden, mit denen unterschiedlichste – ich denke in manchen Fällen sogar widersprüchliche – Positionen belegt werden können. Ich orientiere mich neben den anderen zurate gezogenen Texten daher immer wieder am Katechismus der katholischen Kirche 2. Diese Orientierung hat jedenfalls den Vorzug, dass mit ihr keine „Sondermeinung“ innerhalb des Katholizismus bemüht wird, sondern dass über ihn so etwas wie ein common sense katholischer Überzeugungen in den Blick genommen wird. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass hier vorgetragene evangelische Positionen Standpunkte darstellen, zu denen es Alternativen gibt. Ausschlaggebend sollten daher die Begründungszusammenhänge sein. Letztlich geht es aus evangelischer Sicht doch auch immer darum, was der Einzelnen oder dem Einzelnen einleuchtet.

Ökumene um jeden Preis?

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