Читать книгу Ökumene um jeden Preis? - Gerson Raabe - Страница 9
Ökumene als Komplexitätsreduzierung?
ОглавлениеMit dem bisher Entfalteten ist noch ein Problem verwoben, das eine eigenständige Würdigung verdient: das Problem der Eindeutigkeit. Direktiven bringen die Gefahr mit sich, dass der Eindruck entsteht, die Dinge wären eigentlich ganz einfach, sozusagen schwarz-weiß. Dass dem in den allermeisten Fällen nicht so ist, haben wir bereits angesprochen. Um diese Eindeutigkeit einleuchtend darzulegen, wird in vielen Fällen tatsächlich vorhandene Vielschichtigkeit reduziert. Wir können auch sagen, dass die Dinge in der Regel komplex sind. Jede kernige Direktive verlangt daher nach einer Reduzierung von Komplexität.
Für unsere gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit können wir diesen Zusammenhang auch aus anderer Perspektive plausibilisieren: Das Leben an sich ist unter den Bedingungen der Moderne kompliziert geworden. Wir können auch von einer Unübersichtlichkeit des Lebens sprechen. Solche Unübersichtlichkeit sehnt sich – wie wir gerade angesprochen haben – nach Eindeutigkeit. Vermutlich liegt in dieser Sehnsucht auch ein Grund für die großen Erfolge, die die unterschiedlichen Populismen gegenwärtig haben.
Und obwohl solche Populismen eine Versuchung für kirchliches Auftreten in unserer Zeit enthalten könnten, wären die Kirchen sicherlich gut beraten, sich solcher Vereinfachungen nicht zu bedienen. Solche Vorsicht walten zu lassen, gilt auch angesichts des kirchlichen Hinweises, dass Verlautbarungen immer in ihrem Kontext, etwa einer Predigt, verstanden werden müssen. Und natürlich ist einzuräumen, dass hier auch Missbrauch möglich ist, ob versehentlich oder mit Absicht. Immer wieder besteht die Gefahr, dass Einzelnes aus dem Zusammenhang gerissen und dann in seinem Gehalt verzerrt oder gar verfälscht wird. Unabhängig davon ist aber auch die angesprochene Ausgabe von Direktiven kritisch wahrzunehmen.
Ökumene ist selbst gewissermaßen ein Instrument zur Komplexitätsreduzierung. Wenn das Miteinander der Kirchen etwa auf den Begriff der Freundschaft unter Ausblendung der jeweiligen Profile reduziert wird, dann ist damit alles beiseite gewischt, was die großen Konfessionskirchen inhaltlich auszeichnet. Wenn jemand auf die Idee käme, beispielsweise von der katholischen zur evangelischen Konfession wechseln zu wollen und dem Ratsvorsitzenden der EKD die Frage stellte, was ein solcher Wechsel denn bedeuten würde, müsste der mit seiner Vorstellung der Ökumene als Freundschaft eigentlich konsequent antworten: Nichts.
Dann aber stellt sich in der Tat die Frage, was Konfessionalität eigentlich noch soll. Die Konfession zu wechseln würde jedenfalls keinen Sinn machen. Auch wären die Gründe für den Konfessionsunterschied, über welche jahrhundertelang gerungen wurde und über die sich nicht gerade die Dümmsten beider Konfessionen die Köpfe zerbrochen haben, wie weggeblasen. Hinter beiden Großkonfessionen stehen viele Hundert Jahre Geistesgeschichte, die zu würdigen der Respekt vor dem dort Geleisteten geradezu gebietet.