Читать книгу Besichtigung eines Unglücks - Gert Loschütz - Страница 11

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Der Erste, der merkte, dass etwas nicht stimmte, war der Hilfsschaffner Erich Montag, der zusammen mit seinen Kollegen in dem kleinen, etwas erhöht liegenden Abteil des Packwagens saß. Als der Zug bremste, rannte er in den Gepäckraum, schob die Tür auf, blickte nach vorn, dann zurück und sah die Lichter eines anderen Zugs auf sich zukommen, und da hörte er auch schon, rasch lauter werdend, das Rattern und Stampfen.

Inzwischen waren auch seine Kollegen an der Tür, Möhring und Hübsch, sie sahen den heranrasenden Zug und sprangen hinaus. Das heißt, Montag und Hübsch, Möhring kam nicht mehr dazu. Er schaffte den Absprung nicht, sondern erhielt einen Schlag gegen den Oberarm und wurde hinausgeschleudert, blieb aber wie durch ein Wunder unverletzt. Montag kam mit den Füßen auf, sprang zur Seite, duckte sich vor den herumfliegenden Splittern und Trümmerteilen, und als er wieder aufschaute, sah er, dass sich die Züge in- und übereinander geschoben hatten. So sagte er: in- und übereinander. In meinem Notizheft habe ich die wörtlich aus den Protokollen übernommenen Wendungen unterstrichen.

Die zerstörten Wagen standen quer zu den Gleisen. Montag lief vor zum Stationsgebäude, während Möhring zum Stellwerk ging, die Eisentreppe hochstieg, und als er eintrat, sah er zwei Männer, Lebrecht und Zeuner, und hörte, wie der eine ins Telefon rief: Haltet alle Züge zurück! Während der andere aus dem Fenster starrte, auf die über den Gleisen hängende Dampf- und Rauchwolke.

Alles, der ganze Bahnhof, vom Stellwerk bis zum Stationsgebäude, war in eine einzige Rauch- und Dampfwolke gehüllt.

Hübsch, der Dritte aus dem Packwagen, stand eine Weile wie betäubt da. Er sah hin, ohne zu begreifen, was er sah, duckte sich nicht, als die Trümmer durch die Luft flogen, rannte auch nicht weg, sondern starrte bloß vor sich hin, minutenlang, wie er glaubte.

Das Erste, woran er sich später erinnerte, war, dass er am Zug entlangging, nach vorn zur Lok, wo er Stuck traf, den Heizer. Und dass er ihn fragte: Wie konnte das passieren? Und dass Stuck antwortete: Wir haben Haltesignal bekommen. Stuck war noch da, bei der Lok. An ihn erinnerte sich Hübsch, während er sich an Ernst nicht erinnerte, den sah er nicht. Obwohl auch Ernst da war. Er lag, während Hübsch mit Stuck sprach, auf dem Boden im Führerstand. Als der Aufprall erfolgte, hatte er die Hand noch am Ventil der Schnellbremse.

Möhring blieb drei, vier Minuten im Stellwerk, stieg dann die Treppe hinab und ging zur Unfallstelle, über der Dampf- und Rauchschwaden trieben, und als er näherkam, sah er zum ersten Mal das ganze Ausmaß des Unglücks.

Der Packwagen, in dem er mit Hübsch und Montag gesessen hatte, war völlig zermalmt worden, desgleichen die beiden Wagen davor, die so überfüllt gewesen waren, dass er sich bei der Fahrscheinkontrolle nur mit Mühe einen Weg durch den Gang hatte bahnen können, der Wagen davor schließlich, der viertletzte, war zur Hälfte zusammengedrückt.

»Die Lokomotive des D 180 war auseinandergerissen und bildete zusammen mit mehreren Personen und den Schlafwagen beider Züge einen wüsten Trümmerhaufen.«

So seine Aussage am nächsten Morgen. Als ich sie zum ersten Mal las, dachte ich, dass diese Mensch und Materie gleichsetzende Beschreibung ein Zeichen von Gefühlskälte sei, um beim zweiten Lesen zu merken, dass sie das Entsetzen besser zum Ausdruck brachte, als es die Unterscheidung getan hätte. Seine Worte reduzierten die Personen auf das Stoffliche und zeigten dadurch, dass diese genauso zerstörbar waren wie jedes andere aus Stofflichem bestehende Ding. Und das war es, was das Erschrecken hervorrief. Dass sie nichts waren als Stoff, der zerrissen, zerquetscht, zerschnitten, durchlöchert, verbrannt werden konnte. Vielleicht war es sein Entsetzen darüber, das ihn diesen Satz sagen ließ.

Möhring hörte seine Schritte auf der Eisentreppe, diesen bei jedem Aufsetzen der Schuhe ertönenden Klingklang, hörte den unter seinen Schuhen wegrollenden Schotter. Doch als er zu der Stelle kam, an der sich die Wagen ineinandergebohrt hatten, hörte er nichts mehr. Es herrschte beinahe Totenstille, in der lediglich das Stöhnen der in oder neben den Trümmerhaufen liegenden oder sich krümmenden Verletzten zu vernehmen war. Die Stille zuerst, dann das langsam anschwellende Stöhnen, Jammern, Weinen, in das sich jetzt auch vereinzelte Schreie zu mischen begannen.

»Einige lösten sich aus den Trümmern, wälzten sich zwischen den Schienen oder wankten umher.«

Ein paar Leute, die unverletzt geblieben waren, standen herum. Als nach etwa zwölf Minuten, es können auch fünfzehn gewesen sein, noch immer keine Hilfe eingetroffen war, gingen sie zu einer neben den Gleisen verlaufenden Straße und riefen zu den Häusern hinüber um Hilfe. Andere begannen, die Verletzten zu einer Auffahrt zu tragen. Viele waren ohne Besinnung, und die, die noch bei Besinnung waren, froren und klagten über die Kälte.

Möhring schätzt, dass es zehn Grad unter Null waren.

Die Stille wird noch von jemand anderem erwähnt, einem namenlos gebliebenen Fahrgast, der unmittelbar danach aus einem der unzerstört gebliebenen Wagen geklettert und am Zug entlang zurückgegangen war.

»Es hatte die Wagen von den Gleisen gerissen, einige waren umgestürzt, aber es war so still, als wäre nicht das Geringste geschehen. Erst nach einer Weile, so nach ungefähr drei bis vier Minuten, nahm ich das Klagen wahr, das aus den zerstörten Wagen drang. Jetzt flackerten auch hier und da Brände auf. Aber zuerst war es ganz still.«

Eine Beobachtung, die, wie ich heute weiß, in fast allen Unfallberichten auftaucht. Beinahe vorwurfsvoll wird darauf hingewiesen, dass es danach ganz still war. Im besten Fall verwundert, in der Regel aber vorwurfsvoll oder sogar empört. Warum? Weil angesichts der durch den Unfall angerichteten Zerstörung die Stille als unpassend, ja, ungehörig empfunden wird? Als Hohn?

Als wäre nicht das Geringste geschehen – das ist der Schlüsselsatz. Ja, offenbar meinen die Zeugen, durch den Umstand, dass etwas geschehen ist (nämlich das! der Unfall, die Katastrophe), müsse die Natur in Aufruhr sein und, wie im Film, die zum inneren Zustand passenden Geräusche liefern. Aufbrausende Musik, schreiende Geigen, aufeinandergeschlagene Becken.

Der erste Arzt traf gegen ein Uhr dreißig ein.

Er stieg mit seiner kleinen Ledertasche aus dem Auto und kam zögernd, als glaubte er nicht, was er sah, quer über die Gleise, stand, ohne seine Tasche zu öffnen, ohne Hand anzulegen oder auch nur eine einzige Anweisung zu geben, einen Moment lang da, machte wieder kehrt und lief zum Auto zurück. Für Kruse, den zur selben Zeit ebenfalls an dieser Stelle eingetroffenen Reichsbahnassistenten, der sich als Stellvertreter des Bahnhofsvorstehers auf eine ungenaue Weise für alles verantwortlich fühlte, sah es aus, als flüchtete er vor diesem Anblick.

»Halt«, schrie er, »Herr Doktor!«

Aber der hörte nicht. Erst als er ihm nachrannte, blieb er stehen und stammelte, er könne nichts tun.

»Wo soll ich da anfangen? Ich hole Verstärkung.«

»Ist unterwegs«, erwiderte Kruse, fasste seinen Arm und führte ihn zurück. Und dachte dabei, ob das erlaubt sei, den Doktor festzuhalten, so kurz angebunden mit ihm zu reden. Er war deswegen betrübt und ein bisschen verängstigt.

Auch das steht in den Akten.

Kruse war es, der Alarm gegeben hatte, den offiziellen Alarm. Schon um 0 Uhr 56 … also muss er in dieser Nacht Dienst gehabt oder sich aus einem anderen Grund im Bahnhof aufgehalten haben, denn in drei Minuten kann er unmöglich den Weg von seiner Wohnung zur Station zurückgelegt und darüber hinaus die Situation erfasst haben – schon um 0 Uhr 56 also hatte er die Post angerufen und die beiden Worte gesprochen, die den Alarm auslösten.

»Schwerer Unfall!«

Sie standen, rot unterstrichen, in seiner Dienstvorschrift. Sie waren das Stichwort, der Schlüssel, der für den unwahrscheinlichen Fall der Katastrophe mit der Reichspost vereinbarte Code. Alles Weitere war nun Sache des in dieser Nacht Dienst habenden Postbeamten, der nach einem festgelegten Plan zu handeln hatte: das Alarmieren der Krankenwagen und Feuerwehren, die Anrufe bei den sechs Ärzten der Stadt, bei den Rote-Kreuz-Stellen, Sanitätskolonnen, privaten Kraftfahrzeugvermietern und SA-Dienststellen.

Während er die beiden Worte aussprach, schaute Kruse auf die Uhr und notierte die Zeit, sie stand später in seinem Bericht. Er war damals siebenundzwanzig und seit einem halben Jahr verheiratet. Er hörte ein Poltern auf der Treppe, Schritte auf dem Gang. Als Jentzsch hereinstürmte, der Stationsvorsteher, sein Vorgesetzter, wollte er aufspringen, entschied sich dann aber, sitzen zu bleiben.

Auch Jentzsch war innerhalb von Minuten am Bahnhof. Wie sie das machten, er und Kruse, ist mir ein Rätsel. Aber es war so. Denn schon um 1 Uhr 03 forderte er den Hilfszug Magdeburg an, der sofort abfuhr, aber zwischen Burg und Güsen mit einem Maschinenschaden liegen blieb und repariert werden musste, ehe er seine Fahrt fortsetzen konnte. Es war kurz vor drei, als er in Genthin ankam.

Nachdem sich der Zugführer bei einem Rundgang einen Eindruck über das Ausmaß des Unglücks verschafft hatte, setzte er sich in Kruses Büro an den Schreibtisch und rief in Berlin an. Er verlangte die Entsendung des Hilfszugs Grunewald. Nach dessen Eintreffen verständigten sich die beiden Zugführer darüber, dass sie weitere Unterstützung brauchten, und forderten auch noch den Hilfszug Seddin an, der am Mittag aus Perleberg eintraf.

Jeder Anruf, jede Abfahrt und jede Ankunft wurden in einem Schreiben der Kripo Magdeburg an das Reichssicherheitshauptamt Berlin, unter Nennung der genauen Zeiten, festgehalten.

Als Jentzsch hereinkam und zum Hörer griff, war Montag noch im Stationsgebäude. Er saß still auf einem Stuhl neben der Tür und sah, wie Jentzsch wählte und wie er sich, als er nicht gleich Anschluss erhielt, zu Kruse umdrehte, die Hand auf die Muschel legte und sagte, er solle den Wartesaal öffnen und Windfackeln zur Unfallstelle bringen, dazu an Verbandszeug, was er auftreiben könne.

»Ich komm mit«, sagte Montag und lief hinter Kruse her aus dem Zimmer.

Während sie, die Fackeln im Arm, die Verbandszeugsäcke über der Schulter, an den Gleisen langgingen, stierte Kruse vor sich hin, wohingegen Montag unentwegt redete. Er merkte es selbst, und es war ihm peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun, die Worte fielen aus ihm heraus, sie stiegen aus seinem Mund, tanzten um ihn herum, und das Seltsame war, dass sie ohne jeden Zusammenhang mit dem Unglück standen. Auch das merkte er, war aber nicht imstande, seinen Redefluss zu stoppen. Die Fackeln waren zu einem Packen zusammengebunden. Die ganze Zeit über hielt Kruse den Packen in der Armbeuge, fast wie ein schutzbedürftiges Kind. Plötzlich ließ er ihn fallen und rannte zur Straße hinüber. Kurz darauf kam er zurück, und Montag, aus dem es noch immer redete, sah, dass er einen Mann hinter sich herzog, den er am Arm hielt.

Das war der Arzt, der wieder wegfahren wollte.

Besichtigung eines Unglücks

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