Читать книгу Besichtigung eines Unglücks - Gert Loschütz - Страница 7

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»Nicht deine Zeit.«

Das sei doch nicht meine Zeit, sagte Yps, als ich mit der Zusammenschrift schon begonnen hatte, beugte sich aus dem Bett und angelte nach ihrem Pulli, der vom Sessel gerutscht war, setzte sich auf und zog ihn mit einer raschen Bewegung über den Kopf. Ihre Kleider waren über das ganze Zimmer verteilt, die Hose kringelte sich auf dem Boden, die Jacke hing über dem Stuhl, die Schuhe lagen umgekippt neben der Tür. Sie sammelte alles ein, ging ins Bad, und kurz darauf hörte ich ihre Schritte auf der Treppe, das Klappen der Haustür.

Früher Abend, noch nicht dunkel, im Hof flammte das Licht auf. Ich zog den Bademantel an und ging ins vordere Zimmer. Der Himmel auf der anderen Parkseite war von einem tiefen Rot, zwischen den Bäumen ein Glitzern und Strahlen. Die Balkontür stand auf … trat hinaus und sah Yps auf dem Uferweg. Eine Stunde zuvor war sie, unterwegs zu einem Termin in Mitte, vorbeigekommen, auf einen Sprung (wie sie es nannte), und an mir vorbei in die Wohnung gestürmt. Als ich ins Balkonzimmer kam, sah ich sie am Schreibtisch stehen. Sie beugte sich über die Papiere, die dort lagen, die Berichte, Akten, Artikel, Fotos, und sagte:

»Nicht deine Zeit.«

Und als wir im Bett lagen, wiederholte sie den Satz. Y, Yps oder Ypsilon … Kürzel, das seine Entstehung dem Umstand verdankt, dass sie glücklich verheiratet ist und ihr Mann auf keinen Fall wissen darf, dass sie in meine Wohnung kommt, um Verrat an ihm zu üben … das wäre sein Tod, sagte sie, als wir einmal darüber sprachen, und schaute so betrübt, dass ich nicht wusste, ob sie es ernst meinte oder ob es nicht einer ihrer den Ernst streifenden Witze war … das wäre sein Tod … konnte und kann vom Betrug aber nicht lassen, sondern kommt, wenn sich die Gelegenheit bietet, vorbei. Und schleppt, wenn sie weiß, dass ich unterwegs bin, auch andere an.

Bevor sie hinter den Büschen verschwand, drehte sie sich um, hob die Hand. Und ich winkte zurück.

Nicht meine Zeit, aber an meine heranreichend, weshalb ich (anders als die jüngere Yps) beim Lesen der Akten sogleich den Sandweg sehe, der an Lisas Haus vorbeiführt, um die Wiese herum, die knatternden Autos, die nachmittags fast leeren Straßen und die noch nicht gänzlich aus dem Gebrauch gekommenen Pferdefuhrwerke. Ich höre das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder und spüre den warmen Geruch der Strohballen, die bis weit über den Wagenrand hinaus übereinandergeschichtet sind. Oder den schwarzen Geruch des Kanals. Ich stehe auf der Brücke und sehe die mit Kohle, Sand oder Kies beladenen Schleppzüge, die ein kleines Beiboot hinter sich herziehen, höre den Klang des Signalhorns, den Schlag der Glocke.

Alles taucht wieder auf: die im Stollen der unterirdischen Munitionsfabrik gefundenen und auf die Schienen der Kleinbahn gelegten Patronen, die ausgemergelten Männer mit dem zusammengerollten und unterm Stumpf mit einer Sicherheitsnadel festgesteckten Hosenbein, das Klacken der sich vom Pflaster abstoßenden Krücken … die Freude beim Radfahren im Sommer und die Furcht vor der Dunkelheit im Winter, die Nachtfurcht. Die Furcht vorm Verlorengehen.

Hat sie mich nicht im Bahnsteigdurcheinander hochgehoben und in die ihr aus einem Zugfenster entgegengestreckten Hände fremder Leute gegeben, weil es ohne mich leichter war, sich zur Wagentür durchzuzwängen? Sah ich sie nicht im Gewoge der Köpfe und Schultern untergehen, so dass ich beim Anrucken des Zugs glauben musste, sie sei zurückgeblieben, während ich in immer schnellerer Fahrt von ihr fortgerissen wurde? Hüpfte mein Herz nicht vor Freude, wenn ich sie am Gangende auftauchen sah … wie sie sich mit einer ungewohnten, nur durch ihre Furcht um mich erklärbaren Ruppigkeit durch die Leute kämpfte? Ging es nach Magdeburg? Nach Berlin? Zum Begabten? Oder zur Tante, der Lederarmfrau?

Die Bilder kommen von weit her und gehören zum Angstvorrat, dem sich nachts mit weit aufgerissenem Maul über mich stülpenden Schrecken … da ist sie, die schwarze aus der Dunkelheit auftauchende, stets feucht schimmernde Walze des Lokomotivkessels, da sind sie, die mannshohen, vom Gestänge vorwärtsgeschobenen Räder, die sich durch die Rauch- und Wasserdampfschwaden bohrenden Scheinwerfer, das Zischen, Knirschen und Stampfen, das Funkengespeie und Eisengequietsche, das Rattern und Klappern, das mich nach solchen Fahrten bis in den Schlaf hinein verfolgende Schlagen der Räder.

Und der Ort dazu, der Bahnhof, dieser eine … so oft habe ich ihn, seiner ansichtig werdend, fotografiert, dass sich mit den in Schubladen, Kisten, Kartons aufbewahrten Bildern ganze Ausstellungen bestücken ließen, immer wieder habe ich fast automatisch die Kamera hochgerissen und zwei, drei Fotos geschossen, wann immer ich herkam, im Frühsommer, wenn sich mir das Gebäude halb verdeckt von den in Blüte stehenden Kastanienbäumen zeigte, im Herbst, wenn das Laub schon braungesprenkelt an den Zweigen hing, im Winter, auch bei Regen oder Schnee, und nicht nur vom Vorplatz aus oder dem mit Bäumen gesäumten Straßenstück, sondern auch von den Bahnsteigen, selbst aus dem fahrenden Zug, als er noch nicht wieder dort hielt, sondern den Bahnhof durchquerte, als Interzonenzug, immer hob ich (obwohl bei Strafe verboten) die Kamera und drückte den Auslöser … auch wenn ich mir sagte, du hast das längst, du brauchst das nicht mehr, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, oder besser dem Zwang, denn das war es ja, ein Zwang. Wenn schon die hierher gehörenden Menschen verschwunden waren, sollte doch wenigstens der Ort bleiben, und wenn der Ort nicht bleiben konnte, musste doch die Erinnerung an sein Aussehen bewahrt werden, die Bühne, auf der sie sich bewegt hatten, nicht selten war ja dieses eigenartige, früher (in meiner Kindheit) bis unter das Dach vor Betriebsamkeit brummende, heute dem Verfall anheimgegebene Gebäude das letzte, was sie von der Stadt sahen, dieser aus unerfindlichen Gründen ochsenblutrot angestrichene Hauswürfel, der inzwischen so eingedunkelt ist, dass er fast schwarz erscheint. Das Dach ist flach und trägt eine Anzahl kleiner Türme, die Schornsteine sein können oder Lüftungsrohre oder Reste einer einst burgähnlichen Befestigung, im Dunkeln vor allem, wenn man bloß den Gebäudeumriss sieht, kommt ihm etwas Arabisches zu, fast fühlt man sich an ein Haus in der Medina von Tanger erinnert, nur dass es nicht blendendweiß ist, sondern von dieser düsteren Farbe.

Hier also, im ersten Stock dieses damals schon dunkelrot angemalten Hauswürfels, lagen die Dienstzimmer des mir aus den Akten entgegentretenden Personals, des Bahnhofsvorstehers Jentzsch und des Reichsbahnassistenten Kruse sowie die ihrer Mitarbeiter und (nicht vergessen) das der Magdeburger, das ihnen für ihre Untersuchung zur Verfügung gestellte Eckzimmer … die Magdeburger, sagten die ständig hier beschäftigten Reichsbahner, wenn sie Heinze und Wagner meinten, die zur Klärung der Unfallursache aus Magdeburg hergesandten Beamten, die Kriminalen, sagte Kruse … der Dicke und die Bohnenstange, lästerte Lebrecht, der Mann im Stellwerk, bis ihm das Lästern verging, in diesem Gebäude also.

Besichtigung eines Unglücks

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