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Am Vormittag Yps, die einen Katalog mit den für ihren Konzern angekauften Bildern vorbeibringen wollte und erst, als sie vor meiner Tür stand, merkte, dass sie ihn im Auto liegengelassen hatte. Brachte sie, um den Katalog in Empfang zu nehmen, zurück. Da sie in Zeitnot war, schlug sie es mir nicht ab.

Sie parkt nie in meiner Straße, sondern immer vorm Schloss, und nach Möglichkeit so, dass ihr Auto von anderen Autos verdeckt wird, also nahe am Zaun, damit Lennart es, falls er vorbeikommen sollte, nicht sofort sieht. Und nun zeigten wir uns zusammen auf der Straße. Bot ihr an, vorzulaufen, aber das fand sie albern. Vormittag ist ohnehin nicht seine Zeit, vormittags ist er in der Klinik. Wenn er auf dem Spandauer Damm vorbeifährt, dann am frühen Abend.

Am Nachmittag mit dem Rad zum Zeitungsarchiv, das in einem der ehemaligen Lagerhäuser im Westhafen untergebracht ist. Mir ging das Bild nicht aus dem Kopf: die bewusstlos im Führerstand liegenden Männer. Und wollte selbst sehen, was an der Theorie von der Inversionswetterlage dran war.

Als ich hinkam, lagen die zu dicken Folianten gebundenen Zeitungen, die ich vor einer Woche bestellt hatte, auf einem kleinen Eisenwagen. Ich schob ihn zu einem freien Tisch und nahm sie herab. Doch als ich sie aufschlug, sah ich, dass in keiner einzigen Zeitung ein Wetterbericht stand. Der Wetterbericht war als Rubrik, die dem Feind Informationen für seine Kriegsführung liefern konnte, aus den Blättern verschwunden. Aber dann fand ich doch etwas, eine Meldung im Nachrichtenteil:

»Die angekündigte Verschärfung der Kältewelle, die seit vier Tagen über Deutschland und den Nachbargebieten liegt, ist nun eingetreten. Während in der Innenstadt bis zu 14 Grad minus gemessen wurden, meldeten einige Außenbezirke in den späten Nachmittagsstunden bereits 16 und sogar 18 Grad minus.«

Nennenswerte Folgen habe der scharfe Frost bisher nicht gehabt. Insbesondere seien die sonst üblichen Verkehrsstörungen bei der Eisenbahn und beim Straßenverkehr ausgeblieben. Dagegen habe der Verkehr auf allen märkischen Wasserstraßen eingestellt werden müssen. Bei dem gegenwärtig herrschenden strengen Frost, heißt es weiter, seien die zum Verkauf angebotenen Fische oft hart gefroren, was ihrer Güte jedoch keinen Abbruch tue, vorausgesetzt, dass sie langsam aufgetaut und weder auf den warmen Herd noch in heißes Wasser gelegt würden.

Der letzte Wetterbericht stammte vom 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen, dem ersten Kriegstag. Danach rückte an seine Stelle die Rubrik »Wann wird verdunkelt?«, in der die Zeiten des Sonnenuntergangs und Sonnenaufgangs genannt wurden.

Mit Kriegsbeginn wurde die allgemeine Verdunklung angeordnet. Aber da offenbar keiner wusste, wie sie zu handhaben war, schreibt die Berliner Zeitung vom 2. September: »Es ist so, dass nicht nur die Leuchtreklamen zu verschwinden haben, sondern auch die Wohnungen so zu verdunkeln sind, dass kein Lichtschein ins Freie tritt.«

Außerdem sei es verboten, in den S-Bahnen Zigaretten anzuzünden, da die Helligkeit der aufschießenden Flamme nach außen dringe. Die Vorhänge in den Zügen müssten, soweit vorhanden, geschlossen werden.

Am Donnerstag, dem 21. Dezember 1939, ging die Sonne um 15 Uhr 48 unter und am nächsten Morgen um 8 Uhr 9 auf.

Damit lässt sich sagen, dass sich das Unglück ungefähr in der Mitte zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang ereignete. Manche Zeitungen melden auch die Zeiten des Mondes. An diesem Donnerstag ging der Mond am Mittag um 12 Uhr 50 auf und am nächsten Morgen um 3 Uhr 20 unter.

Das heißt, die Sichel des Neumonds, denn es war Neumond, stand, wenn auch meistens von Wolken verdeckt, den ganzen Nachmittag über am Himmel.

Ich erinnere mich an solche Tage.

Die Häuser ducken sich unter der Kälte, ein dünner Rauchfaden steigt aus dem Schornstein. Die Kähne sind weniger am Ufer vertäut als daran fest gefroren. In den Stuben brennt von morgens bis abends Licht, vor den unteren Fensterdritteln hängen Wolldecken gegen den Luftzug. Tagelang steht der Essensgeruch in der Wohnung, nistet sich in den Haaren ein, im Pullover. Auf den zwischen Haus und Straße in den Schnee getrampelten Pfad wird am Morgen braune Asche gestreut, die im Laufe des Tags unter den Schuhen wieder ins Haus getragen wird. Die Menschen huschen mit kleinen, wie in der Kälte geschrumpften Gesichtern herum. Aber meistens ist niemand zu sehen.

Kein Winter wie aus dem Reiseprospekt, sondern ein dunkler, bedrückender, nach hinten verlegter Totensonntag.

So ein Tag also. Aber nirgends, an keiner Stelle, ein Hinweis auf eine Wetterlage, die geeignet gewesen wäre, die Handlungsfähigkeit der Männer im Führerstand herabzusetzen. Sie waren, als sie zu Verursachern des dann Katastrophe genannten Unfalls wurden, bei vollem Bewusstsein. Und haben auch bei der auf Grund ihrer Verletzungen erst Wochen später erfolgten Vernehmung keinen einzigen Grund angeführt, der einen Zweifel daran zuließe.

Besichtigung eines Unglücks

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