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Als erste trafen die Feuerwehrzüge der Henkel- und der Silvawerke ein. Die Scheinwerfer, die sie, ohne die Erlaubnis des Luftgaus abzuwarten, aufgestellt hatten, warfen ein weißes Licht, das die Augen blendete, das Areal aber nicht ausleuchtete, überall gab es dunkle, wie in einem schwarzen Nebel versunkene Felder, aus denen das Stöhnen, Jammern und Rufen aufstieg. Aus Furcht, jemanden zu treten, wagte man kaum den Fuß aufzusetzen.

Lange und Wieland, Kriminalinspektor der eine, Kriminaloberassistent der andere, die vom Schwarzen Weg aus zu den havarierten Zügen hinüberschauten, sahen sofort, dass wenig zu machen war. Am besten würde es sein, sich zur Verhinderung von Diebstählen bis zum Tagesanbruch auf die Sicherung der Unfallstelle zu beschränken. Was aber geleistet werden musste, das war beiden klar, war die Identitätsfeststellung der Todesopfer. Schon seit einer Weile rollten die Wagen mit den Verletzten und Toten durch die Mützel- und die Bahnhofstraße, die von den Gleisen wegführten.

Bei der Adolf-Hitler-Straße (die in meiner Kindheit Ernst-Thälmann-Straße hieß und heute wieder Brandenburger Straße heißt) bogen sie rechts ab und erreichten nach ein paar hundert Metern das Johanniter-Krankenhaus, der Wagen mit den Verletzten fuhr rechts in den Hof hinein, während der Wagen mit den Toten geradeaus weiterfuhr, bis zur Turnhalle der Berufsschule, die an derselben Straße lag und in dem vorbereiteten Katastrophenplan als Todesopfersammelplatz ausgewiesen war.

Identitätsfeststellung? Lange, der wusste, dass er nicht darum herumkommen würde, nickte. Aber wie? Er schaute Wieland an. Nun, wie bei anderen tödlichen Unfällen auch: Abgleich der Personen mit den bei ihnen gefundenen Papieren, und da es so viele waren, würde man eine Aufstellung anfertigen müssen. Am besten versah man die Toten mit einer Nummer und trug sie zusammen mit ihren Namen in eine Liste ein.

Klar, dachte Lange, als er sich auf den Weg machte … was das anging, unterschied sich die Sache nicht von anderen Unfällen, aber das Ausmaß, die Art der Verletzungen … nein, es war doch etwas anderes.

Er ging durch die Bahnhofstraße, bog rechts ab, und als er bei Magnus vorbeikam, fiel ihm ein, dass er nur einen kleinen Block dabei hatte, der nicht ausreichen würde. Er brauchte einen großen Block oder besser ein Klemmbord mit ein paar DIN-A4-Blättern. Er wusste nicht, wie viele Opfer es gab, aber es war klar, dass es viele waren und dass es eine lange Liste werden würde. Für einen Moment sah er sein Spiegelbild im Schaufenster, ein dunkler Umriss, wandte sich um und ging den Weg zurück, am Marktplatz vorbei zu seiner Dienststelle.

Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel. Und ich hatte überlegt, was der Mann hier tat und wie es dazu gekommen war, dass er in diesem Zug saß.

*

Die Magdeburger trafen am frühen Morgen ein. Es war noch dunkel, die Bahnhofsuhr zeigte Schlag sechs. Kruse, der im Bedürfnis, sich nützlich zu machen, und aus Verzweiflung, es nur so wenig tun zu können, ständig zwischen Unfallstelle und Stationsgebäude hin und her lief, stand, eben in sein Büro zurückgekehrt, am Fenster und sah, wie der Wagen hielt.

Der Fahrer stieg aus und ging um das Auto herum, doch anstatt die Beifahrertür zu öffnen, starrte er am Gebäude vorbei, in Richtung der von den Scheinwerfern angestrahlten havarierten Züge. Das Licht half, aber es reichte nicht aus, an eine systematische Durchsuchung des Trümmerbergs, aus dem stundenlang das Klagen, Jammern, Stöhnen der Verletzten und Sterbenden drang, war nicht zu denken … während der Fahrer noch da stand und stierte, ging die Beifahrertür auf, und ein Mann wälzte sich heraus, hinter dem ein zweiter erschien, der auf der Rückbank gesessen hatte, ein großer dünner. Er wand sich aus dem Auto, und als er draußen war, streckte er sich, schob die Brille zurück und schaute am Haus hoch, zu dem Fenster, an dem Kruse stand, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktat.

»Da sind sie«, sagte er.

»Wer?«, fragte Jentzsch.

»Die Magdeburger, möchte wetten, das sind sie.«

Worauf Jentzsch ans Fenster trat und sah, wie der Ältere einen Hut aufsetzte, den er in der Hand gehalten hatte, während der Jüngere neben den Fahrer trat. Die beiden waren ihm vor einer Stunde avisiert worden, und er hatte gedacht, dass es am besten sei, sie im Eckzimmer unterzubringen, dem größten im Obergeschoss, dort gab es zwei Schreibtische.

Der Fahrer ging ums Auto herum, öffnete den Kofferraum und nahm einen Karton heraus, es war das Behältnis, in dem sich die Reiseschreibmaschine befand, die von Seidel & Naumann gebaute Erika, die Wagner, wenn es sich einrichten ließ, mitzunehmen pflegte … immer wieder geschah es nämlich, dass er in den Kleinstadtpolizeidienststellen zum Protokolltippen an eine lahmende Maschine verwiesen wurde, an eine Krücke mit verbogenen und sich bei jedem Tastenschlag verhakenden Typenhebeln. Besser, man hatte sein Handwerkszeug dabei. Es war seine eigene, von eigenem Geld erstandene, in einen Lederkoffer eingepasste Maschine. Der Fahrer trug sie die Treppe hoch, und die beiden, Heinze und Wagner, folgten ihm.

Wieland kannte sie flüchtig, den immer breiter und schwerer werdenden, seiner Pensionierung entgegensehenden Heinze, und den trotz seiner bald vierzig Jahre, wohl auf Grund seiner Schlaksigkeit, jugendlich wirkenden Wagner, seit langem bildeten sie ein Gespann.

Als er sie in der beginnenden Dämmerung über die Unfallstelle führte, merkte er, dass Heinze so kurzatmig geworden war, dass er alle paar Meter stehen blieb, während Wagner ständig den Kopf schüttelte, als wollte er seiner Missbilligung über das Gesehene Ausdruck geben. Wie zum Schutz vor dem Anblick hatte er den Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände in die Taschen gebohrt. Als er die Brille abnahm und in die Tasche schob, glaubte Wieland, das Entsetzen zu bemerken, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Heinzes Gesicht konnte er nicht erkennen, es lag im Schatten der Hutkrempe. Er war bloß im Anzug, seinen Mantel hatte er in der Station gelassen, aber er schien nicht zu frieren. Sie standen noch draußen, zwischen Station und Unfallort, als er fragte:

»Wer kümmert sich um die Toten?«

Es war gegen acht, über den Häusern auf der anderen Bahnhofseite zeigte sich ein rötlicher Streifen.

»Lange«, antwortete Wieland.

Worauf Heinze sich umschaute und sagte: »Allein?«

Natürlich nicht. Wieland wusste, dass er zwei Schutzleute mitgenommen hatte. Außerdem waren die Einsarger unterwegs, sie kamen aus Berlin und würden am Vormittag eintreffen.

*

Um diese Zeit herum muss Lisa ein paar hundert Meter weiter vorbeigegangen sein und in die Bahnhofstraße hineingeschaut haben. Normalerweise benutzte sie für den Weg zur Arbeit sommers wie winters das Rad. An diesem Morgen aber ging sie der Kälte wegen zu Fuß. Sie nahm die Abkürzung durch die Gärten (zwischen denen ich sie später mit dem Begabten sah), bog hinter der Kirche auf die Altenplathower Straße und stapfte dann durch den Park, um kurz vorm Kanal auf die Chaussee zu stoßen, die über die Brücke in die Stadt hinein führt.

Es war noch dunkel, als sie aufbrach, erst oben, nach Aufstieg zur Brücke, sah sie nach Osten hin einen Streifen Licht und tauchte dann nach dem Abstieg zur Mühlenstraße wieder ins Dezembergrau ein, und als sie kurz vor Magnus in die Bahnhofstraße hineinschaute, sah sie die Scheinwerfer.

Ihre Arbeit begann um acht Uhr dreißig.

Seit dem Unglück waren acht Stunden vergangen, noch längst nicht waren alle Opfer geborgen. Bis zum Abend kamen die Wagen mit den Toten und den Verletzten die Bahnhofstraße hinauf und fuhren bei Magnus vorbei zum Krankenhaus, zur Turnhalle. Jedes Mal, wenn sie ein Auto hörte, wird sie den Kopf gehoben und zum Fenster geschaut haben.

*

Die Turnhalle der Berufsschule war ein roter Klinkerbau mit großen Fenstern, auf dessen Boden der Hausmeister gleich, als er hörte, wofür der Bau gebraucht wurde, Sägespäne verteilt hatte. Es war die einzige Halle der Stadt, die beheizt werden konnte, weshalb sie im Winter auch von den Schülern der anderen Schulen genutzt wurde. Sie zogen mit ihren Turnbeuteln in Zweierreihen über den schmalen Bürgersteig der Großen Schulstraße zur Berliner Chaussee und kamen, nachdem sie sich umgezogen hatten, in einen großen warmen Raum mit einem federnden Holzboden.

Jetzt freilich war das Heizen zu unterlassen, auch daran hatte Lange gedacht, als er in der Nacht zum Revier gegangen war, um sich mit Schreibzeug einzudecken, daran, dass er sich mit dem Hausmeister absprechen musste … nicht dass der auf die Idee kam, den Ofen anzuwerfen. Bloß keine Wärme. Und dann war ihm noch etwas eingefallen: Die Wertsachen, die Leute hatten ja Geld dabei, Uhren, Ringe, Schmuck … alles musste sichergestellt und verwahrt werden. Aber wie? Umschläge? Große, aus festem Papier gefaltete Umschläge, Couverts in verschiedenen Größen. Ja, am besten hob man die Sachen in solchen Umschlägen auf. Das Nachdenken darüber lenkte ihn von dem Grauen ab, das (wie er wusste) auf ihn zukam.

In dem Bericht, den Wieland, Langes Vorgesetzter, am 28. Dezember verfasste, schreibt er, dass am 22. Dezember, bis 24 Uhr, 126 Tote bezeichnet und zum Teil festgestellt waren, was wohl meint: mit Nummern versehen und identifiziert.

Da immer mehr Tote gebracht wurden, die Turnhalle aber bereits am Abend gefüllt war, veranlasste er am nächsten Morgen, dass die Glashalle des Schützenhauses beschlagnahmt und ebenfalls für die Aufnahme von Toten hergerichtet wurde. Auch diese Halle war am Abend zur Gänze belegt.

Am Nachmittag muss es zu einem kleinen Aufstand gekommen sein: Die aus Berlin herbeigeholten Einsarger, aber auch Beamte des Erkennungsdienstes weigerten sich, ihre Arbeit fortzusetzen, weil ein dauernder Mangel an Gummihandschuhen bestand und die Männer ohne diesen Schutz die Leichen nicht anfassen wollten.

Da die Ortspolizei nicht nachkam, erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung seit dem frühen Nachmittag des 22. durch Beamte der Kripo Magdeburg. Zu diesem Zweck wurden die unbekannten Toten aus der Turnhalle zum Schützenhaus gebracht, desgleichen Personen, die, ohne dass ihre Identität hatte festgestellt werden können, im Krankenhaus gestorben waren. Am 27. Dezember waren alle Toten, soweit als männlich oder weiblich erkannt, in Listen erfasst. Von den 185 festgestellten Toten waren bis zu diesem Zeitpunkt 161 namentlich bekannt; 24 blieben unbekannt. Von letzteren sind inzwischen weitere 10 bekannt geworden. Nach dem 27. Dezember ist eine weitere Person im Krankenhaus verstorben.

Und dann folgt eine seltsame Bemerkung, die ich ebenfalls wörtlich wiedergebe: Weitere 73 Personen sind hier als vermisst gemeldet, die jedoch in der Toten- und Krankenhausliste nicht aufgeführt sind.

Was heißt das? Dass sie einfach verschwunden sind? Oder dass sie als vermisst gemeldet wurden, später aber wieder aufgetaucht sind? Dass bloß vermutet wurde, sie hätten in einem der Unglückszüge gesessen, während sie tatsächlich in einem anderen Zug saßen? Oder dass sie die Reise zwar geplant, aber nicht angetreten hatten?

73 ist eine enorme Zahl. Dieser Satz bleibt ein Geheimnis.

*

Einer der beiden Geistlichen, die am Morgen über die Unfallstelle gingen, bezeichnete die aus dem Trümmerberg aufsteigenden Laute als Klagegesang. Er glaubte ein Jammern und Heulen zu hören. Tatsächlich aber hatte die Kälte dafür gesorgt, dass keiner, der zu diesem Zeitpunkt unversorgt unter den Trümmern lag, noch am Leben war Weshalb es kein Gesang gewesen sein kann, was er hörte, sondern eisige Stille.

Besichtigung eines Unglücks

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