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Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee.

Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins. Mit einer solchen Gewalt, dass es im Umkreis von zehn Kilometern zu hören ist, in der Stadt, in den umliegenden Dörfern, Vorwerken, Gehöften. Die Leute schlafen und schrecken aus dem Schlaf hoch. Dann wieder Stille. Noch tiefere Stille.

Der 21. Dezember 1939 ist ein Donnerstag. Schon vom frühen Morgen an herrscht auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin ein dichtes Gedränge, das bis in die späten Nachtstunden hinein anhält. Am 1. September haben die deutschen Truppen Polen überfallen, das Land befindet sich im Krieg, und das heißt, dass alle Züge, die nicht gebraucht werden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, für militärische Zwecke abgezogen wurden. Räder müssen rollen für den Sieg. Und fehlen jetzt. Die früher in den Wochen um Weihnachten herum eingesetzten Sonderzüge stehen nicht mehr zur Verfügung, während gleichzeitig mehr Leute unterwegs sind als in der Friedenszeit. Und so ist es, zumal die Fahrpläne auch noch zusammengestrichen wurden, kein Wunder, dass es immer wieder zu Verspätungen kommt.

Am späten Abend verlassen zwei Züge den Bahnhof, der Schnellzug D 10 in Richtung Köln und der Schnellzug D 180 in Richtung Neunkirchen, und zwar im Abstand von einer halben Stunde. Der D 10 fährt pünktlich um 23 Uhr 15 ab. Und der D 180, ebenfalls pünktlich, um 23 Uhr 45. Aber keiner wird sein Ziel erreichen. Denn 68 Minuten danach, in der ersten Morgenstunde des 22. Dezember 1939 – genau um 0 Uhr 53 – kommt es 90 Kilometer weiter westlich, im Bahnhof von Genthin, zur größten Katastrophe, von der die deutsche Eisenbahn jemals betroffen wurde und die dennoch, für eine Weile zumindest, beinahe völlig aus dem Gedächtnis verschwunden war.

Der D 180 prallt mit voller Geschwindigkeit auf den D 10. 196 Menschen sterben am Unfallort, beziehungsweise in den Tagen danach. Und hunderte werden verletzt.

Als ich ein Bild davon bekam, wie sich die Sache zugetragen hatte, sah ich das Haus vor mir, in dem das Mädchen, das Lisa damals war, mit ihrer Mutter lebte, und nahm an, dass sie ebenfalls wach geworden ist.

Ihr Zimmer lag nach hinten, zum Hühnerhof und den sich daran anschließenden Gärten. Sie wird aus dem Schlaf geschreckt und, ohne Licht einzuschalten, ans Fenster getreten sein.

Wie in allen Wintern dort, an die ich mich erinnere, werden die Scheiben gefroren gewesen sein, ein Eisblumenfeld. Sie brachte den Mund ans Glas, hauchte dagegen, zog den Hemdsärmel über den Handballen und wischte darüber … aber nichts, nur der Umriss der Kirche, die mit ihrem breiten Turm hinter den Gärten gluckengleich zwischen den Bäumen hockte, weshalb sie, noch immer im Dunkeln, ins Treppenhaus tappte, barfuß über die kalten Fliesen hinüber zur Stube. Sie zog den Vorhang zurück, öffnete das Fenster, stieß den Laden auf, aber auch hier nichts, was den Lärm erklärt hätte, nur die igluförmige Holzmiete, die ihr Vater (schon schwerkrank) im Sommer aufgeschichtet hatte, dahinter, jenseits der Wiese, der Saum des Kiefernwalds, durch den es zu den Feldern hinausging, ein dicker, wie mit einem schwarzen Marker gezogener Strich.

Seltsamerweise sehe ich sie allein, nie mit ihrer Mutter, die nebenan schlief, in der angrenzenden Kammer, die so schmal war, dass die Ehebetten nicht nebeneinander hineinpassten, sondern (wie angekoppelte Wagen) hintereinander stehen mussten, mit den Längsseiten an der Wand. Auch sie muss wach geworden sein, blieb aber liegen. Warum? Weil sie nichts sah? Oder war das erst später? Nach dem Krieg? Als sie, wenn Lisa zur Arbeit ging, für mich sorgte? In dieser Zeit konnte sie nur noch hell und dunkel unterscheiden und blickte, wenn ein fremdes Geräusch an ihr Ohr drang, nicht auf, sondern unter sich, als horchte sie in sich hinein und als sei dort, in ihrem Inneren, die Erklärung für das Gehörte zu finden.

Lisa schloss das Fenster, und da jetzt nur noch das Ticken der Wanduhr da war, das später neben ihrem Geigenspiel zum beherrschenden Geräusch dieses Zimmers für mich wurde, legte sie sich wieder hin, um erst am Morgen auf dem Weg zur Arbeit zu erfahren, was geschehen war.

Auch in dieser Nacht, denke ich jetzt, stand der Notenständer neben dem Fenster, nicht in der Wohnstube, wie später, als wir allein dort wohnten, sondern in dem zum Hühnerhof hin gelegenen Raum, der dann mein Zimmer wurde, während Lisa nach dem Tod ihrer Mutter nach vorn zog, in die vormals als Elternschlafzimmer genutzte Kammer.

Was mich angeht, so hörte ich zum ersten Mal Mitte der neunziger Jahre davon.

Nachdem ich für ein Reisemagazin einen Beitrag über die Straße der Romanik geschrieben hatte (in dem die Stadt notgedrungen nur eine untergeordnete Rolle spielte), erhielt ich Post von einem Herrn Weidenkopf, den ich nicht kannte. Er schrieb, der Text habe ihm gefallen, und da er den biographischen Angaben entnehme, dass ich aus Genthin stammte, erlaube er sich, mich auf ein Ereignis hinzuweisen, das weitgehend in Vergessenheit geraten sei: das große Zugunglück von 1939.

Als ich die Blätter auseinanderfaltete, die in dem Umschlag steckten, sah ich, dass es sich um einen Aufsatz handelte, der zu Beginn der Achtziger in der Zeitschrift Der Eisenbahnfreund, Erfurt, erschienen war, acht schon beinahe vergilbte Blätter, keine Kopien, sondern aus dem Heft herausgetrennte Originale. Die im Text abgedruckten Fotos zeigten ein Bild der Verwüstung. Der zweite Zug war mit einer solchen Wucht auf den ersten geprallt, dass sich die Wagen übereinander geschoben hatten. Ein Wagen ragte steil in die Luft, während sich ein anderer in die Erde zu bohren schien.

Am Ende seines Briefs erwähnte Weidenkopf, dass er selbst aus Genthin stamme und in den Dreißigern das Realgymnasium in der Großen Schulstraße besucht habe. Beim Lesen meines Namens sei ihm ein Mädchen eingefallen, das ein oder zwei Klassen unter ihm war, eine Lisa Vandersee, die nach der Mittleren Reife abgegangen sei und eine Lehre in einem Kaufhaus begonnen habe.

»Darf ich fragen, ob Sie mit ihr verwandt sind? Und wenn, was aus ihr geworden ist?«

Ich bedankte mich für den Aufsatz, teilte ihm mit, dass Lisa Vandersee meine Mutter sei und in Berlin lebe.

Worauf ich einen zweiten Brief erhielt, in dem er mir Grüße auftrug und schrieb, dass er sie als ein hochgewachsenes Mädchen in Erinnerung habe, das, wann immer er ihm auf der Straße begegnete, einen Geigenkasten dabei hatte.

Es gingen noch ein paar Briefe zwischen uns hin und her. Und jedes Mal lag ihnen etwas anderes bei: ein Foto des Realgymnasiums aus dem Jahr 1934, ein alter Bierdeckel mit dem Aufdruck Genthiner Bier, das hektographierte Exemplar einer von ihm verfassten Stadtgeschichte, auf deren Deckblatt das Stadtwappen prangte: die in der Luft schwebende Jungfrau Maria, barfüßig, das Kind auf dem Arm.

Er war (erfuhr ich nach und nach) Anfang der Fünfziger in den Westen gegangen und dort über seiner Sehnsucht nach der Kanalstadt zum Sammler und Heimatforscher geworden. Ein Heimatforscher ohne Heimat, der unter anderen Umständen Briefmarken oder Erstdrucke gesammelt hätte, so aber seine Sammel- und Forscherleidenschaft auf seinen Geburtsort gerichtet hatte.

»Mein Archiv«, schrieb er, »ich lege Ihnen etwas aus meinem Archiv bei.«

Doch anstatt mich darüber zu freuen, merkte ich, wie sich etwas in mir verschloss. War es möglich, dachte ich, dass er in mir eine verwandte Seele sah, jemanden, den er durch seine Geschenke dazu verpflichten konnte, dereinst seine Nachfolgerschaft anzutreten? Ich lebte noch in Italien und hatte nicht die geringste Lust, mich in eine Rolle drängen zu lassen, und schon gar nicht in die des Heimatforschers. So kam es, dass meine Briefe immer kürzer wurden.

»Vielen Dank«, schrieb ich zurück. »Vielen Dank.«

Bis unsere Korrespondenz ganz einschlief. Mit der Zeit vergaß ich ihn, und wenn ich doch einmal an ihn dachte, dann wie an einen längst Verstorbenen. Doch dann kam wieder ein Brief.

»Heute möchte ich Ihnen zwei Fotos schicken, die vor ein paar Wochen in Saalfeld entstanden sind.«

Das eine zeigte ein Gewirr von Gleisen, ein Bahngelände, auf dem alte Dampfloks abgestellt waren, eine Art Friedhof für Lokomotiven. Das andere ihn selbst, einen alten Herrn (er musste an die neunzig sein), der einen Stock in der Hand hielt und mit allen Anzeichen des Triumphs auf eine Zahl deutete.

»01 531! Erinnern Sie sich? Die Unglückslok hatte die Betriebsnummer 01 158. Nach dem Unfall wurde sie repariert und war, wie ich herausfand, bis in die Siebziger hinein in Betrieb. Nach einer Generalüberholung, 1964, hat sie eine neue Nummer erhalten: 01 531. Voila, ich stehe also vor jener Lok, die mich in jener Unglücksnacht aus dem Schlaf gerissen hat.«

Und dann folgte jenes, wie ich heute weiß, wohlberechnete Postskriptum.

»Im Übrigen wurde sie später auf der Strecke Magdeburg – Potsdam eingesetzt, so dass nicht auszuschließen ist, dass dieselbe Lokomotive auch dem Zug vorgespannt war, der Sie und Ihre Frau Mutter von Genthin weggebracht hat.«

Nein, ausgeschlossen war es nicht, aber doch ziemlich unwahrscheinlich. Aber sind Zufälle das nicht immer? Ich holte den Artikel wieder hervor, und, tatsächlich, auf der letzten Seite stand:

»Aus 01 158 wurde 01 531.«

Damit fing es an. Mit Weidenkopfs Bemerkung über die Lok. Oder ging es da schon um die vier Sekunden, die in dem Artikel erwähnt wurden?

»Hätte der Mann im Stellwerk das Haltesignal vier Sekunden später gegeben, wäre es nicht zum Unglück gekommen.«

Um dieses Was wäre, wenn?

Am Abend schrieb ich zwei Briefe. Den einen an Weidenkopf, um ihm für den Hinweis zu danken. Den anderen ans Landesarchiv von Sachsen-Anhalt. Und kaum eine Woche danach kam die Antwort. Ein Dr. Herter teilte mir mit, dass sich im Bestand des Landesarchivs zwei Akten befänden, die ich einsehen könne, die eine läge im Magdeburger Kriminalarchiv, die andere im Archiv der Reichsbahn.

»Diese müssten Sie allerdings selbst auswerten.«

Ja, es ging um dieses Was wäre, wenn. Eben noch ist es so. Und gleich darauf ist es ganz anders. Eben noch ist alles in Ordnung. Und im nächsten Moment versinkt es im Chaos. Und dazwischen liegt ein falscher Handgriff, die Winzigkeit von vier Sekunden.

Oder ein Brief: »Lisa, warum bist du da und nicht hier?«

»Es geht doch nicht«, hatte sie mit Bleistift an den Rand geschrieben. Der Brief lag im Kreutzer, der neben Bériots Violinschule eine Weile ihre Bibel war. Das Papier war so dünn, dass es sich an die Seiten geschmiegt hatte und beim Umblättern mit umgeschlagen wurde. Deshalb war es mir, als ich bei Beginn der Zusammenschrift die Noten aus dem Karton nahm und neben den Schreibtisch legte, nicht aufgefallen. Ihre Schrift war so winzig, dass ich eine Weile brauchte, um sie zu entziffern. Aber es war ihre Schrift, daran gab es keinen Zweifel.

»Es geht doch nicht«, hatte sie an den Rand geschrieben. »Es geht doch nicht, Liebster.«

Aber dann ging es doch.

Der Aufsatz im Eisenbahnfreund stammt von einem Herrn Bothe aus Bad Saarow am Scharmützelsee und beschäftigt sich vor allem mit der Rolle, die Erich Wernicke, der Lokführer des D 180, bei dem Unglück spielte. Er hatte mehrere Signale überfahren und war in dem Prozess, der im Sommer 1940 in Magdeburg stattfand, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, zu Unrecht, wie Bothe meinte. Seiner Meinung nach handelte es sich um ein faschistisches Willkürurteil. So nannte er es.

Er schildert den Lokführer, der zum Zeitpunkt des Unglücks 51 Jahre alt war, als einen verantwortungsvollen Mann, dem in seinem langen Berufsleben kein einziger Fehler unterlaufen sei. Er habe sich nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen und sei, was ebenfalls für ihn sprach, weder Mitglied der Nazipartei noch einer ihrer Gliederungen gewesen.

Hätte so jemand, fragt er, leichtfertig sein Leben und das der ihm anvertrauten Menschen aufs Spiel gesetzt? Nein, unmöglich. Wenn er die Signale überfahren habe, müsse es einen Grund geben, der nicht in seiner Person liege.

Wenn ich den Autor richtig verstand, sah er ihn im Wetter. Das sei das Entscheidende gewesen: Die Verteilung der warmen und kalten Luftströme. Es habe eine Inversionswetterlage vorgelegen, die verhinderte, dass die Rauchgase aus dem Schornstein der Lok nach oben abzogen. Sie seien an den Windleitblechen vorbeigeführt worden, in das offene Führerhaus eingedrungen und hätten zu einer Kohlenmonoxidvergiftung des Personals geführt.

Wernicke und Krollmann, sein Heizer, seien beim Überfahren der Signale betäubt, wenn nicht gar bewusstlos gewesen, weshalb sie das Geschehen nicht mitbekommen hätten. Daraus leitet Bothe ab, dass Wernickes Urteil wie das des ebenfalls angeklagten Krollmann auf Freispruch hätte lauten müssen.

Heißt das: Der Zug raste führerlos durch die Nacht? Als Bild abgegriffen, als realer Vorgang ein Alptraum, der den Reisenden, wüssten sie um die Gefahr, in der sie schweben, den Angstschweiß auf die Stirn triebe. Aber sie wissen es ja nicht, sie sitzen in der überschaubaren Sicherheit ihres Abteils, dösen vor sich hin, blättern in einem Buch oder schauen auf die Landschaft hinaus.

Besichtigung eines Unglücks

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