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Die Herrlichkeit des Schöpfers – die Würde des Menschen

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Wir erwähnten bereits mehrmals das Wort Schalom, als wäre es ein ganz gewöhnliches deutsches Wort. In der Tat ist es noch nicht einmal ein gewöhnliches hebräisches Wort: Es ist ein ganz besonderes Wort. Es beschreibt einen Zustand, in dem alles in Ordnung ist, alle Beziehungen intakt und alle Nöte gestillt sind und wo niemand irgendjemandem irgendetwas schuldet. Schalom ist ein Traum und ein Ziel. In 1. Mose 1 wird ein Leben im Schalom beschrieben.

Und dann geschah der Sündenfall. Die Konsequenzen waren gravierend, der Schalom Gottes wurde mehr als nur angeschlagen. Aber das Abbild Gottes im Menschen wurde nicht völlig zerstört, wie manche meinen. Die Menschheit stellt immer noch die Krone der Schöpfung dar, auch wenn sie nun nicht mehr immer mit Gerechtigkeit herrscht. Weil zwei Menschen eine verbotene Frucht aßen, ist seitdem zwar alles beeinträchtigt, wurde aber nicht alles völlig zerstört. Früher sah ich, Tim, das anders. Aber dann änderte sich vor mehr als 30 Jahren in einer unvergesslichen Unterrichtsstunde in einem Seminar über »Alttestamentliche Theologie« meine Meinung. Ich erinnere mich noch genau an die Einzelheiten.

Halb im Spaß gab uns der Professor den Auftrag, alle Geschöpfe Gottes zwischen eins und zehn einzuordnen. Gott sei dabei eine Zehn, denn ihm, dem Allmächtigen gebühre die höchste Ehre. Die niedrigsten Kreaturen, zum Beispiel Würmer, sollten wir mit einer Eins versehen. Vermutlich wollte er keine Null verwenden, da sogar Würmer Teil der guten Schöpfung Gottes sind.

Ich erinnere mich noch genau, wie ein Student wie aus der Pistole geschossen antwortete: »Ich glaube, die Menschen sind bei eineinviertel – höchstens.« (Ich wusste gleich, aus welcher theologischen Ecke dieser Student kam.) Andere widersprachen ihm sofort: »Nein, ich würde die Menschheit bei fünf einstufen.« Irgendjemand nannte sogar die Zahl »sieben«. Nachdem wir nicht ganz ernsthaft debattiert hatten, schlug der Professor vor: »Warum schauen wir nicht einfach in der Bibel nach, wo wir eine ziemlich klare Antwort finden? Schlagt doch bitte Psalm 8 auf.«

Ich kannte diesen Psalm recht gut. Herr, unser Herrscher! Groß und herrlich ist dein Name. Himmel und Erde sind Zeichen deiner Macht (Vers 2; hier jeweils Hoffnung für alle). So fängt David an, der offenbar ganz deutlich ausdrücken will: »Gott ist eine Zehn.« Dann fährt er fort: Aus dem Mund der Kinder erklingt dein Lob. Es ist stärker als das Fluchen deiner Feinde. Erlahmen muss da ihre Rachsucht, beschämt müssen sie verstummen (Vers 3).

Und dann stellt der Psalmdichter die Frage: Ich blicke zum Himmel und sehe, was deine Hände geschaffen haben; den Mond und die Sterne – allen hast du ihre Bahnen vorgezeichnet. Was ist da schon der Mensch, dass du an ihn denkst? (Vers 4–5).

Das hatte ich mich auch schon manches Mal gefragt. Ich erinnere mich, wie wir als Kinder im Dorf meiner Kindheit in Kanada Schlittschuh liefen. Die Eislaufbahn war im Freien und nur mit notdürftigen Lichterketten versehen. Oft schalteten wir sie einfach aus und genossen es, im Kreis zu laufen, beleuchtet von Millionen von Sternen, der Milchstraße und wunderbaren Nordlichtern. Da stellte ich dann auch die Frage: »Ich blicke zum Himmel und sehe, was deine Hände geschaffen haben; den Mond und die Sterne – allen hast du ihre Bahnen vorgezeichnet. Was ist da schon der Mensch, dass du an ihn denkst?« Ich verstand das so: »Gott, kann es wirklich sein, dass du mich kleinen unwichtigen Menschen überhaupt bemerkst? Ich fühle mich so winzig unter all den viel herrlicheren Teilen der Schöpfung, der glanzvollen, prächtigen Sternenwelt.« Angesichts der erwähnten Skala sah ich mich bei Eineinviertel unter einem großen Himmel voller Sechser, Siebener und Achter.

Mir kamen immer sehr schnell die Bibelstellen in den Sinn, wo Menschen »wie nichts« beschrieben werden (zum Beispiel Psalm 144,4), mit Staub oder schnell verwelkenden Blumen verglichen werden (zum Beispiel Psalm 103,14–15). Die Zerbrechlichkeit, Abhängigkeit und Vergänglichkeit des Menschen verstand ich dann als Hinweis darauf, dass wir Menschen in dem großen Plan Gottes eben nur ein sehr unwesentlicher Teil seien.

Doch nun stellte unser Professor Psalm 8 auf den Kopf (oder vielleicht auf die Füße …). Er fragte: »Warum verstehen wir die Frage des Psalmdichters als den verzweifelten Versuch, mit einem Minderwertigkeitskomplex umzugehen? Vielleicht ist es ja auch eine ganze ernsthafte Frage. Was, wenn David tatsächlich fragt: ›Falls Gott eine Zehn ist, was sind wir dann?‹ Und was, wenn der folgende Satz dieses Psalms einfach die Antwort darauf ist: Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt (Vers 6; so die Einheitsübersetzung und alle anderen Übersetzungen, die den Text wörtlich übertragen)?«

Bedeutet das nicht, wir sollten uns vielleicht doch bei »acht« oder sogar bei »neun« einstufen? Und welchen Platz nehmen diese herrlichen Schöpfungswerke Gottes – Sonne, Mond und Sterne – ein? Auch auf diese Frage gibt der Psalmist eine direkte Antwort: »Du hast ihn [den Menschen] als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände« (Vers 7; Einheitsübersetzung). »Das Werk deiner Hände« – dazu gehören der Mond und all die Sterne, die Gott erschaffen hat (Vers 4). Herrlicher als alles, was Gott erschuf – die Sterne, die Milchstraße, die Nordlichter – das ist die Menschheit. Herrscher über alles, was auf dieser Erde lebt, »die Schafe, Ziegen und Rinder, die Wildtiere in Feld und Wald, die Vögel in der Luft und die Fische im Wasser, die kleinen und die großen, alles, was die Meere durchzieht« (Vers 8-9) – das ist die Menschheit. Die Anspielung auf 1. Mose 1,28 ist nicht zu übersehen. Wir könnten uns tatsächlich fast bei »zehn« einstufen. Aber um davor zu warnen, wiederholt der Psalmist am Ende noch einmal, was er zu Beginn gesagt hat: Herr, unser Herrscher, groß ist dein Ruhm auf der ganzen Erde! Nur Gott allein ist eine Zehn. Uns muss es reichen, eine Neun oder vielleicht eine Neuneinhalb zu sein. Die Redakteure der Einheitsübersetzung fanden wirklich die richtige Überschrift für diesen Psalm: »Die Herrlichkeit des Schöpfers – die Würde des Menschen«.

Und jetzt kommt vielleicht das Wichtigste, worauf wir achten sollten: Dieser Psalm wurde nach dem Sündenfall geschrieben. Die Stellung der Menschheit bleibt die gleiche wie in 1. Mose 1 und 2. Unser Auftrag ist es, zu »unterwerfen«, das heißt, genau dort Gerechtigkeit zu schaffen, wo Macht missbraucht wird. Unser Auftrag ist es, zu »herrschen«, um die zerbrechlichsten und am meisten gefährdeten Geschöpfe Gottes zu beschützen. Der Schöpfungsauftrag bleibt weiterhin erhalten.

Was geschah, als Adam und Eva nicht mehr damit zufrieden waren, nur eine Neun zu sein; als sie wie Gott werden wollten? Das nennen wir den Sündenfall. Darum und um seine Auswirkungen geht es im nächsten Kapitel.

Das sogenannte Alte Testament

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