Читать книгу Das sogenannte Alte Testament - Gertrud Geddert - Страница 5
ОглавлениеEinführung
Manche Bücher liest man am besten von vorne nach hinten, manche von hinten nach vorne, und manche so und so. Wir beide schmunzeln, während wir das schreiben, weil wir schon oft darüber diskutierten, ob ein Buch von hinten nach vorne gelesen werden kann. Gertrud beginnt fast immer mit der letzten Seite! Tim dagegen beginnt beim Lesen stets von vorne ...
Tim findet, man mogelt, wenn man mit der letzten Seite beginnt: Wenn ich einer Autorin oder einem Autor nicht ermögliche, mich in ihrem Buch mitzunehmen, wie sie dies möchten, tue ich ihnen doch Unrecht. Der ganze Effekt ist hin, wenn ich zu früh weiß, wie ein Buch endet. Außerdem geht die Spannung verloren, wenn ich den Schluss schon vorher kenne. Und ohne Spannung ist ein Buch nur halb so interessant!
Gertrud steht auf dem Standpunkt, dass sie einem Autor überhaupt nichts schuldig ist: Das Buch gehört mir und ich kann schließlich damit tun, was ich will. Also bestimme ich selbst mein Leseerlebnis und lese, wie ich eben will – vorwärts, rückwärts, diagonal: mein Buch, meine Regeln. Außerdem finde ich, dass zu viel Spannung dem Lesegenuss im Weg stehen kann. Bis jetzt haben wir uns gegenseitig noch nicht von unseren Ansichten überzeugt ...
Die Bibel ist jedoch kein gewöhnliches Buch. Wir sind beide der Meinung, dass manches in der Bibel erst dann sinnvoll verstanden werden kann, wenn wir den Schluss der Geschichte kennen. Vielleicht sollten wir die Bibel am besten von vorne nach hinten und von hinten nach vorne lesen, abwechselnd und immer wieder.
Die Bibel – Geschichte als Erzählung
Jetzt haben wir unsere Karten bereits offengelegt: Wir denken, dass die Bibel in erster Linie eine Geschichte, eine Erzählung ist. Falls sie vor allem ein Buch mit Lehraussagen wäre, dann würde es auch keine große Rolle spielen, wo wir mit dem Lesen beginnen. Dann könnten wir die passenden Stellen zu einem bestimmten Thema einfach nachschlagen. Wäre die Bibel vor allem ein Geschichtsbuch oder ein Nachschlagewerk über Geschehnisse der Welt- oder Heilsgeschichte, könnten wir ausschließlich die Stellen suchen, die das erläutern, was uns gerade interessiert. Falls die Bibel ein Gesetzbuch wäre, müssten wir jeweils nur die gerade relevanten Gebote und Verbote heraussuchen. Die Bibel ist jedoch in erster Linie eine Erzählung, eine spannende Geschichte über Gott und die Welt, über die Menschheit und ihre Abenteuer, über die Zeit und das, was in Zukunft geschehen wird.
Natürlich enthält die Bibel viele historische Bezüge zur Weltgeschichte, vor allem zur Geschichte eines Volkes im Nahen Osten und die Beziehungen dieses Volkes zu seinem Gott und zu seinen Nachbarvölkern. Wo solche Bezüge hergestellt werden, da fungiert die Bibel tatsächlich als zuverlässige Quelle für historische Informationen. Wir finden hier keine Märchen. Aber geschichtliche Bezüge werden in eine Erzählung eingebettet. Einige der alttestamentlichen Bücher nennen wir »Geschichtsbücher« (zum Beispiel Josua, Richter, Rut, die Bücher Samuel, Könige, Chronik usw.). Die Bezeichnung »Geschichtsbücher« ist jedoch unsere Erfindung. Zur Zeit der Bibel hießen manche dieser Bücher »Prophetie« und andere »[literarische] Schriften«. Und diese Bücher, genauso wie alle anderen, sind Teil einer umfangreichen Erzählung.
Natürlich enthält die Bibel tiefe theologische Gedanken. Doch auch diese Theologie ist Teil einer Erzählung. Natürlich enthält die Bibel Gebote und Verbote, und zwar sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. In einer Erzählung mit Höhe- und Tiefpunkten, mit Charakteren, Rückblicken und Vorahnungen spielen diese jedoch immer eine untergeordnete Rolle. Die Bibel erzählt, berichtet und prophezeit die Geschichte Gottes mit den Menschen, mehr noch: mit dem ganzen Universum.
Wenn wir die Bibel nicht von vorne nach hinten lesen, dann verstehen wir nicht, wo wir uns in dieser Geschichte befinden. Wenn wir die Bibel jedoch nicht auch von hinten nach vorne lesen, ist die Spannung zu groß: Wie wird die Geschichte ausgehen? Wird Gott tatsächlich seine guten Pläne verwirklichen oder können sie von anderen durchkreuzt werden?
Die Bibel beschreibt in einer spannenden Erzählung den Weg, den Gott mit uns geht, und führt uns das Ziel vor Augen, wohin dieser Weg führt. Wir lesen diese Geschichte nicht nur; wir sind auch Teil dieser Geschichte. Wir selbst sind Charaktere, die die Handlung mit beeinflussen. Gott, der Dirigent, lässt uns viel Freiraum, die Weltgeschichte mitzubestimmen. Und dann greift er tatsächlich manchmal ein, um Kurskorrekturen vorzunehmen. Und Gott ist stets dabei, uns den Weg zu zeigen, uns zu ermutigen und uns neue Visionen zu schenken, damit wir den richtigen Weg erkennen und wählen können.
Unser Ziel
Mit diesem Buch möchten wir unter anderem zeigen, warum wir von Folgendem überzeugt sind: Die Bibel ist vom Anfang bis zum Ende (und umgekehrt) lesenswert, faszinierend und unentbehrlich wichtig. Denn ohne die Bibel wüssten wir fast nichts über den wahren Gott, wenig Zuverlässiges über den Sinn des Lebens und nur allzu wenig darüber, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen sollen – sowohl mit denen, die gemeinsam mit uns den Weg mit Jesus gehen, als auch mit den Menschen, die andere Wege gehen.
Dies alles gilt genauso für das Alte wie für das Neue Testament. Manchmal wird behauptet, dass wir jetzt in der Zeit des Neuen Testaments lebten und nur dieser Teil der Bibel uns gelten würde. Außerdem sei das Alte Testament nur für Juden und nicht für Nichtjuden bestimmt. Das Alte Testament würde hauptsächlich Gesetze enthalten und wir würden in der Zeit der Gnade leben. Das Alte Testament würde nur auf Jesus vorbereiten, aber wir würden ihm jetzt nachfolgen. Warum also sollten wir Christen das Alte Testament überhaupt noch beachten?
Schon der Name »Altes« Testament scheint anzudeuten, es sei weniger wichtig – veraltet, nicht mehr relevant, nicht »unser« Testament. Ich, Tim, bin von Beruf Neutestamentler. Aber je mehr ich versuche, das Neue Testament zu verstehen, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass das Alte Testament ganz und gar zu einer Geschichte gehört, die unsere Geschichte ist. Die Bibel muss vorwärts und rückwärts gelesen werden: Ohne das Alte Testament werden wir das Neue Testament oft nur schwer und häufig sogar falsch verstehen. Wenn wir das Alte Testament jedoch mit den Augen des Neuen Testaments lesen, erscheint es uns gar nicht mehr so irrelevant. Aus der Perspektive des Neuen Testaments erkennen wir die wichtige Rolle des Alten Testaments in der ganzen Erzählung.
Mit diesem Buch geht es uns um die folgenden Ziele:
• Die Leserinnen und Leser sollen entdecken, dass die Bibel eine ergreifende Geschichte erzählt, die lebensbeschreibend und lebensverändernd sein will.
• Die Leserinnen und Leser sollen entdecken, dass das Alte Testament einen großen Teil unserer (christlichen) Geschichte erzählt; dass es das Neue Testament erläutert und zugleich selbst vom Neuen Testament erläutert wird.
• Die Leserinnen und Leser sollen den Wert des Alten Testaments neu entdecken.
In jedem Kapitel nehmen wir einen wichtigen Aspekt der biblischen Geschichte unter die Lupe und versuchen aufzuzeigen, wie dieser Teil sich ins Ganze einfügt. Dabei sprechen wir auch heikle oder verwirrende Themen an und versuchen, eine Brücke zwischen dem jeweiligen Abschnitt der Bibel und der ganzen Geschichte zu schlagen. Das übergreifende Thema ist dabei die Treue Gottes. Wenn Gott nicht treu seinem Plan, seiner Schöpfung, seinem Volk und jedem einzelnen Menschen zur Seite stünde, dann gäbe es keine Geschichte mehr zu erzählen – es wäre längst aus mit uns. Doch der treue Gott wird uns nie im Stich lassen, bis er seine Ziele für uns erreicht hat und wir in seiner Gegenwart die ganze Geschichte vom Ende her verstehen und feiern werden.
Timothy J. und Gertrud A. Geddert
Weiterführende Fragen
1. Die Bibel ist in erster Linie eine Erzählung, mehr als ein Geschichtsbuch, mehr als ein Theologiebuch, mehr als ein Gesetzbuch – wie denken Sie über diese Meinung der Autoren?
2. Was ist Ihre erste Reaktion auf den Gedanken, dass das Alte Testament unsere Geschichte – nicht allein die Geschichte eines anderen Volkes – erzählt?