Читать книгу Glanz und Untergang der Familie Napoleons - Gertrude Aretz - Страница 4
I.
ОглавлениеLetizia Bonaparte war bestimmt, einem Geschlechte von Fürsten das Leben zu geben. In allen Lebenslagen, selbst auf der höchsten Stufe des Glanzes, blieb sie immer dieselbe. Sie ist von den Geschichtsschreibern der napoleonischen Ära meist stiefmütterlich behandelt worden. Aber gerade sie, die Charakterstarke, deren Leben fast ein Jahrhundert währte, verdient, eingehender gewürdigt zu werden.
Über ihr Geburtsjahr ist viel gestritten worden. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl der 24. August 1749. Ihre Wiege stand gleich der ihres Mannes Carlo Bonaparte in Ajaccio. Letizia entstammt dem Patriziergeschlecht der Ramolino, die ebenfalls, wie die Bonaparte, aus Norditalien in Korsika eingewandert waren. Später hatten sie sich mit einer der reichsten italienischen Adelsfamilien, dem gräflichen Geschlechte der Collalto, durch Heirat verbunden.
Im frühen Kindesalter wurde Letizia vaterlos. Ihre Mutter, eine geborene de Pietra Santa, verheiratete sich jedoch 1757 in zweiter Ehe mit dem aus Basel gebürtigen Hauptmann eines Schweizerregiments, das in genuesischen Diensten stand. Er hieß François Fesch. Aus dieser Verbindung ging der spätere Kardinal Joseph Fesch hervor, dem Letizia, als die Eltern früh starben, eine zweite Mutter wurde.
Sie galt für das schönste Mädchen in Ajaccio. In ihrem dreizehnten Jahre hatte sie sich bereits zur vollendeten Schönheit entwickelt, wie man das häufig bei korsischen Frauen antrifft. Sie war mittelgroß und wohlgestaltet in den Formen, deren jugendliche Anmut mit der ganzen Erscheinung prächtig harmonierte. Hände und Füße waren zierlich und feingegliedert: ein Merkmal, das auch ihrem Sohn Napoleon eigen war. Der Mund, vielleicht etwas herb im Ausdruck, aber formvollendet im Schwunge der Lippen, barg zwei Reihen perlenähnlicher Zähne; wenn er sich zum Lächeln verzog, war er bezaubernd. Das etwas vorgeschobene Kinn deutete auf Energie – ganz wie beim Sohne. Prachtvolle kastanienbraune Zöpfe schmückten den klassisch geformten Kopf, dem die dunklen Augen mit den langen Wimpern, und die schmale, gebogene Nase den edelsten Ausdruck verliehen. Alle ihre Züge und Glieder verband die wundervollste Harmonie. Napoleon selbst sagte später auf Sankt Helena: »Meine Mutter hatte ebensoviel Tugenden als weibliche Reize: sie war das Glück ihres Mannes, und ihre Kinder liebten sie zärtlich.«
Vom physiologischen Standpunkt aus aber war die Heirat Letizias mit Carlo Bonaparte verfrüht. Sie fand am 2. Juni 1764 in Ajaccio statt: der Bräutigam war achtzehn, die Braut vierzehn Jahre alt. Die ersten drei Kinder, die die junge Frau dem Gatten gebar, hatten teils überhaupt keine Lebensfähigkeit, teils starben sie im zarten Kindesalter. Von den dreizehn Kindern aus Letizias einundzwanzigjähriger Ehe blieben nur die acht am Leben, die sie zwischen der Blüte der Jugend und der höchsten Entwicklung als Frau zur Welt brachte.
Sie war ihren Kindern eine vortreffliche Mutter mit einem großen, erhabenen Herzen voll Güte und Stolz. Sie ließ keinen ihrer Fehler durchgehen, sondern strafte, wenn es sein mußte, oft recht hart. Carlo, den Geschäfte und Vergnügungen häufig fern von seiner Familie hielten, suchte bisweilen die Unarten der Kinder zu entschuldigen, aber Letizia ließ sich in dieser Beziehung nicht dreinreden. »Laß das meine Sorge sein«, sagte sie dann zu ihrem Gatten in halb vorwurfsvollem, halb gebieterischem Tone, » ich habe über sie zu wachen!« Und sie wachte im wirklichen Sinne des Wortes mit unvergleichlicher Sorgfalt über die ersten Eindrücke ihrer Kinder. »Alle niedrigen Gefühle in uns wurden beseitigt«, sagte Napoleon, »denn sie verabscheute sie. Nur das Große, Erhabene ließ sie an ihre Kinder herantreten. Sie hatte die größte Abneigung gegen die Lüge, wie gegen alles, was auch nur den Schein einer niedrigen Gesinnung an sich trug. Sie wußte zu strafen und zu belohnen. Sie beobachtete alles bei ihren Kindern.« Letizia Bonaparte war eine wirkliche Mutter, eine echte Korsin. Der Name »Madame Mère«, den sie unter dem Kaiserreich offiziell erhielt, hätte für sie nicht besser gewählt werden können: er entspricht durchaus dem bescheidenen Wesen, das die Kaisermutter stets bewahrte. Die Erziehung freilich, die Letizia ihren Kindern zur Ausbildung ihrer geistigen Fähigkeiten geben konnte, war äußerst mangelhaft. Dafür gab sie ihnen etwas mit auf den Lebensweg, das keins von ihnen unbenutzt gelassen hat: die Erkenntnis der Notwendigkeit, stets zueinander zu halten, um hoch zu kommen! »Du starke und gute Frau, du Vorbild aller Mütter!« ruft Joseph Bonaparte später aus; »wieviel Dank schulden dir deine Kinder für das Beispiel, das du ihnen gegeben!«
Im Hause ihres Onkels Arrighi di Casanova in Corte, wo Carlo, um Paoli näher zu sein, sein Heim aufgeschlagen hatte, gebar Letizia am 7. Januar 1768 ihr erstes lebensfähiges Kind, Joseph. Nicht lange nach ihrer Niederkunft folgte sie ihrem Manne ins Feld, entschlossen zum Kampfe für die Freiheit des Vaterlandes. Jeder, der in Korsika imstande war, Waffen zu tragen, schloß sich den Patrioten an. Männer, Frauen, Kinder, Greise, alle wollten ihr Scherflein Mut zu der guten Sache beisteuern. Der Heldenmut der korsischen Frau konnte zu jener Zeit dem des Mannes gleichgestellt werden. Tapfer ritt oder marschierte Letizia an der Seite Carlos auf den manchmal kaum gangbaren Wegen einher. Ihre Schönheit, ihr sanfter Blick, die feinen Linien ihres edlen Gesichts schienen schlecht zu jener abenteuerlichen Kühnheit zu passen, die sie mit fortriß. Aber die stolze Biegung der Adlernase, die fest zusammengepreßten Lippen, um die ein verachtender Zug schwebte, die wie Feuer aus den dunklen Augen hervorschießenden Blicke deuteten auf eiserne Willenskraft. Unter dieser weißen Frauenstirn türmten sich männliche Gedanken!
Eines Tages war man genötigt, durch den Liamone, einen angeschwollenen Gebirgsstrom, zu reiten. Infolge einer falschen Bewegung verlor Letizias Pferd den Boden unter den Füßen und wurde von der Strömung ein Stück mit fortgerissen. Man rief der in Gefahr schwebenden Frau zu, das Tier preiszugeben, und wollte ihr schwimmend zu Hilfe eilen, sie aber hielt sich mit dem kleinen Joseph im Arme tapfer im Sattel. Es gelang ihr, das Pferd wieder zu beherrschen und glücklich das Ufer zu erreichen. Und dabei stand ihr binnen kurzem eine neue Niederkunft bevor!
Nach der Schlacht bei Pontenuovo, an der Letizia keinen Anteil nehmen konnte, weil ihre Schwangerschaft zu weit vorgeschritten war, flüchtete sie sich nach Ajaccio, um dort ihre Niederkunft zu erwarten. Es war die höchste Zeit für die junge Frau. Die Anstrengungen des beschwerlichen Feldzugs waren auch an ihr trotz ihrer kräftigen Körperbeschaffenheit nicht spurlos vorübergegangen; die Rückwirkung machte sich bemerkbar. Dennoch wollte sie es sich nicht nehmen lassen, am 15. August 1769, zu Mariä Himmelfahrt, zur Messe in die in der Nähe ihres Hauses gelegene Kathedrale zu gehen. Für das Kind unter ihrem Herzen wollte sie den Segen der Jungfrau erflehen.
Es war ein herrlicher Sommertag. Die Sonne goß ihre goldenen Strahlen über die mit Blumen und Girlanden festlich geschmückten Häuser. Sonntäglich geputzte Menschen strömten in die weitgeöffnete Kirche und erfüllten Straßen und Plätze mit ihrer Fröhlichkeit, unter die sich feierlich der Klang der Glocken mischte. Die Messe begann. Andächtig hing die Menge an den Lippen des Priesters, der das »Gloria in excelsis Deo« anstimmte. Nur Letizia Bonaparte war unruhig und nervös. Sie fühlte die ersten Anzeichen ihrer Niederkunft. Hastig verließ sie die Kirche und eilte, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, in namenloser Angst nach Hause. Sie hatte jedoch nicht mehr Zeit, bis zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen, sondern gab in einem nähergelegenen Räume auf einem Sofa ihrem Sohne Napoleon das Leben. Über die Legende des Teppichs mit den Bildern aus der Ilias hat sie sich später selbst oft lustig gemacht und gesagt: »Wir hatten in Korsika im Winter keine Teppiche, noch viel weniger aber im Sommer.«
Dieses Kind, ihr Napoleon, wurde der Mutter äußerlich wie im Charakter am meisten ähnlich. Sein schnelles Auffassungsvermögen und Eindringen in die geringfügigsten Dinge, seine Energie und seltene Tatkraft, seinen Ordnungssinn in Geldangelegenheiten erbte er von ihr, nur ihre Wahrheitsliebe hat er nicht immer bewahrt.
Letizias Geistesbildung war, wie die aller Korsinnen zu jener Zeit, eine sehr geringe. Sie wußte fast nichts außer ihren Hausfrauen- und Mutterpflichten, außer den Gebeten zur Jungfrau Maria, deren Schutz sie ihre Kinder empfahl und deren Namen alle ihre Töchter trugen. Weder von der italienischen noch von der französischen Literatur hatte sie eine Ahnung. Sie sprach ihr ganzes Leben lang, selbst am Kaiserhofe des Sohnes, ihren korsischen Dialekt. Die französische Sprache machte ihr große Schwierigkeiten. Ihr italienischer Akzent brach immer wieder durch. So sagte sie stets »houreuse« anstatt »heureuse«, »ma« für »mais«, »oune« für »une«, »je souis« anstatt »je suis« usw. Ganz besonders ärgerte sich Napoleon darüber, daß sie seinen Namen korsisch aussprach. Als Konsul empfahl er einmal Lucien und Joseph: »Ihr könnt übrigens Mama sagen, daß sie mich nicht immer Napolione nennen soll. Das ist italienisch. Mama soll mich, wie jedermann, Bonaparte nennen, aber nicht etwa Buonaparte. Das wäre noch schlimmer als Napolione. Nein, sie mag der Erste Konsul oder einfach der Konsul sagen! Ja, das ist mir lieber. Aber Napolione, immer dieses Napolione, das stört mich.« Als Letizia später als Kaisermutter gezwungen war, französische Briefe zu schreiben, diktierte sie sie stets in ihrer Muttersprache.
Die größte Tugend dieser Frau war ihr Sinn für Pflicht, Ordnung und Sparsamkeit, die man ihr allerdings oft als Geiz ausgelegt hat. Letizia war ihr ganzes Leben lang anspruchslos. Als ihr Sohn sich bereits Namen und Vermögen erworben hatte und im politischen Leben eine bedeutende Rolle spielte, war sie in ihrer Kleidung sparsamer als die einfachste Bürgerin. Einst kam sie für mehrere Wochen zu ihrer schönen, an den General Leclerc verheirateten Tochter Pauline zu Besuch und brachte nur ein einziges Kleid mit. Die elegante Paulette spottete über die Sparsamkeit der Mutter, aber Letizia entgegnete ernst: »Schweig, Verschwenderin! Ich muß doch für deine Brüder sorgen; nicht alle sind schon selbständig. Ich will nicht, daß Bonaparte sich beklagt. Du mißbrauchst seine Güte.«
Später, als der Kaiser ihr bedeutende Summen zur Verfügung stellte, artete diese Sparsamkeit in eine dem Geiz sehr ähnelnde Eigenschaft aus. Man sagt Frau Letizia nach, sie hätte selbst das Geld, das sie von ihrem Sohne zur Verteilung unter die Armen erhielt, für sich behalten. Dies entspricht indes nicht der Wahrheit, denn Madame Mère gab viele Almosen im geheimen. Wenn die Kinder ihr bisweilen Vorstellungen machten, daß sie für eine Kaisermutter zu sparsam wäre, so antwortete sie kalt: »Bin ich nicht gezwungen, etwas auf die Seite zu legen? Werde ich nicht früher oder später einmal sieben bis acht Souveräne auf dem Halse haben?« Sie war nämlich die einzige in der Familie, die nicht so recht an die Dauer all des Reichtums und Glanzes glauben wollte. »Pourvu que cela doure (dure)« pflegte sie zu sagen. Ihre Sparsamkeit ging schließlich so weit, daß sie wie eine Spießbürgerin in den geringsten Dingen ihrer kaiserlichen Haushaltung zu sparen suchte. So soll sie Luciens Frau, der guten Christine Boyer, stets empfohlen haben, zeitig zu Bett zu gehen, um das Licht zu sparen.
Eine Entschuldigung aber für diese in den Tagen des Glücks und des Glanzes unangebrachte Sparsamkeit müssen wir Letizia werden lassen: sie wußte, was es hieß, aller Mittel entblößt zu sein! Sagte sie doch einmal zum Grafen Girardin: »J'ai oun millione, l'année. Je ne le mange pas à beaucoup près. Je n'ai pas des dettes, ... je me trouve toujours avoir cent mille francs au service d'un de mes enfants. Qui sait, peut-être un jour seront-ils bien contents de les avoir. Je n'oublie pas que pendant longtemps je les ai nourris avec des rations.« – Sie war Skeptikerin und hatte nicht so unrecht, denn später, als alles in Trümmer fiel, kam ihren Kindern das von ihr aufgestapelte Vermögen zustatten. Großmütig bot sie dem unglücklichen Sohne auf der einsamen Insel alle ihre Schätze an.
Als die sechsunddreißigjährige Frau mit ihren acht Kindern, von denen nur Joseph ihr eine schwache Stütze sein konnte, Witwe wurde, hatte sie schwer zu kämpfen. Carlo Bonaparte hatte für die Zukunft der Seinen schlecht gesorgt. Glücklicherweise fand Letizia in dem alten Gouverneur Marbeuf einen väterlichen Freund, der ihr über die bitterste Not hinweghalf. Er war der Pate ihrer Kinder, der Freund des Vaters gewesen und fühlte sich in dieser Eigenschaft verpflichtet, für die Verwaisten zu sorgen. Ungerechterweise hat man die Mutter Napoleons beschuldigt, diesem Manne mehr als eine Freundin gewesen zu sein. Ihr gerader, echt korsischer Charakter, dem Tändelei und Liebelei fern lagen, bürgt allein schon für die Ungereimtheit solcher Gerüchte. Sie besaß nicht den Leichtsinn, der sich später bei ihren Töchtern bemerkbar machte. Letizias Schönheit, die trotz der vielen Geburten nicht gelitten hatte, erweckte mehr stumme Bewunderung als Begehren. Sie war viel zu sehr Hausfrau und Mutter, als daß sie sich zur Geliebten geeignet hätte. Ihre fortwährenden Schwangerschaften, die Sorge um das Wohl ihrer zahlreichen Familie und die Pflege des alten gichtkranken Onkels Luciano ließen sie gar keine Zeit zu außerehelichen Zerstreuungen finden. Außerdem soll Marbeuf in sehr engen Beziehungen zu einer Signora Varese aus Bastia gestanden haben, die sicher keine Nebenbuhlerin geduldet hätte.
Nach dem Tode ihres Mannes nahm Letizia ihre Lage sehr ernst. Sie betrachtete sich als Oberhaupt der Familie, an dem kein Makel haften durfte. Jetzt lasteten die Pflichten und Sorgen noch schwerer auf ihr. Wie hätte sie da wohl an etwas anderes denken können als an ihre Familie? Wohl stand ihr der Archidiakon Luciano mit seinen guten Ratschlägen zur Seite, aber Geld und Einkünfte waren knapp. Der Onkel hätte helfen können, denn er war wohlhabend; er besaß große Schafherden, versteckte aber die blanken Goldstücke in seinem Bett. Nur mit List gelang es bisweilen den Kindern Bonaparte, ihn zur Hergabe von einigen Talern zu bewegen. Nichtsdestoweniger wurde er von allen geliebt und geachtet und übte nicht nur auf die Familie, sondern auf ganz Ajaccio einen heilsamen Einfluß aus. Letizia aber wurde in dieser Zeit noch sparsamer. Sie lebte mit ihren Kindern so zurückgezogen wie nur möglich. Der siebzehnjährige Joseph war, nachdem er den Vater in »fremder Erde« – wie sich Napoleon ausdrückte – bestattet hatte,1 zur Mutter nach Korsika zurückgekehrt. Napoleon hingegen befand sich auf der Militärschule von Paris. Da hieß es sparen, und Letizia verstand zu sparen. Ein Mädchen für alles, das drei Franken Lohn im Monat erhielt, ging der künftigen Kaisermutter zur Hand, und Letizia scheute sich nicht, selbst die niedrigsten Hausarbeiten zu verrichten.
Die politischen Ereignisse machten Riesenfortschritte. Die französische Revolution war auch in Korsika nicht spurlos vorübergegangen; sie entfachte von neuem den Krieg, der durch Paolis Niederlage im Jahre 1769 beendet worden war. Je mehr Paoli sich indes den Engländern näherte, desto weiter entfernte sich die Familie Bonaparte von ihm. Letizia, ihr Bruder Fesch, ihre Söhne Joseph, Napoleon und Lucien hatten sich eifrig der französischen Revolution in die Arme geworfen. Letizia war, wenn auch anfangs schweren Herzens, Französin geworden und blieb es nun. Wie sie damals dachte, spricht sich klar in den Worten aus, die sie zu Napoleon sagte, als dieser klagte, nicht in Korsika sein zu können, um das teure Vaterland vor einer neuen Invasion der Engländer zu schützen. »Napolione«, sagte die Mutter, »Korsika ist nur ein unfruchtbarer Felsen, ein kleines unbedeutendes Fleckchen Erde! Frankreich hingegen ist groß, reich, bevölkert; es steht in Flammen! Frankreich zu retten, mein Sohn, ist eine edle Aufgabe, die verdient, daß man sein Leben dafür in die Waagschale wirft.«
Immer bedenklicher wurde die Lage der Bonaparte auf Korsika. Der Aufstand brach auf der Insel aus. Von neuem versammelten sich die Korsen unter dem Banner Paolis. Napoleon versuchte an der Spitze der republikanischen Truppen gegen die einst glühend verehrten Helden anzukämpfen, aber vergebens. Eine Zeitlang behielten die Patrioten die Oberhand. Luciens Adresse an den Konvent brachte die Paolisten bis zur äußersten Wut gegen die Bonaparte. Napoleon sah sich und die Seinigen in Gefahr. Um Paoli zu entrinnen, der geschworen hatte, die Familie lebendig oder tot in seine Hände zu bekommen, war Letizia gezwungen, mit ihren Kindern zu fliehen.
»Eines Nachts«, erzählt Lucien, »wurde meine Mutter durch Stimmengewirr aus dem Schlafe geweckt. Als sie sich in ihrem Bett aufrichtete, sah sie das ganze Zimmer mit bewaffnetem Bergvolk angefüllt. Sie glaubte sich von den Leuten Paolis überrascht. Da fiel der Schein einer brennenden Fackel auf das Gesicht des Anführers. Es war Costa aus Bastelica, der eifrigste und ergebenste unserer Anhänger. Schnell, Signora Letizia, rief er, die Unsrigen, die nicht mehr die Unsrigen sind (die Leute Paolis), folgen uns auf dem Fuße! Wir haben keinen Augenblick zu verlieren! Ich bin hier mit allen meinen Leuten; man soll sich nicht rühmen, Sie zu Gefangenen gemacht zu haben. Das übrige erkläre ich Ihnen unterwegs. Wir werden Sie retten oder mit Ihnen sterben! Schnell! Schnell!«
Mutter und Kinder erhoben sich hastig, rafften in Eile ein paar Kleidungsstücke zusammen, in die sie sich hüllten; andere Gegenstände mitzunehmen war keine Zeit. Die Schlüssel des Hauses übergab man der Familie Braccini, die während der Nacht alle bloßstellenden Papiere beiseite schaffte. Darauf verließ die Familie Bonaparte, außer den beiden jüngsten Kindern Carlotta und Girolamo, die man bei einer Verwandten zurückließ, in der Mitte der bewaffneten Kolonne schweigend die noch schlafende Stadt. Zuerst ging es nach Milelli, der Bonaparteschen Besitzung unweit Ajaccios; sie bot indes als Zufluchtsort zu wenig Sicherheit. Man warf sich in die Berge. Oft hörten die Flüchtlinge die feindlichen Truppen unten im Tal vorüberziehen, aber die Vorsehung verhütete ein Zusammentreffen, das gefährlich hätte werden können.
Letizias großer, starker Charakter überwand alle Anstrengungen, alle Sorge und flößte den verzagten Kindern Mut ein. Mariannas (Elisas) dünne Schuhe hielten den beschwerlichen Wegen in den rauhen Bergen nicht stand; ihre Füße waren bereits wund, und sie weinte vor Schmerz. Die Mutter wußte sie immer wieder zu trösten und zu ermuntern, bis zuletzt tapfer auszuhalten. Von weitem sah Letizia ihr Haus, das die Leute Paolis geplündert und teilweise zerstört hatten, in Trümmer fallen; sie zuckte nicht mit der Wimper, obwohl ihr das Herz bluten mußte, denn sie stand nun mittellos da. Nur ein herber Zug legte sich um die festgeschlossenen schmalen Lippen. Ihre Augen öffneten sich groß und weit, ein Zeichen, daß sie innerlich bewegt war.
Nachdem sie zwei Nächte hindurch marschiert waren, bemerkten sie endlich durch eine Lichtung des Maquis die Segel des französischen Geschwaders, das die flüchtende Familie vorläufig nach Calvi bringen sollte. Napoleon, der an der Küste herumgeirrt war und nach seiner Familie ausgespäht hatte, empfing sie.
Nach großen Gefahren traf Letizia mit den Ihrigen im Juli 1793 in Toulon ein. Der Aufenthalt in dieser Stadt aber war für die korsischen Flüchtlinge nicht sicher genug. Außerdem war das Leben in Toulon für den kargen Geldbeutel Frau Letizias viel zu teuer. Sie zog daher mit ihren Kindern in das Dorf La Valette, ein wenig später nach Bandol und schließlich nach Nizza, wo Napoleons Regiment stand. Später suchte sie in Marseille eine Zuflucht.
Letizia glaubte in Frankreich als emigrierte Patriotin aufgenommen zu werden und die ihr so außerordentlich nötige Unterstützung zu finden. Sie täuschte sich. Kein Mensch kümmerte sich um die zahlreiche, arme korsische Familie. Aller Mittel bar, nachdem man ihre Habe in Korsika teils geraubt, teils zerstört oder beschlagnahmt hatte, sah sich Frau Bonaparte mit ihren Kindern im größten Elend. Jetzt kam ihr die so oft verspottete Sparsamkeit sehr zu statten.
Anfangs bewohnte die Familie in Marseille eine kleine Dachwohnung in der Rue Pavillon, nachher bezog sie ein Kellergeschoß in einem von der Schreckensherrschaft teilweise verwüsteten Hause, in dem verschiedene korsische Emigranten Unterkunft gefunden hatten. Die Mutter Napoleons ertrug alles, überwand alles mit einer Klugheit, einer Würde, die in Erstaunen setzten. Der Kaiser sagte später von ihr: »Sie hatte den Kopf eines Mannes auf dem Körper einer Frau!«
In Marseille lebte Letizia mit ihren Kindern mehr als bescheiden. Schließlich überwand auch sie ihren korsischen Stolz und nahm ihre Zuflucht zum Wohltätigkeitsbureau, um für die Ihrigen um Brot zu bitten, denn der magere Offizierssold, mit dem Napoleon fast alle Bedürfnisse der Familie bestreiten mußte, langte nicht weit. Jetzt erhielt Frau Bonaparte wenigstens täglich ein Kommißbrot, und Joseph und Lucien beschafften Soldatenrationen von Fleisch und Gemüse. Mit einem Wort: die Bonaparte hatten gerade so viel, um nicht Hungers zu sterben. Die einfache Frau litt nicht sehr unter diesen kläglichen Umständen, mehr litten ihre hübschen, lebenslustigen Töchter. Marianna (Elisa) war achtzehn, Maria Annunziata (Pauline) fünfzehn und Maria Carlotta (Karoline) dreizehn Jahre alt. Letizia hielt sie alle drei fleißig zur Arbeit an. Die späteren Königinnen und Fürstinnen mußten tüchtig putzen und waschen. In dürftigen Kleidern und billigen Hüten zu vier Sous besorgten sie die mageren Einkäufe für den Haushalt. Zu Hause sah man Mutter und Töchter nähen und sticken; sie waren damals ihre eigenen Schneiderinnen und Putzmacherinnen.
Dank Letizias außerordentlicher Sparsamkeit und dank ihrer unablässigen Bemühungen um Unterstützung verbesserte sich ihre Lage ein wenig. Man konnte sich bald eine anständigere Wohnung nehmen und zog nach der Rue du Faubourg de Rome. Um Napoleon zu schmeicheln, der anfing, einen gewissen Einfluß auf seine Umgebung auszuüben, hatten die Kommissare des Wohlfahrtsausschusses der Familie Bonaparte eine Unterstützung zukommen lassen, die Letizia gestattete, für sich und ihre Töchter Kleider und etwas Wäsche zu kaufen, deren sie sehr nötig bedurften.
Beziehungen zu andern Familien hatten die Bonaparte anfangs in Marseille gar keine. Sie waren viel zu arm, als daß sie gesellschaftlichen Verkehr hätten pflegen können. Später, als ihre Lage etwas besser wurde, schlossen sie sich der reichen Kaufmannsfamilie Clary an, deren älteste Tochter im Jahre 1794 Josephs Frau wurde. Einige Korsen, darunter der General Cervoni, der Zahlungsanweiser Villemanzy, später ein glühender Bewunderer des napoleonischen Genies und damals ein Verehrer Frau Letizias, sowie die beiden Volksvertreter Fréron und Barras, das war der von der Familie Bonaparte besuchte Gesellschaftskreis. Infolge des Einflusses der beiden Letztgenannten und der Bemühungen Josephs erhielt Letizia die längst ersehnte Pension, die die Regierung allen geflüchteten korsischen Patrioten bewilligte. Sie belief sich auf je 75 Franken monatlich für die Mutter und die beiden ältesten Töchter sowie auf je 45 Franken für die beiden jüngsten Kinder.
Als Napoleon Ende 1793 zum Bataillonschef der Belagerungsartillerie vor Toulon ernannt worden war, übersiedelte Letizia, um dem Sohne näher zu sein, nach der Umgebung der belagerten Stadt. Hier konnte er sie besser und leichter unterstützen. Bald strahlte sein Ruhm auf die ganze Familie aus: mit der Eroberung von Toulon hatte auch vorläufig die größte Not der Bonaparte ein Ende.
Nachdem Napoleon Brigadegeneral und gleichzeitig mit dem Kommando der Artillerie der Italienischen Armee und mit der Besichtigung der Küstenbatterien betraut worden war, riefen ihn seine Pflichten nach Antibes. Dorthin ließ er auch im Frühjahr seine Mutter und seine Schwestern kommen. Er brachte sie im Schlosse Sallé unter. Hier lebte Letizia trotz allem immer noch sehr einfach, obwohl ihre Lage im Vergleich zu den ersten Wochen in Marseille glänzend war. Sie hat den Aufenthalt in dem alten, malerisch gelegenen, von Licht und Sonne umflossenen Schlosse niemals vergessen. Noch als Kaisermutter erzählte sie, daß sie dort die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht habe. Und doch erinnerten sich die Einwohner von Antibes noch lange, daß Frau Bonaparte ihre Wäsche in dem vorbeifließenden Flusse selbst gespült hatte.
Das hinderte Madame indes nicht, auch »ihre Salons« zu öffnen. Die lebenslustigen Töchter bestanden darauf. Der Sohn brachte seine Kameraden, junge liebenswürdige Offiziere, ins Haus der Mutter, bei deren Gesellschaften er stets zugegen war. Man spielte ein wenig Theater, deklamierte, sang und tanzte, und Fröhlichkeit herrschte von morgens bis abends im Schlosse Sallé; dafür sorgten schon die jungen Mädchen.
Im darauffolgenden Sommer ging Letizia mit Napoleon nach Nizza. Erst nach fünfmonatiger Abwesenheit kehrte die Familie nach Marseille zurück. Inzwischen hatte sich Joseph verheiratet. Die Mutter hoffte, ihr Sohn Napoleon werde die junge Schwägerin Josephs, Désirée Clary, heimführen, aber böse Zungen behaupteten, die Clary hätten mit einem Bonaparte in der Familie genug gehabt. Auch Lucien schloß einen Bund. Seine Heirat mit Christine Boyer, der Tochter eines Gastwirts, war nicht nach dem Geschmack der Familie. Doch die einfache Letizia söhnte sich bald mit der Schwiegertochter aus, weil sie bescheiden und anspruchslos war, ihren Mann über alles liebte und ihm Kinder schenkte. Das gefiel der Korsin.
Mehr Enttäuschung erlebte Frau Bonaparte hingegen durch die Heirat ihres Napoleon mit der ehemaligen Vicomtesse de Beauharnais. Letizia war über diesen Schritt ihres Sohnes so ärgerlich, daß sie ihren Aufenthalt in Marseille verlängerte, obwohl Napoleon immer drängte, sie solle nach Paris kommen. Ein weiterer Grund zur Sorge für sie war, daß dieser Ehebund nicht durch die priesterliche Weihe geheiligt worden war. Letizias frommer Glaube litt darunter. Abergläubisch wie alle Bonaparte sah sie darin ein böses Omen für die Zukunft ihres Napoleon. Kurz, die Schwiegertochter, diese vornehme Weltdame, diese »Vicomtesse«, die in der leichtsinnigsten Gesellschaft von Paris gelebt hatte, von der man sich allerlei pikante Geschichten erzählte, und die ihr viel zu alt für den Sohn war, sagte dem einfachen korsischen Charakter nicht zu. Letizia glaubte nicht, daß Josephine ihren Mann glücklich machen könne. Am meisten aber fühlte sie sich in ihrem Mutterstolz verletzt. Napoleon hatte, ganz gegen korsische Sitte, sie, die Mutter, das Oberhaupt der Familie, nicht um ihre Einwilligung zu dieser Heirat gebeten. Dennoch antwortete sie der Generalin Bonaparte in liebenswürdigem Tone auf deren Brief. Sie schrieb ihr unter anderm: »Seien Sie versichert, daß ich für Sie die ganze Zärtlichkeit einer Mutter empfinde und Sie ebenso liebe wie meine eigenen Töchter.«
Bald jedoch wurde Letizias Sorge über diese Heirat durch die Ernennung Napoleons zum Oberbefehlshaber der Italienischen Armee verdrängt. Und als dieser auf seiner Reise nach Italien durch Marseille kam, um von den Seinen Abschied zu nehmen, umarmte Letizia ihn mit den Worten: »Nun bist du ein großer General!« Darin lag der ganze Stolz, das ganze Glück der Mutter. Ihr Segen begleitete ihn ins Feld. Als er von ihr ging, dem Ruhme und Glanze entgegen, da rief sie ihm nach: »Sei ja nicht unvorsichtig, nicht waghalsiger, als es dein Ansehen erfordert! Gott! Mit welcher Angst werde ich jeder Schlacht entgegensehen. Gott und die heilige Jungfrau mögen dich schützen!« In Gedanken folgte die Mutter seinem Ruhme mit ihren Wünschen für sein Wohlergehen.
Als Letizia später in Begleitung ihrer Kinder den Sieger von Montenotte, Millesimo, Castiglione und Arcole in Italien wiedersah, den bleichen, mageren General, der nicht Rast noch Ruhe kannte, preßte sie ihn voll Stolz an ihr Herz und sagte: »O Napolione, ich bin die glücklichste aller Mütter!« Es entschlüpften ihr aber auch die sorgenden Worte: »Du tötest dich.« – »Im Gegenteil«, erwiderte Napoleon heiter, »es scheint mir, daß ich lebe!« – »Sage lieber«, warf Letizia ein, »daß du in der Nachwelt leben wirst – aber jetzt ...!« – »Nun, Signora«, entgegnete der Sohn –, sie hatte es besonders, gern, wenn er sie Signora nannte –, »nun, Signora, heißt das etwa sterben?«
Noch einmal kehrte Frau Bonaparte nach Marseille zurück. Von dort begab sie sich mit ihrer Tochter Elisa, die inzwischen Frau Baciocchi geworden war, nach der jetzt endlich vom englischen Joch befreiten Heimatinsel. Mit welcher Freude begrüßte sie die alten lieben Felsen! Arm und hilflos war sie einst vor ihren Verfolgern geflüchtet, – als Mutter des gefeierten italienischen Siegers kehrte sie jetzt zurück. Aber ihr Haus fand sie verwüstet. Sofort machte sie sich an die Arbeit, das Nest für sich und die Ihrigen wieder aufzubauen, übergroße Anstrengungen aber warfen sie aufs Krankenlager und verlängerten ihren Aufenthalt in Korsika. So erfuhr sie von dem Triumphe, den man ihrem »großen General« bei seiner Rückkehr nach Paris entgegenbrachte, nur vom Hörensagen und durch die Zeitungen.
Während Napoleon in Ägypten war, versuchten englische Nachrichten oft die Ruhe der Mutter des Siegers zu stören, indem sie das Gerücht von seinem Tode verbreiteten. Aber Letizias festes Vertrauen auf sein Genie ließ sich nicht so leicht erschüttern. Eines Tages sagte sie zu verschiedenen, bei ihr in Ajaccio anwesenden Personen mit stolzer Zuversicht: »Mein Sohn wird in Ägypten nicht so elend umkommen, wie es seine Feinde gern möchten. Ich fühle, daß er zu Höherem bestimmt ist!« Auch sie glaubte an den Stern Napoleons.
Um dieselbe Zeit, als sich der General Bonaparte in Ägypten nach Frankreich einschiffte, verließ auch seine Mutter die heimatliche Insel. Sie traf einige Tage vor ihrem Sohne in Paris ein, ohne zu ahnen, daß sie ihn so bald wiedersehen werde.
Die Ereignisse des 18. Brumaire fanden statt. Frau Letizia, die bei Joseph wohnte, zitterte für das Geschick ihrer Kinder, wie die Mutter der Gracchen. Äußerlich zwar merkte man ihr nicht viel an, nur Totenblässe bedeckte ihr Gesicht, und jedes Geräusch erschreckte sie. Die spätere Herzogin von Abrantes, die sich am 19. Brumaire mit ihrer Mutter, Letizia und Pauline im Theater Feydeau befand, erzählt von Letizias Gemütsverfassung an diesem Tage Interessantes: Frau Bonaparte schien außerordentlich aufgeregt und besorgt zu sein. Sie sagte freilich nichts, sah aber öfter nach der Tür der Loge, und meine Mutter und ich merkten, daß sie jemand erwartete. Der Vorhang ging auf, das Stück begann ganz ruhig. Plötzlich trat der Regisseur vor die Rampe, verbeugte sich und sagte mit lauter Stimme: »Bürger! Der General Bonaparte ist soeben in Saint-Cloud einem Attentat der Vaterlandsverräter entgangen!«
Bei diesen Worten stieß Pauline einen markerschütternden Schrei aus und war furchtbar erregt. Ihre Mutter, ebenfalls tief erschüttert, suchte sie zu beruhigen. Letizia war bleich wie eine Marmorstatue. Wie sehr sie jedoch innerlich litt, auf ihrem damals noch immer schönen Gesicht sah man nichts als einen ganz leisen schmerzhaften Zug um die Lippen.
Sie neigte sich zu ihrer Tochter, nahm deren Hände, drückte sie fest und sagte in gebieterischem Tone: »Paulette, warum dieses Aufsehen? Schweig! Hast du nicht gehört, daß deinem Bruder nichts zugestoßen ist? Sei ruhig und steh auf; wir müssen jetzt gehen und uns nach den näheren Umständen erkundigen.«
Zum ersten Male entschloß sich Frau Letizia, zu ihrer Schwiegertochter Josephine zu gehen, bei der sie die beste Auskunft über das Geschick ihres Sohnes erhalten konnte. Sie hatte es bisher vermieden, sie zu besuchen, denn sie meinte, Josephine nähme keinen Anteil an ihrer Sorge um den geliebten Napoleon. Letizia konnte ihr die Untreue gegen ihren Sohn, während er in Italien und Ägypten war, nicht verzeihen. Auch daß Josephine ihr noch keine Enkel geschenkt hatte, grämte sie: die Mutter so vieler Kinder blickte verächtlich auf die unfruchtbare Schwiegertochter.
Äußerlich aber bewiesen sich diese beiden Frauen Höflichkeit und Achtung. Es muß besonders Josephine nachgesagt werden, daß sie jede Gelegenheit vermied, der Mutter ihres Gatten unehrerbietig entgegenzutreten. Sie hatte wenigstens so viel Takt, den Schein des guten Einvernehmens aufrechtzuerhalten. Obwohl sie genau wußte, daß Letizia sie haßte, war sie doch immer voller Rücksicht gegen die Mutter Napoleons. Dieser wünschte jedoch ausdrücklich, daß seine Frau den Vortritt vor seiner Mutter hätte, was zu fortwährenden Streitigkeiten zwischen den Beauharnais und den Bonaparte führte. Die stolze Korsin gab in dieser Beziehung nicht früher nach, als bis ihre Schwiegertochter ein wirklich gekröntes Haupt war und es die Hofsitte erforderte. Ein herzlicheres Sichnähern beider Frauen kam indes nie zustande.
Wo Napoleon Gelegenheit hatte, der Mutter seine Ergebenheit und Hochachtung zu beweisen, tat er es übrigens. So bei der Hochzeit Karolines mit Murat. Während der Tafel saß Letizia an der rechten Seite ihres Sohnes, Josephine hingegen nahm den Platz ihm gegenüber ein. Da Napoleons linke Tischnachbarin nicht erschien, ließ er sofort den Stuhl von einem seiner Generale einnehmen, womit er zeigen wollte, daß er keine andere Frau außer seiner Mutter neben sich zu haben wünschte.