Читать книгу Das neue Herz der Weisheit - Geshe Kelsang Gyatso - Страница 19

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EINE KURZE ERKLÄRUNG, WIE MAN SICH IN DER VOLLKOMMENHEIT DER WEISHEIT AUF DEN PFADEN DER ANSAMMLUNG UND DER VORBEREITUNG SCHULT

So sprach er, und der höhere Avalokiteshvara, der Bodhisattva, das große Wesen, antwortete dem ehrwürdigen Shariputra wie folgt:

«Shariputra, welcher Sohn oder welche Tochter der Überlieferungslinie auch immer die Praxis der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit auszuüben wünscht, sollte es auf vollendete Weise wie folgt betrachten: anschließend auf vollendete und korrekte Weise auch die fünf Anhäufungen als leer von inhärenter Existenz betrachten.»

Avalokiteshvaras Antwort enthält direkt und indirekt den folgenden Ratschlag: Praktizierende, männliche und weibliche, die in die Mahayana Überlieferung eingetreten sind und sich in der tiefgründigen Praxis der Vollkommenheit der Weisheit schulen möchten, sollten zuerst mit einem anschließenden gültigen Erkenner betrachten oder verstehen, dass ihr eigenes Ich oder Selbst leer von inhärenter Existenz ist oder dass ihm inhärente Existenz fehlt. Dann sollten sie betrachten oder verstehen, dass ihre fünf Anhäufungen ebenfalls leer von inhärenter Existenz sind. Haben sie dies verstanden, sollten Praktizierende, durch Mitgefühl für alle Lebewesen motiviert, über die Selbstlosigkeit der Person meditieren, die bloße Abwesenheit ihres eigenen inhärent existierenden Ichs oder Selbst. Sie sollten auch über die Selbstlosigkeit von Phänomenen meditieren, die bloße Abwesenheit ihrer fünf inhärent existierenden Anhäufungen. So sollten sich diese Praktizierenden in vollendeter und richtiger Weise in der Vollkommenheit der Weisheit schulen.

Nur Bodhisattvas auf den Pfaden der Ansammlung und Vorbereitung verwirklichen Leerheit mit einem anschließenden gültigen Erkenner. Bodhisattvas auf den Pfaden des Sehens und der Meditation müssen sich nicht auf einen anschließenden gültigen Erkenner verlassen, um Leerheit zu verstehen. Sie verwirklichen Leerheit mit einem direkten gültigen Erkenner. Deshalb erklärt dieser Teil des Sutras, wie man sich in der Vollkommenheit der Weisheit und Leerheit auf den Mahayanapfaden der Ansammlung und Vorbereitung schult.

Das Wort «anschließend» hat hier eine große Bedeutung. Es zeigt, dass der Geist, mit dem wir Leerheit zuerst verstehen, ein anschließender gültiger Erkenner ist. Ein gültiger Erkenner erkennt sein Objekt nichttäuschend. Ein solcher Geist wird uns bezüglich des Objektes, das er erfasst, niemals täuschen. Es gibt zwei Arten von gültigen Erkennern: anschließende gültige Erkenner und direkte gültige Erkenner. Sie werden dadurch unterschieden, dass sich ein anschließender gültiger Erkenner auf ein Zeichen oder auf eine Begründung verlässt, um sein Objekt zu verstehen. Ein direkter gültiger Erkenner versteht sein Objekt direkt, er braucht keine Begründung.

Wir haben viel Erfahrung mit direkten gültigen Erkennern. Diese Geisteskategorie schließt jedes gültige Sinnesbewusstsein ein. Zum Beispiel ist das Augenbewusstsein, das dieses Buch auf richtige Weise erfasst, ein direkter gültiger Erkenner. Es erfasst dieses Buch direkt, ohne sich auf Begründungen zu verlassen. Anschließende gültige Erkenner sind weniger geläufig. Dennoch sind sie eine wichtige Form des Verstehens. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wenn wir Rauch aus dem Kamin eines Hauses aufsteigen sehen, können wir sicher sein, dass in diesem Haus ein Feuer angezündet wurde. Wir können das Feuer nicht direkt sehen, aber der Rauch ist für uns ein Zeichen oder eine Begründung. Wir wissen ohne jeden Zweifel, dass dort ein Feuer ist (oder war). Rauch ist somit ein korrektes Zeichen, er zeigt die Existenz von Feuer an. Und der Geist, der aufgrund dieses Zeichens die Existenz des Feuers erkennt, ist ein anschließender gültiger Erkenner. Ebenso erkennen wir manchmal, dass eine Person unglücklich ist, wenn wir sie weinen sehen. Obwohl wir den Geisteszustand der Person nicht direkt sehen können, entwickeln wir einen anschließenden gültigen Erkenner. Er erkennt, dass die Person unglücklich ist, weil wir das äußere Verhalten als Zeichen nehmen. Da ein anschließender gültiger Erkenner von einer Begründung abhängt, müssen wir zuerst die Begründung realisieren, erst dann können wir einen anschließenden gültigen Erkenner erzeugen. Er wird ein «anschließender gültiger Erkenner» genannt, weil er sein Objekt erkennt, nachdem er eine gültige Begründung verstanden hat.

Nicht jeder Geist ist ein gültiger Erkenner, da nicht jeder Geist sein Objekt nichttäuschend erkennt. In der Dämmerung beispielsweise kann unserem Augenbewusstsein ein Baumstumpf als Person erscheinen. Dieser Geist ist kein gültiger Geist, er täuscht uns. Auch kann ein Kind denken, dass gewisse Beeren gut schmecken, weil sie schwarz sind und glänzen. Dieser Gedanke ist einem anschließenden Erkenner ähnlich, aber er ist kein gültiger Geist, weil die verwendete Begründung nicht richtig ist. Der resultierende Geist ist trügerisch und könnte sogar zum Tod des Kindes führen.

Wenn wir ein Phänomen fehlerlos erkennen wollen, müssen wir es mit einem gültigen Erkenner begreifen. Es gibt viele Phänomene, die wir augenblicklich durch direkte gültige Erkenner verstehen, einfach indem wir sie sehen, hören, riechen usw. Solche Objekte werden «manifeste Objekte» genannt. Andere Phänomene, wie die Geistesarten anderer Menschen, sei es ihr Vertrauen, ihre Absichten oder Sichtweisen, sind für uns verborgene Objekte. Gegenwärtig haben wir keine direkte Kenntnis dieser Phänomene. Dennoch können wir sie durch anschließende gültige Erkenner in Abhängigkeit von Zeichen oder Begründungen richtig verstehen.

Auch Leerheit ist ein verborgenes Objekt und kann anfänglich nicht direkt verwirklicht werden. Zuerst müssen wir ein richtiges Verständnis der Begründungen, die auf Leerheit hinweisen, erlangen. Dann können wir durch Nachdenken über diese Begründungen eine anschließende gültige Verwirklichung von Leerheit gewinnen. Einige Bücher verwenden die Worte «schlussfolgernder gültiger Erkenner» statt «anschließender gültiger Erkenner», doch die Bedeutung ist dieselbe.

Leerheit verwirklichende anschließende gültige Erkenner haben die Natur von Weisheit. Es gibt drei Arten von Weisheit: durch Zuhören entstandene Weisheit, durch Kontemplation entstandene Weisheit und durch Meditation entstandene Weisheit. Die erste, durch Zuhören entstandene Weisheit, ist ein Leerheit verwirklichender anschließender gültiger Erkenner. Er entsteht in erster Linie in Abhängigkeit von Begründungen, die von anderen gegeben werden. Wenn wir sehr starke Prägungen aus früheren Leben haben, ist es möglich Leerheit zu verwirklichen, ohne in diesem Leben Unterweisungen von anderen zu erhalten. Im Allgemeinen aber müssen wir alle Unterweisungen über Leerheit hören oder lesen, bevor wir eine Verwirklichung erlangen können. Deshalb ist bei den meisten Menschen der Geist, der zum ersten Mal Leerheit erkennt, eine durch Zuhören entstandene Weisheit. Wenn wir, nachdem wir Leerheit auf diese Weise erkannt haben, weiter nachdenken und meditieren, erlangen wir eine tiefere Verwirklichung, die in Abhängigkeit von Begründungen, über die wir selbst nachgedacht haben, entsteht. Dies ist eine durch Kontemplation entstandene Weisheit. Wenn wir nun fortfahren über Leerheit zu meditieren, gewinnen wir durch die Kraft der Meditation eine besondere gültige Erfahrung von Leerheit. Dieses besondere Verständnis ist durch Meditation entstandene Weisheit. Obwohl diese drei Weisheiten dasselbe Objekt – Leerheit– erkennen, unterscheiden sie sich in ihrer Kraft und der Art und Weise, wie sie entstanden sind. Durch Meditation entstandene Weisheit ist kraftvoller als durch Kontemplation entstandene Weisheit und diese wiederum ist kraftvoller als durch Zuhören entstandene Weisheit.

Bodhisattvas auf dem Pfad der Ansammlung verbessern ihre Verwirklichung von Leerheit hauptsächlich, indem sie sich auf die Weisheit, die durch Zuhören und Kontemplation entsteht, stützen. Die Bodhisattvas auf diesem Pfad haben das ruhige Verweilen – eine sehr geschmeidige, einsgerichtete Konzentration – schon erreicht. Ohne ruhiges Verweilen ist es nicht möglich, den vollkommenen, nichterzeugten Geist des Bodhichittas zu erlangen, der das Tor zu den Mahayanapfaden ist. Mit ihrer Konzentration des ruhigen Verweilens meditieren sie über Leerheit. Bodhisattvas auf dem Pfad der Ansammlung können die durch Zuhören und Kontemplation entstandene Weisheit, aber nicht die durch Leerheit beobachtende Meditation entstandene Weisheit erzeugen. Diese letzte Weisheit ist der Geist des Leerheit beobachtenden höheren Sehens. Diesen besitzen Bodhisattvas auf dem Pfad der Ansammlung nicht.

Leerheit beobachtendes höheres Sehen entwickelt sich aus der Meditation über Leerheit mit ruhigem Verweilen und wird erreicht, wenn der Meditierende eine besondere, durch Weisheit herbeigeführte Geschmeidigkeit erlangt. Der Geist des höheren Sehens kann Leerheit untersuchen, während er gleichzeitig in einsgerichteter Konzentration über Leerheit verweilt. Genauso wie ein kleiner Fisch in einem ruhigen See schwimmen kann, ohne die Wasseroberfläche zu bewegen, kann der Geist des höheren Sehens Leerheit erforschen, ohne die Konzentration des ruhigen Verweilens über Leerheit zu stören.

In dem Moment, in dem ein Bodhisattva Leerheit beobachtendes höheres Sehen erlangt, hat er oder sie den Mahayanapfad der Vorbereitung erreicht. Folglich besitzen Bodhisattvas auf dem Pfad der Vorbereitung, nicht aber Bodhisattvas auf dem Pfad der Ansammlung, Leerheit beobachtendes höheres Sehen. Wenn Bodhisattvas den Pfad der Vorbereitung erreicht haben, fahren sie fort, die Praxis der Vollkommenheit der Weisheit zu verbessern. Sie verlassen sich auf Leerheit beobachtendes höheres Sehen – das ist die Weisheit, die durch Leerheit beobachtende Meditation entstanden ist. Obwohl Bodhisattvas, sowohl auf dem Pfad der Vorbereitung als auch auf dem Pfad der Ansammlung, Leerheit durch anschließende gültige Erkenner verwirklichen, gibt es Unterschiede in der Art der Weisheit, die Leerheit auf diesen zwei Pfaden beobachtet.

Zusammengefasst erklärt dieser Teil der Antwort Avalokiteshvaras, dass wir über die Leerheit der Person und der fünf Anhäufungen meditieren sollten, wenn wir Mahayana Praktizierende sind, die die Vollkommenheit der Weisheit entwickeln wollen. Während wir auf dem Pfad der Ansammlung sind, sollten wir unser Verständnis von Leerheit erweitern, indem wir uns in erster Linie auf Weisheit, die durch Zuhören und Kontemplation entstanden ist, verlassen. Indem wir unsere Erfahrung von Leerheit festigen, werden wir Leerheit beobachtendes höheres Sehen entwickeln und zum Pfad der Vorbereitung fortschreiten. Auf diesem Pfad sollten wir fortfahren über Leerheit zu meditieren, indem wir uns auf durch Meditation entstandene Weisheit stützen.

Wenn wir mit Bodhichitta Motivation über die Leerheit unseres Selbst oder irgendeine unserer fünf Anhäufungen - Körper, Gefühl, Unterscheidung, zusammensetzende Faktoren und Bewusstsein – meditieren, schulen wir uns in der Vollkommenheit der Weisheit.

Das neue Herz der Weisheit

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