Читать книгу Das neue Herz der Weisheit - Geshe Kelsang Gyatso - Страница 23
ОглавлениеEin anderes Beispiel, das oft gebraucht wird, um die Bedeutung der Leerheit zu illustrieren, sind unsere Träume. Wenn wir träumen, können wir äußerst lebhafte Erfahrungen machen. Wir reisen vielleicht in exotische Länder, treffen schöne oder furchteinflößende Menschen, tun viele verschiedene Dinge und erleben infolgedessen großes Vergnügen oder Leiden und Schmerz. In unserem Traum erscheint uns eine ganze Welt, die auf ihre eigene Weise funktioniert. Diese Welt kann der Welt unseres Wachzustandes ähnlich oder auch sehr bizarr sein. In jedem Fall aber erscheint sie uns, solange wir träumen, als ganz real. Sehr selten hegen wir auch nur den leisesten Verdacht, dass das, was wir erfahren, nur ein Traum ist. Die Welt, in der wir in unserem Traum leben, scheint ihre eigene Existenz zu haben, völlig unabhängig von unserem Geist. Und wir reagieren auf sie in unserer gewohnten Art mit Begierde, Wut, Angst und so weiter.
Prüfen wir, während wir träumen, ob die Welt die wir erleben wirklich ist oder nicht, indem wir beispielsweise auf die Objekte um uns herum klopfen oder die Menschen in unserem Traum befragen, erhalten wir wahrscheinlich eine Antwort, die die Wirklichkeit unserer Traumumgebung bestätigt. Tatsächlich aber ist der einzig sichere Weg zu wissen, dass wir geträumt haben, aufzuwachen. Dann begreifen wir augenblicklich und ohne jeden Zweifel, dass die Welt, die wir in unserem Traum erlebt haben, täuschend war und bloß unserem Geist erschienen ist. Wenn wir einmal wach sind, ist es ganz klar, dass das, was wir in einem Traum erfahren haben, nicht von seiner Seite her existierte, sondern vollständig von unserem Geist abhängig war. Wenn wir beispielsweise von einem Elefanten träumen, ist der «Traumelefant» lediglich eine Erscheinung unseres Geistes. Er kann weder in unserem Schlafzimmer noch sonst wo gefunden werden.
Wenn wir es sorgfältig prüfen, werden wir erkennen, dass unsere Welt des Wachzustandes auf ähnliche Weise wie unsere Traumwelt existiert. Wie die Traumwelt erscheint uns die Welt des Wachzustandes auf lebhafte Weise und scheint ihre eigene Existenz zu haben, unabhängig von unserem Geist. Genau wie im Traum glauben wir, dass diese Erscheinung wahr ist und reagieren darauf mit Begierde, Wut, Angst usw. Auch werden wir eine scheinbare Bestätigung unserer Sichtweise erhalten, wenn wir unsere Welt des Wachzustandes oberflächlich prüfen, wie wir es bei der Traumwelt taten, um zu sehen, ob sie tatsächlich auf die Weise existiert, wie sie uns erscheint. Klopfen wir auf die Objekte um uns herum, werden sie ganz fest und wirklich erscheinen und wenn wir andere Menschen fragen, werden sie sagen, dass sie die gleichen Objekte auf die gleiche Weise sehen wie wir. Wir sollten jedoch diese scheinbare Bestätigung der inhärenten Existenz von Objekten nicht als eindeutigen Beweis betrachten, da wir wissen, dass eine ähnliche Prüfung die eigentliche Natur unserer Traumwelt nicht enthüllen konnte. Um die wahre Natur unserer Welt des Wachzustandes zu verstehen, müssen wir sie untersuchen und eingehend darüber meditieren, indem wir die oben beschriebene Art der Analyse anwenden. Erkennen wir auf diese Weise Leerheit, verstehen wir, dass Objekte, wie zum Beispiel unser Körper, nicht von ihrer Seite her existieren. Sie sind wie der Traumelefant bloße Erscheinungen unseres Geistes. Dennoch funktioniert unsere Welt nach ihren eigenen scheinbaren Regeln in Übereinstimmung mit den Gesetzen von Ursache und Wirkung, genau wie unsere Traumwelt auf ihre eigene Weise funktioniert.
Die Erfahrung der Verwirklichung von Leerheit wird deshalb mit dem Aufwachen verglichen. Wenn wir Leerheit einmal verwirklicht haben, sehen wir klar und ohne jeden Zweifel, dass die Welt, wie wir sie zuvor erfahren haben, täuschend und falsch war. Sie schien ihre eigene inhärente Existenz zu haben. Doch wenn wir Leerheit verstanden haben, erkennen wir, dass die Welt vollkommen leer von inhärenter Existenz ist und von unserem Geist abhängt. Tat- sächlich wird Buddha manchmal «der Erwachte» genannt, weil er aus dem «Schlaf» der Unwissenheit erwacht ist.
In den Schriften Buddhas wird Leerheit oftmals mit Raum verglichen. Wir sagen, wir sehen Raum, aber wir prüfen normalerweise nicht, welche Art von Raum das ist. Wir sind mit dem bloßen Namen «Raum» zufrieden. Untersuchen wir, was wir tatsächlich sehen, wenn wir sagen, wir sehen Raum, werden wir nichts finden können – er ist einfach leer. Ebenso werden wir, wenn wir nicht mit dem bloßen Namen «mein Körper» zufrieden sind und herausfinden wollen, welche Art von Körper wir sehen, entdecken, dass wir unseren Körper überhaupt nicht sehen können. Unser Körper ist auch leer, wie Raum.
Obwohl wir über leeren Raum sprechen, ist der leere Raum, den wir normalerweise meinen, nicht dasselbe wie die Leerheit unseres Körpers. Dennoch ist leerer Raum das beste Beispiel, das uns hilft, die Bedeutung der tiefgründigen Leerheit zu verstehen. Deshalb müssen wir klar verstehen, was Raum ist.
Es gibt zwei Arten von Raum: erzeugter Raum und nichterzeugter Raum. Erzeugter Raum ist der sichtbare Raum, den wir in einem Zimmer oder am Himmel sehen. Dieser Raum kann nachts dunkel und tagsüber hell werden. Da er auf diese Weise Veränderungen unterworfen ist, ist er ein unbeständiges Phänomen, er ist sichtbar für uns. Nun ist es die charakteristische Eigenschaft erzeugten Raumes, keine Objekte zu behindern. Wenn es Raum in einem Zimmer gibt, können wir dort unbehindert Dinge hinstellen. Ebenso können Vögel unbehindert durch den leeren Himmelsraum fliegen, jedoch nicht durch einen Berg! Deshalb können wir sagen, dass erzeugtem Raum behindernder Kontakt fehlt oder dass er leer davon ist. Dieses bloße Fehlen von behinderndem Kontakt ist nichterzeugter Raum. Da nicht- erzeugter Raum die bloße Abwesenheit von behinderndem Kontakt ist, ist er keinen momentanen Veränderungen unterworfen und deshalb ein beständiges Phänomen. Während erzeugter Raum sichtbar und einfach zu verstehen ist, ist nichterzeugter Raum eine bloße Abwesenheit und um einiges subtiler. Sobald wir jedoch nichterzeugten Raum verstanden haben, wird es für uns einfacher sein, Leerheit zu verstehen.
Nichterzeugter Raum ist ein negatives Phänomen. Ein negatives Phänomen ist ein Phänomen, das durch den Geist, der dieses Phänomen erfasst, verwirklicht wird, indem das verneinte Objekt des Phänomens ausdrücklich beseitigt wird. Im Fall von nichterzeugtem Raum ist das verneinte Objekt behindernder Kontakt und Raum wird durch einen Geist erkannt, der dieses verneinte Objekt ausdrücklich beseitigt. Ferner ist nichterzeugter Raum ein nichtbestätigendes negatives Phänomen. Das bedeutet, dass nichterzeugter Raum durch die Beseitigung des verneinten Objekts von einem Geist erkannt wird, ohne dass der Geist ein anderes positives Objekt erfasst. Der Geist, der nichterzeugten Raum erkennt, verneint behindernden Kontakt, bestätigt jedoch kein anderes Phänomen. Im Gegensatz dazu gibt es Phänomene, die bestätigende negative Phänomene sind. Ein bestätigendes negatives Phänomen ist ein Phänomen, das durch einen Geist erkannt wird, der das verneinte Objekt des Phänomens ausdrücklich beseitigt und indirekt ein positives Phänomen erkennt. Ein Beispiel eines bestätigenden negativen Phänomens ist das «Nichtweiblichsein meines Vetters». Der Geist, der erkennt, dass mein Vetter nicht weiblich ist, erkennt indirekt, dass mein Vetter männlich ist. Nichterzeugter Raum andererseits impliziert kein positives Phänomen; er ist die bloße Abwesenheit von behinderndem Kontakt.
Wie nichterzeugter Raum ist jede Leerheit ein nichtbestätigendes negatives Phänomen. Die Leerheit unseres Körpers beispielsweise ist das bloße Fehlen oder die bloße Abwesenheit des Körpers, den wir normalerweise sehen, des inhärent existierenden Körpers. Kein anderes Objekt wird im Gegenzug erkannt. Der Geist, der die Leerheit unseres Körpers erkennt, beseitigt bloß das Objekt der Verneinung, ohne irgendein positives Phänomen zu erkennen. Das nichtbestätigende negative Phänomen, das die bloße Abwesenheit des Körpers ist, den wir normalerweise sehen, ist die Leerheit unseres Körpers.
Nichterzeugter Raum und Leerheit sind beides nichtbestätigende negative Phänomene. Sie haben jedoch unterschiedliche Objekte der Verneinung. Das verneinte Objekt von nichterzeugtem Raum ist behindernder Kontakt. Das verneinte Objekt von Leerheit ist inhärente Existenz. Weil sich nichterzeugter Raum und Leerheit nur in ihren Objekten der Verneinung unterscheiden, ist ein Verständnis von nichterzeugtem Raum so hilfreich, um Leerheit zu verstehen.
Um nichterzeugten Raum zu verstehen, müssen wir zuerst sein verneintes Objekt, behindernden Kontakt, verstehen. Das ist nicht sehr schwierig – sogar Insekten scheinen zu wissen, was das ist. Ein Insekt wird beispielsweise so weit über einen Tisch laufen, wie es den behindernden Kontakt der Tischoberfläche spüren kann. Es wird aber umkehren, wenn es den Rand des Tisches erreicht, weil dort der behindernde Kontakt endet. Es scheint, dass das Insekt weiß, was behindernder Kontakt ist und kann daher auch seine Abwesenheit erkennen. Verstehen wir, was mit behinderndem Kontakt gemeint ist und wissen, dass nichterzeugter Raum einfach seine bloße Abwesenheit ist, sind wir in der Lage, die Bedeutung von nichterzeugtem Raum zu erkennen. Wenn wir Leerheit verwirklichen wollen, müssen wir ebenso zuerst das verneinte Objekt der Leerheit, inhärente Existenz, verstehen. Im Falle der Leerheit des Körpers beispielsweise ist das verneinte Objekt der inhärent existierende Körper – der Körper, den wir normalerweise sehen. Um die Leerheit des Körpers zu verstehen, müssen wir deshalb zuerst mit der Erscheinung und den Merkmalen eines inhärent existierenden Körpers vertraut werden. Erst dann wissen wir genau, welches Objekt durch den Leerheit realisierenden Geist verneint wird. «Inhärent existierende Dinge», «wahrhaft existierende Dinge» und «Dinge, die wir normalerweise sehen» sind Synonyme. Sie sind alle das verneinte Objekt von Leerheit. Wir müssen wissen, dass sie überhaupt nicht existieren.
Ein inhärent existierender Körper wäre ein Körper, der unabhängig von anderen Phänomenen, auch vom ihn erfassenden Geist, existiert. Durch sorgfältige Prüfung entdecken wir, dass unser Körper für uns gegenwärtig auf diese Weise zu existieren scheint. Tatsächlich scheint alles, was dem Geist eines gewöhnlichen Wesens erscheint, zwangsläufig inhärent zu existieren. Aus diesem Grund sind alle Geisteszustände gewöhnlicher Wesen fehlerhaft. Bis wir Leerheit verwirklichen, klammern wir uns mit dem Gedanken «mein Körper, mein Körper» sehr stark an unseren Körper. Der Körper, der unserem Geist in diesem Moment lebhaft erscheint, ist ein inhärent existierender Körper. Unser fehlerhafter Geist glaubt, dass dieser Körper tatsächlich existiert. Infolgedessen klammern wir uns an ihn und entwickeln starke Anhaftung. Dann schätzen wir diesen Körper, sorgen uns um ihn und führen seinetwegen viele Handlungen aus. In Wirklichkeit aber existiert dieser Körper überhaupt nicht. Deshalb ist der Körper, den wir normalerweise wahrnehmen und an den wir uns als «mein Körper» klammern, das verneinte Objekt der Leerheit unseres Körpers. Der Körper, den wir normalerweise wahrnehmen und an den wir uns klammern, existiert nicht. Es ist wichtig, dies zu erkennen.
Obwohl es nirgends einen inhärent existierenden Körper gibt, existiert das allgemeine Bild eines inhärent existierenden Körpers. Ein allgemeines Bild ist das geistige Bild eines Objektes, das unserem begrifflichen Geist erscheint, wann immer wir an dieses Objekt denken. Denken wir beispielsweise an unsere Mutter, erscheint unserem Geist lebhaft ein charakteristisches Bild von ihr. Dieses Bild, das erscheint, ist das allgemeine Bild unserer Mutter. Ein Objekt muss jedoch nicht existieren, damit uns sein allgemeines Bild erscheinen kann. Zum Beispiel kann unserem Geist lebhaft das allgemeine Bild eines Einhorns erscheinen. Obwohl dieses allgemeine Bild existiert, existiert das Einhorn selbst nicht. Genauso erscheint unserem begrifflichen Geist, wann immer wir an unseren Körper denken, ein allgemeines Bild eines inhärent existierenden Körpers, doch ist es ein Bild von etwas, das vollkommen nichtexistent ist. Dennoch müssen wir diesen inhärent existierenden Körper, der das verneinte Objekt ist, genau identifizieren, bevor wir die Leerheit unseres Körpers fehlerlos erkennen können. Deshalb müssen wir durch Meditation gründlich mit dem allgemeinen Bild dieses Körpers, so wie es uns erscheint, vertraut werden.
In philosophischen Schriften des Buddhismus wird erklärt, dass das verneinte Objekt der Leerheit inhärente Existenz ist. Denken wir, dass wir inhärente Existenz verneinen, versäumen es jedoch, den Körper, den wir normalerweise sehen, zu verneinen, haben wir das richtige Objekt der Verneinung nicht gefunden. Das richtige Objekt der Verneinung ist genau der Körper, den wir normalerweise sehen. Sagen wir, dass wir inhärente Existenz verneinen, verneinen aber den Körper, der uns normalerweise erscheint nicht, dann verneinen wir inhärente Existenz bloß «mit dem Mund».
Wenn es heißt, dass der Körper, der uns normalerweise lebhaft erscheint, nicht existiert, könnten einige Menschen dies missverstehen und denken, dass die Existenz der Phänomene ganz und gar verneint wird. Es ist daher sehr wichtig, gründlich und mit durchdringender Weisheit über dieses Thema nachzudenken. Wir müssen das verneinte Objekt von Leerheit genau identifizieren. Wenn das Objekt, das wir verneinen, zu weit gefasst ist, werden wir etwas verneinen, das tatsächlich existiert und in das Extrem der Nichtexistenz fallen. Dies wäre der Fall, wenn wir die Existenz unseres Körpers gänzlich ablehnten. Wenn andererseits das Objekt, das verneint wird, zu eng gefasst ist, werden wir weiter ein gewisses Maß inhärenter Existenz akzeptieren und in das Extrem der Existenz fallen. Verneinen wir beispielsweise einen Körper, der unabhängig von seinen Teilen ist, bejahen aber einen Körper, der seine eigene inhärente Natur besitzt, dann bleibt noch immer ein Objekt übrig, das zu verneinen ist. Wir sind in das Extrem der Existenz gefallen.
Die fehlerlose Sicht der Leerheit vermeidet beide Extreme. Deshalb wird Leerheit der «mittlere Weg» genannt. Das Extrem der Nichtexistenz wird vermieden, weil die richtige Sicht der Leerheit die Existenz von Phänomenen akzeptiert, die in Abhängigkeit von einer gültigen Grundlage der Zuschreibung bloß zugeschrieben werden. Das Extrem der Existenz wird vermieden, weil die richtige Sicht der Leerheit alle Spuren von inhärenter, unabhängiger Existenz verneint. Wenn wir Leerheit klar und fehlerlos begreifen wollen und schon ein grundlegendes Verständnis der buddhistischen Lehre besitzen, dann ist es sehr wichtig, auf dieser Grundlage Reinigung und die Ansammlung von Verdiensten zu praktizieren. Haben wir unseren Geist auf diese Weise vorbereitet und studieren und meditieren fortwährend über Leerheit, dann besteht große Hoffnung, eine korrekte Verwirklichung von Leerheit zu erlangen.
Obwohl wir danach streben, eine neue Verwirklichung von Leerheit zu entwickeln, sollten wir verstehen, dass Leerheit selbst keine neue Entwicklung oder Neuschöpfung ist. Sie ist weder ein Produkt philosophischer Analysen noch eine Erfindung Buddhas. Leerheit war von Anfang an die eigentliche Natur aller Phänomene. Unser Körper zum Beispiel war immer leer von inhärenter Existenz. Zu keinem Zeitpunkt existierte unser Körper oder irgendetwas anderes inhärent. Obwohl Leerheit immer die wahre Natur der Phänomene gewesen ist, müssen wir Anleitungen erhalten, um dies zu erkennen. Aus diesem Grund lehrte Buddha die Sutras der Vollkommenheit der Weisheit.
Es ist wichtig für uns danach zu streben, die Leerheit der Phänomene zu verstehen, weil alle Probleme und Leiden, die wir und andere Lebewesen erfahren, aus dieser falschen Sicht der Wirklichkeit stammen. Durch unsere Unwissenheit in Bezug auf die wahre Natur der Phänomene entwickeln wir den begrifflichen Geist, der meint, dass die Phänomene inhärent existieren. Dieser Geist wird das «Festhalten am Selbst» genannt, da er die Phänomene erfasst oder festhält, als ob sie ein inhärent existierendes Selbst oder eine inhärent existierende Identität besitzen würden. Der am Selbst festhaltende Geist verursacht alle anderen Verblendungen wie Wut und Anhaftung und ist die grundlegende Ursache allen Leidens und aller Unzufriedenheit. Deshalb müssen wir unser Festhalten am Selbst aufgeben, wenn wir frei von Leiden sein wollen.
Um Leerheit zu verwirklichen und unser Festhalten am Selbst zu überwinden, müssen wir als erstes fehlerlose Unterweisungen erhalten und dann darüber meditieren, wie unser Körper und andere Phänomene leer von inhärenter Existenz sind. Zuerst sollten wir die analytische Meditation üben, indem wir mit Weisheit untersuchen, ob wir unseren Körper finden können. Ist dieser Körper, den wir als «mein Körper» schätzen, das gleiche wie die Teile unseres Körpers? Sind unser Kopf, unsere Arme usw. unser Körper? Können wir einen Körper finden, der etwas anderes ist als die Teile unseres Körpers? Durch diese Untersuchung entdecken wir, dass unser Körper unauffindbar ist. Haben wir Erfolg in unserer analytischen Meditation, so wird die Erscheinung unseres Körpers verblassen und es wird eine Erscheinung von «leer» entstehen. Diese Leerheit ist die Leerheit unseres Körpers. Wir sollten versuchen, das allgemeine Bild dieser Leerheit einsgerichtet in verweilender Meditation zu halten. Wenn wir das allgemeine Bild von Leerheit verlieren, sollten wir uns die Begründungen, die die Leerheit unseres Körpers festlegten, in Erinnerung rufen und unser Meditationsobjekt wiederherstellen. Durch diese Meditation können wir mit Leerheit vertraut werden und unsere Verwirklichung festigen.
Zu Beginn sollten wir uns während unserer Meditationen über Leerheit keine Sorgen machen, in das Extrem der Nichtexistenz zu fallen, denn wir handeln ja während der Meditation weder sprachlich noch körperlich. Außerhalb der Meditation, wenn wir unsere Tätigkeiten wieder aufnehmen, müssen wir uns allerdings in Acht nehmen und dieses Extrem vermeiden. Gelingt es uns jedoch, das verneinte Objekt der Leerheit richtig zu identifizieren, dann besteht keine Gefahr extreme Sichtweisen zu entwickeln. Wir müssen wissen, dass unser Körper zwar nicht inhärent, jedoch konventionell existiert. Die konventionelle Natur unseres Körpers wird im nächsten Kapitel erklärt.
Entwickeln wir während unserer Meditation über Leerheit irgendwelche Zweifel oder sehen Widersprüche, dann sollten wir diese anschließend mit einem fähigen Lehrer oder erfahrenen Freunden besprechen. Wenn in Tibet ein Lama Unterweisungen über Leerheit und so weiter gab, hörten die Schüler zu und meditierten dann einige Tage lang über die Anleitungen. Danach beschrieben sie ihrem Lama ihre Erfahrungen und diskutierten mögliche Probleme. Auf diese Weise wurden alle Zweifel geklärt und die Schüler kehrten zu ihrer Meditation zurück. Auf die gleiche Art und Weise sollten wir versuchen Leerheit zu verwirklichen. Wenn wir Zweifel entwickeln oder nicht akzeptieren können, was gelehrt wird, sollten wir dies mit anderen diskutieren. So wird unser Verständnis immer klarer. Wir sollten keine Zweifel in unseren Herzen verbergen – wir brauchen Weisheit in unseren Herzen, keine Zweifel!
Durch die Anleitungen, die wir erhalten und die anschließende Kontemplation und Meditation über ihre Bedeutung, erkennen wir, dass unser Körper und andere Arten von Form durch Untersuchung unauffindbar sind. Diese Unauffindbarkeit ist die Leerheit unseres Körpers. Sie zeigt uns, dass unser Körper nicht objektiv, von seiner Seite her, existiert. Unser Körper ist lediglich eine Wahrnehmung des Geistes, eine bloße Erscheinung des Geistes. Nehmen wir diese Erscheinung wahr, sagen wir «mein Körper». Sind wir mit dem bloßen Namen «mein Körper» nicht zufrieden und versuchen einen Körper zu finden, der von seiner Seite her existiert, werden wir scheitern. Wenn wir wie beschrieben über die Leerheit unseres Körpers meditieren, werden wir unsere Verblendungen, wie Anhaftung an unseren Körper, bändigen. Wenn wir Probleme mit starker Anhaftung an die Körper anderer haben, können wir denken: «So wie mein Körper, den ich normalerweise sehe, nicht existiert, so existieren auch die Körper anderer, die ich normalerweise sehe, nicht». Denken wir auf diese Weise nach und meditieren über die bloße Abwesenheit der Körper anderer, die wir normalerweise sehen, so wird sich unsere Anhaftung verringern.
Indem wir unser Verständnis der Leerheit verbessern, errichten wir das Fundament für die Erlangung endgültigen Glücks. Ob wir reich oder arm sind, schön oder hässlich – wir können durch die Leerheit erkennende Weisheit alle unsere Probleme lösen und alle unsere Wünsche erfüllen. Wenn wir beständig über Leerheit meditieren, werden wir allmählich frei von allen Leiden sein, weil wir ihre Ursache – Unwissenheit – ausmerzen. Dann wird es unmöglich sein Leiden zu erfahren, selbst wenn wir es wünschten! Wenn wir Leerheit erkennende Weisheit erlangen, dann sind wir wie ein König und unsere Leerheit erkennende Weisheit gleicht den Ministern des Königs. Genauso wie alle Wünsche des Königs durch seine Minister erfüllt werden, so werden alle unsere Wünsche durch unsere Leerheit erkennende Weisheit erfüllt. Obwohl unser Körper als Grundlage diente, um Leerheit festzulegen, sind alle anderen Formen (und tatsächlich alle Phänomene) auf gleiche Weise leer von inhärenter Existenz. Um zu erkennen, dass alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind, müssen wir nicht die Leerheit jedes einzelnen Phänomens, eines nach dem anderen, erkennen. Wenn wir Leerheit unter Verwendung einer einzigen Grundlage, wie zum Beispiel unseres Körpers, richtig verstehen, können wir die Leerheit aller anderen Phänomene ohne Schwierigkeiten erkennen, indem wir lediglich die Grundlage der Leerheit ändern.
Zusammengefasst lehren Avalokiteshvaras Worte «Form ist leer», dass jede Form leer von inhärenter Existenz ist. Diese Leerheit ist die Tiefgründigkeit des Endgültigen von Form. Ohne die Verwirklichung dieser Tiefgründigkeit können wir weder vollständige Freiheit von Leiden noch volle Erleuchtung erlangen. Deshalb weist Avalokiteshvara darauf hin, dass die Meditation über Leerheit die Hauptpraxis der Vollkommenheit der Weisheit auf den Mahayanapfaden der Ansammlung und der Vorbereitung ist. Auf diesen zwei Pfaden müssen wir Leerheit mittels eines allgemeinen Bildes verwirklichen und dabei die in diesem Kapitel beschriebenen Begründungen anwenden.