Читать книгу Allumfassendes Mitgefühl - Geshe Kelsang Gyatso - Страница 20
ÜBER DIE GEFAHREN DER SELBST-WERTSCHÄTZUNG NACHDENKEN
ОглавлениеFasse alle Schuld zusammen.
Diese Zeile veranschaulicht, dass alles Leiden und jede Schwierigkeit auf eine einzige Quelle, den Geist der Selbst-Wertschätzung, zurückgeführt werden kann und dass es allein dieser Geist ist, dem wir die Schuld für alle unsere Probleme geben sollten. Da wir uns selbst schätzen, wollen wir ganz selbstverständlich alles haben, was gut und schön im Leben ist, und um es zu bekommen, üben wir selbstsüchtige Handlungen aus. Auf diese Weise bringt uns unsere Selbst-Wertschätzung dazu, Handlungen zu begehen, die uns immer wieder in samsarische Wiedergeburten werfen; und jedes Mal, wenn wir in Samsara wiedergeboren werden, müssen wir erneut all sein Elend erfahren. Wenn wir diese Selbst-Wertschätzung nicht hätten, würden wir überhaupt keine solch ungeschickten Handlungen begehen und müssten dann auch nicht deren unerfreuliche Auswirkungen ertragen.
Die Lebewesen begehen negative Handlungen, wie zum Beispiel Töten, aus Sorge um ihr eigenes Wohlergehen. Die meisten Tiere beispielsweise jagen und töten andere Tiere der Nahrung wegen, da sie auf ihr eigenes Überleben bedacht sind. Ganz ähnlich werden Menschen oft wütend, wenn andere sie verletzen oder bedrohen. Wenn wir uns rächen wollen, dann nur deshalb, weil wir uns selbst als derart kostbar betrachten. Wenn ein Dieb gefangen und ins Gefängnis gesteckt wird, sagen wir, dass er wegen eines Verbrechens ins Gefängnis geworfen wurde. In Wirklichkeit aber ist der Hauptgrund für seine Gefangenschaft sein Geist der Selbst-Wertschätzung. Wenn wir unglücklich werden, weil wir etwas haben wollen und nicht bekommen können, liegt das daran, dass unsere Selbst-Wertschätzung andere in der Vergangenheit daran gehindert hat zu bekommen, was sie wollten. In vergangenen Leben haben wir anderen aus Selbstsucht körperliche und geistige Schmerzen zugefügt und sie daran gehindert, ihre Wünsche zu erfüllen. Deshalb haben wir jetzt Schwierigkeiten, unsere eigenen Wünsche zu erfüllen, sind mit einem ungesunden Körper und Geist belastet und begegnen vielen anderen Hindernissen. Alle diese Probleme werden durch unsere Selbst-Wertschätzung verursacht.
Wenn wir gründlich darüber nachdenken, werden wir sehen, dass es nicht einen einzigen Fehler gibt, der nicht durch Selbst-Wertschätzung verursacht wird. Deshalb sollten wir den festen Entschluss fassen, die Selbst-Wertschätzung auszumerzen. Buddha sagte:
Schau dir Samsara an. Es besitzt keine guten Qualitäten.
Durch den Feind, die Selbst-Wertschätzung,
Wird eine hungrige Tigermutter
Sogar ihre eigenen Kinder verschlingen.
Shantideva sagt im Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas:
Wenn alle Qualen in dieser Welt –
Alle geistigen Ängste und körperlichen Schmerzen –
Aus der Selbst-Wertschätzung entstehen,
Welchen Nutzen hat dieser schreckliche Dämon für uns?
Shantideva bezieht sich manchmal auf den Geist der Selbst-Wertschätzung und manchmal auf den Geist des Festhaltens am Selbst. Was ist der Unterschied? Der Geist des Festhaltens am Selbst betrachtet das «Ich» als inhärent existierend oder hält an diesem als inhärent existierend fest. Der Geist der Selbst-Wertschätzung schätzt dieses «Ich», es ist ihm lieb und teuer. Diese zwei Geistesarten sind der Ursprung all unserer Schwierigkeiten.
Da wir uns selbst immer sehr geschätzt haben, ist es schwierig für uns, auch nur das kleinste Problem zu ertragen, und deshalb leiden wir ständig unter Ängsten, Sorgen und Unzufriedenheit. Der gesamte geistige Schmerz, der durch unerfüllte Wünsche und das Zusammentreffen mit unerwünschten Objekten hervorgerufen wird, ist durch Selbst-Wertschätzung verursacht. Höhere Bodhisattvas haben keine Selbst-Wertschätzung und deshalb vor nichts Angst. Sie könnten dem grimmigsten Tiger ohne Angst begegnen. Da sie alle Wesen als ihre Mütter betrachten, empfinden sie für wilde Tiere nur Mitgefühl und haben keinerlei Furcht, wenn sie ihnen begegnen. Natürlich bedeutet dies nicht, dass sie sich nicht vor unnötigen Verletzungen schützen. Eine der Qualitäten hoher Bodhisattvas ist, dass sie ihren Körper oder Teile ihres Körpers freudig anderen geben können, aber bevor sie dies tun, prüfen sie die Situation sehr sorgfältig. Sie bringen das Opfer nur, wenn sie der Meinung sind, dass die Handlung nützlich ist. Genauso sollten auch wir darauf achten, uns nicht unnötigen Risiken und Gefahren auszusetzen. Wenn es niemandem einen Nutzen bringt, hat es keinen Sinn, Verletzungen oder Tod zu riskieren. Wir sollten nicht denken, dass uns selbst zu schützen notwendigerweise ein Zeichen von Selbst-Wertschätzung ist.
Wenn wir die Gefahren der Selbst-Wertschätzung überdenken, kommen uns möglicherweise Zweifel und wir meinen vielleicht, dass wir ohne Selbst-Wertschätzung keinen Grund zum Arbeiten hätten, dass wir ohne Arbeit kein Geld hätten und dass wir ohne Geld nicht überleben könnten. Daraus könnten wir schließen, dass es nur die Güte des Geistes der Selbst-Wertschätzung ist, die uns überhaupt überleben lässt. In Wirklichkeit hängt der Wunsch zu arbeiten nicht notwendigerweise von Selbst-Wertschätzung ab. Es gibt viele uneigennützige Menschen in der Welt, die in erster Linie für andere arbeiten. Aufrichtige Dharma-Praktizierende arbeiten, damit sie sich die grundsätzlichen Lebensnotwendigkeiten leisten können und so die Energie haben, Dharma zu praktizieren. Ihr endgültiges Ziel ist die Erlangung der Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen.
Manchmal denken wir vielleicht, dass die scheinbar erfolgreichsten Leute alles im Leben durch die Kraft der Selbst-Wertschätzung erreicht haben: durch Ehrgeiz und Selbst-Wertschätzung vorangetrieben, arbeiteten sie hart und genießen jetzt ihren Lohn. Wenn wir mit dieser Ansicht übereinstimmen, haben wir die Beziehung zwischen Handlungen und ihren Wirkungen nicht richtig verstanden. Wir müssen genau wissen, welche Wirkung aus welcher Handlung folgt. Ein bankrotter Geschäftsmann kann genauso große Selbst-Wertschätzung haben wie ein erfolgreicher. Wenn Selbst-Wertschätzung der Schlüssel zum Erfolg wäre, wie könnte der eine bankrott sein und der andere reich? Buddha lehrte, dass die Ursache von Reichtum Freigebigkeit ist. Der Unterschied zwischen dem erfolgreichen und dem gescheiterten Geschäftsmann ist somit der, dass der erstere in früheren Leben Freigebigkeit ausübte, während der letztere es nicht tat. Wann immer Zweifel über diesen Umstand auftauchen, sollten wir sie sorgfältig prüfen. Wenn wir gültige logische Folgerungen anwenden, werden wir alle unsere Zweifel auflösen können.
Um die Meditation auszuführen, sollten wir versuchen uns das volle Ausmaß der Gefahren der Selbst-Wertschätzung bewusst zu machen und mit dem Entschluss abzuschließen, sie vollständig aufgeben zu wollen. Dann sollten wir über diesen Entschluss ohne Ablenkung mit einsgerichteter Konzentration meditieren.
In der Meditationspause sollten wir achtsam unseren Entschluss bewahren. Auch wenn wir unsere Selbst-Wertschätzung nicht durch den alleinigen Entschluss, sie aufgeben zu wollen, beseitigen können, wird uns das fortwährende Bestreben doch außerordentlich helfen. Zusätzlich sollten wir wiederholt Bitten an alle Buddhas, Bodhisattvas und anderen heiligen Wesen richten, dass sie uns ihre Segnungen gewähren, damit wir die Selbst-Wertschätzung überwinden können. Dazu können wir das folgende Gebet aus Darbringung an den Spirituellen Meister rezitieren:
Da ich sehe, dass diese chronische Krankheit, mich selbst zu schätzen,
Die Ursache ist, dass unerwünschtes Leiden entsteht,
Erbitte ich Deine Segnungen, um diesen großen Dämon der Selbstsucht zu zerstören,
Indem ich ihn als Schuldigen anprangere.