Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 10

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Es war dunkel. Keine normale Dunkelheit, sondern eine, die man spüren konnte. Als wäre man in einem Würfel aus schwarzem Schaumgummi eingeschweißt. Sie drückte an allen Seiten und ich dachte mir, es würde nicht mehr lange dauern bis sie in meine Lungen kriechen, meinen Körper ausfüllen und mich von innen auffressen würde.

Ich musste meine Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass ich mich in meinem Zimmer befand. Auf meinem Bett, unter den Lebensmittelregalen. Der Raum hatte keine fünf Quadratmeter. Mehr brauchte ich auch nicht, da es nichts gab, was ich in dem Zimmer hätte aufstellen können. Ausgenommen dem Bett. Eigentlich war es eine alte Liege, die Vater irgendwo gefunden hatte. Früher hatte Mutter eine Matratze aufgelegt, die Vater jedoch auf den Mist geworfen hatte, nachdem ich einmal mein Wasser nicht halten konnte. Also lag ich auf diesem stinkenden Stoff, rot-weiß gestreift, und wartete nur darauf, dass eine der Federn, die die Liegefläche an dem rostigen Metallrahmen spannte, das Zeitliche segnete und ich auf den Boden fiel. Ich fürchtete mich davor. Nicht, weil ich mich verletzen könnte, sondern weil es Lärm verursachte. Lärm, den mein Vater hören konnte. Lärm, der meinen Vater in diesen Raum trieb. Mit seinem Gürtel in der Hand, dessen Schnalle sich dann in meinem Gesicht wiederfand.

Das Kissen war alt. Genau genommen hatte ich nie ein anderes, wonach es mindestens so alt war wie ich. Also vierzehn. Aber so alt und schmutzig es auch war, so vertraut war es. Wie die Steppdecke, die mir im Winter Wärme gab. Ohne sie wäre ich erfroren, da sich in diesem Raum keine Heizung befand.

Das Zimmer lag ostseitig. Ab und zu stellte ich mir morgens vor, wie die Sonne durch das Fenster schien, die blutrote Scheibe in den Himmel stieg und mir zurief: »Jacky, raus aus den Federn! Heute wird ein guter Tag!«

Aber die Sonne schien nicht durch das Fenster. Weil es in diesem Raum kein Fenster gab. Es war eine Vorratskammer mit einer Liege. Auch in dieser Nacht, als die Dunkelheit mich auffraß.

Ich griff neben das Bett, berührte etwas Kaltes und Nasses. Reflexartig zog ich die Hand zurück, versuchte mir einzureden, dass dort, keinen halben Meter von meiner Liege entfernt, nichts war. Es war nur die Kälte und die Dunkelheit, die mich glauben machten, gegen etwas gestoßen zu sein. Aber ich traute mich nicht, es herauszufinden. Ich versteckte mich unter der Decke und hielt den Atem an. Mein Herz pochte in den Schläfen. Schnell und hastig. Und es gab nur eine Person, an dich ich mich wenden konnte.

Any? Bist du da?

Ich bin doch immer da, Jacky.

Ich habe Angst. Da ist etwas in meinem Zimmer. Ist es der Wolf?

Any wusste immer, was zu tun war. Sie war in mir. In meinem Körper. Sie war mir näher, als alles andere auf dieser Welt. Und manches Mal hatte ich das Gefühl, dass nicht Any in mir, sondern ich in ihr war.

Nein, Jacky. Kein Wolf. Aber um das herauszufinden, musst du die Augen öffnen und die Hand ausstrecken.

Ich vertraute Any. Auch wenn ich unheimliche Angst davor hatte, die Decke von meinem Kopf zu ziehen und die Hand in diese muffige Dunkelheit zu strecken. Aber Any würde mich keiner Gefahr aussetzen. Any war ich – und ich war sie. Sie würde mir sagen, falls der Wolf in meinem Zimmer gewesen wäre.

Ich wusste nicht genau, wann ich angefangen hatte mit Any zu reden. Wahrscheinlich hatte ich es seit jeher getan. Auch vor meiner Geburt. Any war immer schon da. Sie war meine Zwillingsschwester. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich nicht allein in ihrem Bauch war. Es gab ein Schwesterchen. Und sie war eng mit mir verbunden, mit mir verwachsen. An der Brust. Wir hatten ein gemeinsames Herz. Mein Herz. Es war kurz vor der Geburt, als Any entschied, nicht in diese Welt geboren werden zu wollen. Sie verzichtete zu meinen Gunsten. Als Mutter mir das erzählte – ich war zehn oder so – weinte sie. Ich wusste, dass sie wegen Any weinte. Dass sie Any vermisste. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht gesagt hatte. Aber ich hatte dieses Bild gesehen. Das Bild einer hochschwangeren Frau, die sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzte und blutige Arme um ihren Bauch schlang. Und der Werwolf stand grinsend neben ihr.

Ich wusste, dass Any nicht aus freiem Willen gestorben war. Any hatte mich beschützt. Any hatte sich über mich gelegt, als die Bauchdecke mich zu erdrücken drohte. Any war gestorben, damit ich leben konnte.

Dass Any da war, war für mich selbstverständlich. Sie war sie. Ich brauchte keinen Namen, so wie auch Mutter und Vater keine Namen hatten. Sie waren einfach nur Mom und Dad. Doch irgendwann wollte ich sie rufen, hatte aber nichts, wonach ich rufen hätte können. Als sie schließlich dennoch kam, fragte ich sie nach ihrem Namen.

Ich habe keinen Namen, Jacky. Es hat mir niemand einen gegeben.

Dann gebe ich dir einen.

Any lachte.

Wie willst du heißen?

Any lachte immer noch.

Jetzt sag schon.

Gib mir einfach irgendeinen Namen.

Irgendeinen?

Genau.

Dann heißt du ab sofort Any.

Wieder lachte sie.

Any klingt gut.

Es war das Lachen eines Mädchens, das soeben ein Geschenk erhalten hatte. Nicht irgendein Geschenk, sondern eines, das sie sich ihr ganzes Leben sehnlichst gewünscht hatte.

Any war immer für mich da. Any hatte mich immer beschützt. Und sie würde es auch jetzt tun, wenn ich die Decke von meinem Gesicht ziehen und die Hand in die Dunkelheit strecken würde.

Die Finsternis schien dichter geworden zu sein, schien wie zähflüssiger Schleim an mir zu kleben, als ich die Finger in den Raum streckte. Jeden Moment rechnete ich damit, dass scharfe Zähne zubissen, dass meine Hand etwas Ekelhaftes berührte. Und das tat sie auch. Es war nass und kalt. Aber dieses Mal zuckte ich nicht zurück. Denn was immer diese Kälte und Nässe verursachte – es hechelte. Hastig. Aufgeregt. Zu dem Hecheln mischte sich leises Quieken. Dann schleckte eine Zunge über meine Finger.

Tommy. Ich setzte mich auf, hörte, wie sich die Federn mit leisem Ächzen spannten. Tommys Fell fühlte sich flauschig an. Weich und warm. Ich drückte ihn an mich und fühlte mich glücklich. Ein Gefühl, das ich selten verspürt hatte. Erst einige Sekunden später wurde mir klar, dass Tommy nicht hier sein konnte. Es war unmöglich.

Wie kann das sein, Any? Ich dachte, Tommy ist … tot.

Es ist möglich, weil du träumst. Und es ist nicht dein Bett, nicht dein Zimmer, nicht dein Tommy.

Ein Geräusch lenkte meinen Blick in Richtung Tür. Ein Summen, als stünde man unter einer Hochspannungsleitung. Es wurde lauter, durchdringender. Durch den Spalt unter der Tür schimmerte türkises Licht. Es wurde heller. Dichter. Wie türkise Lava floss es unter der Tür in den Raum.

Any?

Es ist nur ein Traum, Jacky. Hab keine Angst.

Aber ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Die Lava floss auf mich zu und tauchte den Raum in einen grünblauen Schein. Tommy schien die Gefahr nicht zu spüren. Mit heraushängender Zunge blickte er mich treuherzig an. Auch als die Lava seine Pfoten umspülte. Ich zog ihn zu mir, setzte ihn auf die Liege. Bald hatte die zähe Flüssigkeit das Zimmer vollends geflutet und bildete blubbernde Blasen. Sie wurden dichter, als würde der Boden die Flüssigkeit zum Kochen bringen. Die Blasen formten einen Kreis. In dem Kreis stieg die Lava in die Höhe, wie Knetmasse, die man durch einen Reifen quetschte. Kurz bevor der Lavawulst die Zimmerdecke erreicht hatte, bildete das Ende einen Kopf. Den Kopf einer Schlange. Sie riss das Maul auf, ließ drei Reihen rasiermesserscharfe Zähne erkennen. Glühende Augen starrten in meine Richtung. Nein. Sie starrten auf Tommy, der mich immer noch anblickte und hechelte.

Es ist nicht dein Traum, Jacky. Das bist nicht du. Das ist nicht dein Tommy.

Noch bevor ich antworten konnte, raste der Schlangenkopf auf mich und Tommy zu. Die Zähne bohrten sich in Tommys Fleisch. Ich schrie, als eine Armee von Skalpellen durch seinen Körper marschierte und der Hinterleib im Rachen der Schlange verschwand.

Tommy blickte mich immer noch an.

Er hechelte.

Ich brüllte, wie ich noch nie in meinem Leben gebrüllt hatte.

Das Tagebuch der Patricia White

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