Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 7
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ОглавлениеMeine Mutter roch vertraut. Eine Mischung aus Blumenstrauß und gebratenem Fleisch haftete an ihrer Bluse. Ich hatte meine Augen geschlossen, aber ich wusste, dass diese Person, gegen deren Brust ich meinen Kopf presste, meine Mutter war. Sie strich über meine Haare. Zärtlich und behutsam. Dann hörte ich ihre Stimme. Sie beruhigte mich, tröstete mich, versuchte, mein rasendes Herz zu bremsen, meine Tränen zu trocknen, obwohl auch sie weinte. Ihre geflüsterten Worte zitterten und sie war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ich spürte es. Ich spürte jede einzelne Träne, die über ihre Wange floss, über ihren blau gefleckten Hals auf den Kragen ihrer schmutzig weißen Bluse. Ich spürte es, wie ich es immer gespürt habe, wenn Mutter traurig war. Wenn sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte und in ihr Kissen schluchzte. Dann hörte ich sie denken. Sie dachte an den Tod. An ihren Tod. Ihre Finger strichen über die Stelle auf der Matratze, unter der sie die Tabletten versteckt hatte. Einschlafen und nie wieder erwachen. Flucht aus diesem Leben. Egal, was danach kam – es konnte nicht schlimmer sein. Und dann hörte ich sie an mich denken. Und daran, dass sie mich nicht im Stich lassen konnte. Nicht in dieser Wohnung. In dieser Hölle.
Ich hämmerte gegen die Schlafzimmertür. Fest. Noch fester. Weil sie nicht an den Tod denken durfte. Weil sie mich nicht im Stich lassen durfte. Weil ich sie brauchte. Sie und den Duft nach Blumenstrauß und gebratenem Fleisch. Aber ich wusste, dass die Todessehnsucht von Tag zu Tag wuchs und es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihren Geist vergiftet hatte. Ich spürte es. Wie ich jede einzelne Träne spürte. Tag für Tag.
»Nicht weinen, Jacky. Es wird alles gut.«
Ich nickte. Doch nur, um ihr das Gefühl zu vermitteln, ihre Versuche mir Mut und Hoffnung zu geben, wären erfolgreich. In Wahrheit wusste ich, dass nichts gut werden würde, dass meine Mutter mich belog. Und sie wusste, dass ich es wusste. So belogen wir uns beide, wieder und wieder, während ich meinen zitternden Körper an sie presste und jede Sekunde genoss, in der sie diese Wärme ausstrahlte, wie ein Sonnenstrahl an einem kalten Frühlingsmorgen.
Any riet mir, die Augen nicht zu öffnen. Doch wie so oft, wenn man etwas nicht tun sollte, kann man es unmöglich verhindern. Wie Recht Any gehabt hatte, zeigte mir das von ringelnden Maden übersäte Fleisch, an das ich meine Wange presste. Es quoll durch Brandlöcher einer weißen Bluse. Millionen bunt schillernde Fliegen umkreisten den Schädel, über dessen blutig knöchrige Wange eine türkise Schlange in der rechten Augenhöhle verschwand.
Ich kannte dieses Bild. Anfangs wäre ich beinahe vor Panik und Schock gestorben. Aber jetzt erschreckte es mich nicht mehr. Ich wusste, dass es nicht real war. Ich wusste, dass es wieder verschwand, wenn ich Any darum bitten würde. Dieses Kribbeln der Maden an der Wange, das Geschmatze der Schlange, die sich durch die Gehirnmasse fraß. Dieser nasse, knöcherne Druck auf meiner Schädeldecke und das verfaulte Fleisch ihres Armes auf meinen Schultern. Alles würde verschwinden. Ich musste Any nur darum bitten.
»Bitte«, flüsterte ich. »Ich will das nicht sehen.«
Dann schließ die Augen, Jacky.
»Aber ich habe Angst, dass etwas noch Schlimmeres kommt, wenn ich sie wieder aufmache.«
Es ist alles schon geschehen. Es ist nur ein Traum. Du kannst jederzeit aufwachen.
Ich vertraute Any. Sie hatte mich nie enttäuscht. All die Jahre, die sie über mich wachte, die sie mir zur Seite stand, wenn ich bewegungsunfähig vor Angst in meinem Feldbett lag, in dieser fensterlosen Kammer, neben Putz- und Lebensmittel. Wenn ich seine gelallten Worte hörte, das Klirren und Krachen, das Klatschen und die Schmerzensschreie meiner Mutter. Wenn sie in ihren Gedanken brüllte, er möge sie doch endlich umbringen und die Sehnsucht nach dem Tod einen weiteren Teil ihrer Seele vergiftet hatte – dann war Any da und beschützte mich. Sie lag neben mir und gab mir Wärme. Gab mir Hoffnung, dass dieser Alptraum eines Tages vorbei sein würde. Any würde dafür sorgen.
Ich schloss die Augen.
»Pscht«, sagte Mutter und strich über mein Ohr. Dann begann sie zu summen. Kaum hörbar. Aus dem Summen wurden Worte. »Somewhere, over the rainbow, skies are blue. And the dreams Jacky dares to dream, really do come true.«
Als ich die Lider öffnete und den Kopf hob, blickte ich in ihre großen, türkisblauen Augen. Sie glänzten wässrig und wirkten wie ein Aquarell aus allen Farben der Traurigkeit. Von den Augenwinkeln flossen glitzernde Tränen und hinterließen schwarze Spuren auf den Wangen. Die Lippen waren rot. Blutrot. Sie zitterten.
Die Pupillen fixierten mich, als würde Mutter auf eine Antwort warten. Auch wenn sie die Frage nicht gestellt hatte, kannte ich sie. Ich fasste nach den Fingern auf meinem Ohr, wollte ihr sagen, dass sie die Tabletten unter der Matratze nicht anrühren durfte, dass sie nicht weggehen durfte, dass ich sie brauchte. Aber ich schüttelte nur den Kopf und sie starrte mich an, als hätte sie meine Antwort nicht verstanden.
Ich saß auf ihrem Schoß inmitten des Wohnzimmers. Ich wusste, dass es das Wohnzimmer sein musste, auch wenn die Wände aus schwarzen Felsen bestanden. Zwischen den Steinen quoll dunkelrote Brühe hervor und tropfte mit durchdringendem, schwerem Platschen auf den Boden. Das gesamte Zimmer war knöchelhoch davon überschwemmt und mir schien, dass sich die Oberfläche bewegte, als schwämme etwas dicht darunter. Ein Fisch vielleicht. Oder eine Schlange.
Links im Eck stand ein Fernsehgerät. Es lief ein Kinderfilm. Ein kleines Mädchen mit hellen Spirallocken sprang singend über einen Kiesweg, begleitet von einem Löwen, einer Vogelscheuche und einer Art Roboter. Auch über das Fernsehgerät rann nun die rote Brühe und es dauerte nicht lange, bis von dem Bild nichts mehr zu sehen war.
»Wo ist er?«, fragte das Mädchen.
»Keine Ahnung, Kleines«, antwortete einer ihrer Begleiter.
»Aber ich muss es wissen. Er muss sich doch verstecken, wenn er kommt.«
»Nein, er muss kämpfen wie ein Löwe.«
»Er ist aber kein Löwe. Er ist nur ein kleiner Junge.«
»Aber er hat seine Mom und Any. Sie werden ihm helfen.«
»Wenn er aber doch solche Angst hat.« Das Mädchen schrie schrill auf. »Er kommt! Versteckt euch!«
Mutter zuckte zusammen. Ihre Arme umklammerten mich. Ihr Blick war auf die Eingangstür der Wohnung gerichtet. Türkise Flammen schlugen von dort in das Zimmer. Heiß und gierig schnappten sie nach uns. Wie zischende Schlangen fuhren sie zur Raumdecke und tauchten den Raum in ein blaugrünes Licht.
»Ruhig, Jacky«, flüsterte sie in mein Ohr. Doch meinte ich zu spüren, dass sie sich selbst dadurch beruhigen wollte.
Ketten rasselten und schlugen gegen das Holz der Tür. Die Flammen wurden dichter, ordneten sich kreisförmig an, wie ein brennender Reifen im Zirkus, und das Raubtier, ein zwei Meter großer Werwolf, sprang durch ihn hindurch. Seine rot leuchtenden Augen richteten sich auf mich. Ein Grinsen zeigte die spitzen Reißzähne. In der Kralle hielt er einen Ledergurt.
»Ruhig, Jacky«, flüsterte Mutter und strich über mein Ohr. Erst jetzt merkte ich, dass es schmerzte. Es brannte. Höllisch. Mutters Finger waren blutverschmiert.
Der Wolf schwenkte den Gurt durch die Luft, als sollte das Stück Leder mich an etwas erinnern. Nein. Kein Gurt. Eine Leine. Eine Hundeleine.
Die Wolfslefzen bewegten sich. Na? Hast du deine Lektion gelernt, Jack?
Tommy. Es war jener Tag, an dem ich Tommy nach Hause gebracht hatte. Ein Collie-Welpe. Er war mir auf der Straße zugelaufen und nicht mehr von der Seite gewichen. Der Werwolf kam näher. Blut tropfte von der Hundeleine in die dreckig rote Brühe und färbte sie schwarz. Die Oberfläche begann zu zittern. Piranhaköpfe erschienen. Gierig rissen sie das Maul auf und schnappten nach dem schwarzen Blut.
»Wo ist Tommy?«, brüllte ich und riss mich aus Mutters Umklammerung.
»In der Hölle«, antwortete der Wolf und lachte. Auf dem Fernsehgerät lag ein Schürhaken. Wir besaßen keinen Schürhaken in unserer Wohnung, dennoch lag er dort und schien meinen Namen zu rufen. Nimm mich, Jacky! Und zeig deinem Dad, dass du deine Lektion gelernt hast.
»Nicht, Jacky«, rief Mutter. Ich war aufgesprungen und watete durch die Brühe zum Fernsehgerät. An meinen Knöcheln nagten rasiermesserscharfe Zähne. Es mussten tausende sein, da die Oberfläche im gesamten Wohnzimmer zu zittern begann. Da und dort tauchte ein Kopf auf und rote, brennende Augen schielten nach mir.
Ich griff nach dem Haken und sprang auf den Wolf zu. Ich holte aus und sah das spitze Ende auf die behaarte Brust zurasen. Tief bohrte sich der schmutzige Stahl in meines Vaters Brust. Er schrie nicht. Er wankte nicht. Er lachte nur und stieß mich zurück. Ich fiel, während er den Haken aus seiner Brust riss und ihn zu meiner Mutter warf.
Ich spürte die warme Brühe meinen Körper umspülen, die zappelnden kleinen Monster in meine Kleidung schwimmen, ihre Zähne an meiner Haut knabbern. Aber die eigentliche Bedrohung ging von dem Wolf aus. Er sprang auf mich zu, fasste mich am rechten Bein und stieß seine Reißzähne tief in meinen Oberschenkel. Der Schmerz fuhr in die Zehenspitzen und dann mit rasender Geschwindigkeit in meinen Magen. Ich schrie nach Mutter. Aber ich wusste, dass sie mir nicht helfen würde. Ich blickte zu ihr, als ich das Krachen des Knochens vernahm und der Wolf das Bein von meinem Körper riss. Sie streckte ihre Arme in meine Richtung. Ihre knöchrigen Arme, an denen das verfaulte Fleisch hing. Ihr Totenschädel schien zu schreien, ihre Brust sich aufzubäumen, als versuchte sie, aus ihrem Rollstuhl aufzustehen. Dabei wusste sie doch, dass das aufgrund ihrer zertrümmerten Wirbelsäule nicht möglich war.
Irgendetwas zog mich in die Tiefe. Die blutige Brühe floss in meinen Mund, in meine Nase. Ich strampelte mit meinem verbliebenen Bein, versuchte nach oben zu schwimmen.
Du musst jetzt aufwachen, Jacky.
Any?
Wach jetzt auf!
Ich bäumte mich auf und stieß mit der Stirn gegen etwas Hartes. Ein Haltegriff auf einer gebogenen Stange. Er schwenkte von mir fort und wieder zurück. Ich sah ihn kommen, unternahm aber nichts dagegen, als er wiederum gegen meinen Schädel schlug. Ich starrte nur auf die Bettdecke, fasste nach ihr – was nicht einfach war, da meine Arme mit einem Gurt am Bett fixiert waren – und schlug sie zurück.
Es war da. Mein Bein war da. Um den Oberschenkel war ein Verband gewickelt und ich fühlte einen dumpfen Schmerz, der bis in den Unterschenkel reichte. Ich bewegte die Zehen, ließ mich in das Kissen zurückfallen und blickte auf die Tropfflasche, die durch einen Schlauch mit meinem rechten Arm verbunden war.
Noch bevor mir klar wurde, dass ich in einem Krankenzimmer lag, und ich mich freuen sollte, dass ich mein Bein nicht verloren hatte, begann ich zu weinen. Ich weinte um Tommy und meine Mutter. Dieser Traum hatte mich kurz in mein vergessenes Leben blicken lassen und ich wünschte mir, meine Erinnerung daran sollte nie wieder zurückkehren.