Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 4
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ОглавлениеNew York City, 538 Grand Street.
Die Grand Street zu finden war einfacher, als ich befürchtet hatte. Mein Plan bestand darin, ins Zentrum der Stadt zu fahren und zu hoffen, dass sich eine Art Automatismus in Gang setzte, der mich wie ein Autopilot in meine Wohngegend führte. Doch dieser Automatismus blieb aus. Hatte ich auf dem Highway ins Zentrum noch ansatzweise das Gefühl, diese Stadt zu kennen, löste sich diese Vertrautheit schnell in nichts auf, als ich von der Schnellstraße abfuhr und mich in Chinatown wiederfand. Ziellos fuhr ich umher, bis ich mir sicher war, das erste Mal in New York zu sein. Nichts, rein gar nichts, kam mir auch nur im Entferntesten bekannt vor. Dennoch dauerte es von diesem Zeitpunkt, in dem mich die Verzweiflung zu würgen begann, bis jetzt keine dreißig Minuten. Ein Taxi-Fahrer, der an einer Kreuzung neben mir stand, gab mir durch zwei Handzeichen die Wegbeschreibung: fünf Finger und ein Deut mit dem Zeigefinger nach rechts. Ich bog also die fünfte Straße nach rechts ab und fuhr die Abraham Kazan Street entlang. Sie mündete direkt in die Grand Street. Unweit meines Häuserblocks.
Die Straße war kaum frequentiert. Nur vereinzelt begegneten mir Fahrzeuge. Auch auf den Trottoirs befanden sich nur wenige Menschen. Eine ältere Dame, die einen Rollkoffer hinter sich herschleifte. Ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl, der aus der Apotheke fuhr, eine Plastiktüte auf seinem Schoß, und eine Mutter, die ihr Kleinkind im Arm hielt und vor der Ampel wartete. Ich bremste. Rote Locken leuchteten um ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Helle, grüne Augen blitzten in meine Richtung. Ein kurzer Blickkontakt. Dann drehte sie sich zur Seite.
Ein Hupen hinter mir schreckte mich auf und ich fuhr weiter. Da ein Schild an der Hauswand mit der Nummer 538 darauf hinwies, dass ich mein Ziel erreicht hatte, hielt Ausschau nach einer Parkmöglichkeit. Doch meine Gedanken hingen an dieser rothaarigen Frau. Jede Frau hier auf der Straße konnte meine Frau sein. Jedes Kind mein Fleisch und Blut. Und jeder einzelne Mensch konnte mich besser kennen, als ich es tat.
Selbst jetzt, da ich auf mein Wohnhaus blickte, stieg keinerlei Vertrautheit in mir auf. Ich fühlte mich wie ein Besucher. Ein Fremder, den man in eine Gegend geschickt hatte, die er nie zuvor gesehen hatte. Ich überlegte, ob es eine andere Grand Street geben könnte und mich der Taxilenker schlicht zur falschen gesandt hatte. Aber selbst im chaotischen Trubel meiner Gefühle kam mir diese Erklärung fadenscheinig vor. Nein. Dies war mein Wohnhaus. Hier wohnte ich. Und ich musste endlich aus dem Wagen steigen und herausfinden, wer ich war.
Der Schmerz trat nach der ersten Belastung des Beines ein. Wie ein Blitz zog sich das Brennen durch den Oberschenkel und jeder Versuch, den Schmerz zu ignorieren, scheiterte.
Ich humpelte die Straße entlang und bog in Richtung Hauseingang ein. Über der doppelflügeligen Tür war ein grüner Baldachin angebracht. In großen weißen Lettern strahlte Hillman in der Vormittagssonne. Darunter stand 538 E Grand Street. Rechts vor dem Eingang befand sich ein Verschlag in der Grünfläche. Eine Portierloge, in deren Seitenfenster sich die Statur eines Mannes abzeichnete. Auf dem Kopf eine Schirmmütze. Der Portier schob das Frontfenster nach oben und streckte den Kopf nach außen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit aufgesetzter Höflichkeit, die vermutlich Teil seines Job-Profils war. Ich schüttelte den Kopf. »Mister Reynolds?«
Ich nickte und sah ein breites Lächeln im Gesicht des Portiers. »Mister Reynolds«, wiederholte er. »Ich habe Sie nicht gleich erkannt. Wohl einen starken Einsatz gehabt?«
»Ja. Sehr stark.« Ich deutete auf meinen Oberschenkel, während ich auf die Portierloge zuhumpelte. »Arbeitsunfall«, erklärte ich. Nur mit Mühe konnte ich meine Lippen nötigen, etwas Ähnliches wie ein Lächeln zu formen.
»Sieht schlimm aus«, meinte der Portier und schüttelte den Kopf. »Ich mache Ihnen auf«, fügte er hinzu und drückte auf eine Taste an der Holzwand des Verschlages. Ein kurzes Knacken war von der Eingangstür zu vernehmen.
»Danke«, sagte ich und nickte dem Mann zu.
»Werden Sie schnell wieder gesund!«, rief mir der Portier nach. »New York City braucht Sie!«
Ich hob kurz die Hand und drückte die Tür nach innen.
Kalte Luft empfing mich in einem Gang, der nach etwa fünf Metern nach links abzweigte. Eine Reihe von Türen zog sich den schwach beleuchteten Korridor entlang. Neben jeder einzelnen war ein Schild montiert, auf dem groß Hillman aufgedruckt war. Darunter befand sich jeweils ein Name. Firmennamen.
Ich erhoffte Hinweise bezüglich Stockwerk und Türnummer auf dem Wohnungsschlüssel und holte den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche. Neben dem Wagenschlüssel befanden sich noch fünf weitere auf dem Ring. Der Appartementschlüssel war schnell gefunden. Er trug als einziger die Aufschrift Hillman. Darunter stand: 10 und App. 3. 10 musste für das Stockwerk stehen, 3 für die Nummer meines Appartements.
Ich humpelte den Gang entlang. Ein leises Klingeln beantwortete meine Frage nach dem Fahrstuhl. Schnelle Schritte hallten im Korridor. Ein Mädchen, geschätzte fünfundzwanzig Jahre alt, bog um die Ecke und begann zu lächeln. Sie trug einen grauen Jogging-Anzug und Sportschuhe. Das lange, schwarze Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Hi Jack!«, rief sie. »Alles klar?« Sie lief schnell an mir vorbei und strich mit der Hand über meine Schulter.
»Hi!«, rief ich zurück. »Klar ist alles klar!« Ich blickte ihr nach und sah sie noch winken, bevor sie in Richtung Ausgang verschwand. Es handelte sich zwar nicht um meine Frau, aber allem Anschein nach musste sie mich mögen. Ich war also keiner dieser anonymen Einsiedler, die einsam in einem Miethaus starben und erst nach Wochen aufgrund des Verwesungsgeruches entdeckt wurden. Diese Erkenntnis beruhigte mich.
Nach einem Knarren, das im Korridor laut hallte, schnappte die Lifttür hinter mir ins Schloss. Rechts zogen sich Wohnungstüren den Gang entlang. Mit jedem humpelnden Schritt beschleunigte mein Puls. Als ich vor der Wohnungstür stand, raste mein Herz und mit dem Drehen des Schlüssels begann die Welt zu verschwimmen. Ein Klacken. Dann war die Tür entriegelt.
Ich atmete tief durch und drückte das Türblatt in den Raum.
»Hallo?«, rief ich und horchte. Kein »Jack?«. Kein »Daddy?«. Nichts. Nur ein muffiger Geruch gepaart mit einer leicht ätzenden Note strömte mir entgegen. Ich betrat das Appartement, bemühte mich, möglichst wenig Geräusche zu machen, obwohl ich mir einredete, dass dies meine Wohnung war und ich dieses seltsame Drücken in der Magengegend nicht zu haben brauchte. Dennoch hatte ich das Gefühl, nicht hier sein zu dürfen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der kurz davor stand, auf frischer Tat ertappt zu werden. Dementsprechend groß war auch der Schreck, als die Tür hinter mir mit einem Knall ins Schloss fiel.
»Hallo?«, rief ich noch einmal. »Jemand hier?«
Keine Antwort.
Der Eingangsbereich war kaum zwei Quadratmeter groß und mit hellem Parkett ausgelegt. Ein schmaler Wandschrank stand rechts neben der Tür. Der Holzboden wechselte unter einem Torbogen von hell in dunkel. Im Gegensatz zum Eingangsbereich wirkte der Boden der Diele abgewohnt und alt, was sich durch ein Knarzen bei jedem meiner Schritte bestätigte. Von dem langgezogenen Vorraum führten insgesamt drei Türen in weitere Räume. Zwei jeweils an den Enden, die dritte gegenüber dem Eingang. In der Tür zu meiner Rechten war Milchglas eingelassen, durch das etwas Licht in die Diele fiel. Der Wohnraum, vermutete ich und ging langsam darauf zu.
Die Tür war angelehnt. Ich drückte sie auf und musste kurz die Augen schließen. Sonnenlicht blendete. Auch hier bestand der Boden aus dunkelgrauem Holz, dessen Unebenheit durch den Lichteinfall ins Auge stach. Links im Eck stand eine Couch, auf der zwei Personen sitzen konnten. Wie der Boden wirkte sie alt und schmuddelig, aber nicht unbequem. Davor stand ein heller Holztisch mit einem Couchsessel. Gegenüber eine Kochnische, in der sich außer einem Herd mit Kochplatte und einem mit Geschirr gefüllten Waschbecken nur ein schmaler Geschirrschrank und ein Kühlschrank befanden.
Rechts von der Tür ragte ein raumhoher, weißer Wandverbau hoch, mit Büchern und DVDs in drei Regalen. Daneben stand ein Kästchen. Darauf ein Fernsehgerät und ein DVD-Player – beide hatten wie der Rest des Zimmers offensichtlich schon einige Winter erlebt.
Alles in allem wirkte der Raum warm und gemütlich. Jedoch wurde mir beim Anblick der bunt zusammengewürfelten Möbel eines klar: Ich hatte keine Familie. Es fehlten Details, die auf die Handschrift einer Frau hindeuteten. Blumenstöcke, Bilder an der Wand, heimelige Vorhänge passend zu Läufern und Teppichen. Es fehlten herumliegende Spielsachen, Kinderschuhe und Frauen-Magazine auf dem Tisch.
Die zweite Tür im Gang führte ins weiß geflieste Badezimmer. Eine Dusche und ein Waschbecken neben einer Toilette, auf knapp drei Quadratmetern, wobei man während des Verrichtens des großen Geschäftes die Armaturen des Beckens und der Brause ohne Mühe erreichen konnte. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, neben der Armatur lagen Seife, Zahnbürste und -pasta. Darüber war ein Holzregal montiert, worauf ein Kamm und ein Rasierapparat abgelegt waren. Neben dem Spiegel hing ein weißes Handtuch.
Ich befand mich bereits wieder in der Diele, als ich stutzte. Das Waschbecken. Hatte ich mich getäuscht? Noch einmal betrat ich das Bad. Das Becken war nass. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein. Der Gedanke, ich hätte doch nicht alleine hier gewohnt, ließ Freude in mir aufflackern. Vorsichtig legte ich die Hand auf den Knauf der letzten Tür. Es musste das Schlafzimmer sein. Vielleicht befand sich wer immer das Becken benutzt hatte hinter dieser Tür? Vielleicht schlief meine Freundin und hatte meine Rufe nicht gehört?
Nach einem leisen Klacken schwenkte das Türblatt in den Raum. Ein Doppelbett. Nur auf einer Seite war die Matratze mit einem Leintuch bezogen. Ein zerknittertes Kissen lag darauf, eine Stoffdecke zurückgeschlagen am Fußende.
Ein weißer Schrankverbau zog sich von der Tür zur Fensterwand. Die Schranktüren standen offen.
Neben dem Fenster hing ein Bild. Es zeigte einen neben Betonbrocken knienden Feuerwehrmann, der sich auf seiner Axt abstützte. Sein Gesicht war dreckig, der Helm tief ins Gesicht gerutscht. Diesen Schnappschuss hatte jemand kurz nach einem Großbrand gemacht. Das Bild berührte mich in einer Art, die ich nicht zu beschreiben vermochte. Ich fühlte mit diesem Mann, spürte seine Müdigkeit und den Willen, dennoch weiterzukämpfen. Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, dass ich dieser Mann war. Nicht äußerlich – innerlich. Als würde ich in diesem Moment vor den Trümmern meines Lebens knien und mich zwingen, aufzustehen und weiter zu gehen. Immer weiter – bis ich die Wahrheit gefunden hatte.
Das verknitterte Kissen und die Decke zeigten mir eines ganz klar: Ich hatte definitiv alleine in dieser Wohnung gewohnt. Die Freude über eine mögliche Mitbewohnerin erlosch und machte einem neuen Gefühl Platz. Einem unangenehmen Gefühl – als zöge sich Gänsehaut über meine Eingeweide, ausgelöst durch einen Wurm aus Eis, der durch meinen Darm kroch. Was immer die Ursache für dieses Gefühl war – es ließ mich augenblicklich über meine Schulter blicken, in die Diele, als würde etwas Bedrohliches von dort in das Schlafzimmer strömen.
Erst ein paar Sekunden später registrierte ich ein Geräusch. Es schien aus dem Wohnzimmer zu kommen. Als zöge jemand einen altertümlichen Wecker auf. Wieder und wieder.
Oder eine Spieluhr?
Ja. Eine Spieluhr.
Kommt dir das nicht bekannt vor, Jack?
Die Melodie spielte los. Somewhere over the rainbow. Ich sah eine Silhouette am Milchglas der Wohnzimmertür. Deutlich konnte ich einen Lockenkopf erkennen. Der Schatten bewegte sich vor und zurück. Im Takt der Melodie. Zu den Tönen gesellte sich ein weiteres Geräusch. Als rollte ein Reifen über knarzendem Parkett. Und dann eine Mädchenstimme. Singend. »Way up high, there‘s a land that I heard of, once in a lullaby.«
Meine Hand zitterte, als ich sie auf den Knauf der Wohnzimmertür legte.
»Somewhere over the rainbow, skies are blue, and the dreams that you dare to dream, really do come true.«
Ich öffnete die Tür.
Stille.
Kein Mädchen. Keine Spieluhr.
Dafür tauchte dieses verschwommene Bild in meinem Kopf auf. Helle, blaue Augen, weit aufgerissen. Eine Locke in der Stirn. Aus den Augenwinkeln flossen Tränen. Sie glitzerten in feurigem Orange. Nun erkannte ich auch den Mund. Schmerzverzerrt. Schreiend.
Das Klingeln des Lifts gellte durch das Vorhaus. Kurz darauf hörte ich das Knarren der Lifttür.
Sie kommen, Jack. Sie werden dich holen.
Niemand wird mich holen. Es werden nur Nachbarn sein. Oder das Mädchen, das vom Joggen zurückkommt.
Lauf, Jack! Lauf um dein jämmerliches Leben.
Schritte hämmerten durch den Gang. Mindestens zwei Personen. Sie kamen näher.
Ich versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass diese verhasste Stimme in meinem Kopf Recht hatte. Wer immer durch den Gang rannte – wollte zu mir.