Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 5
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ОглавлениеDie Luft atmete sich wie muffige Watte. Meine Lunge forderte tiefe Atemzüge, aber ich wagte nicht, diesem Bedürfnis nachzugeben. Jedes noch so leise Schnaufen konnte mich im Schlafzimmerschrank verraten. Dazu kam ein Gefühl des Ausgeliefertseins, ausgelöst durch die Dunkelheit und die Enge. Nur durch einen Schlitz zwischen den beiden Schranktüren schnitt ein Lichtstrahl durch die Finsternis.
Mir war bewusst, dass jemand, der mich suchte, früher oder später im Schrank nachsehen würde. Aber es gab diese kleine Restwahrscheinlichkeit, dass die Besucher nichts von meiner Anwesenheit wussten.
Das Knarren von Schritten in der Diele verriet, dass sie die Wohnung betreten hatten und sofern sie kein direktes Ziel hatten, würden sie so wie ich zuerst den Wohnraum aufsuchen. Das Knarren in der Diele wurde leiser, gefolgt von einer Männerstimme. Gedämpfte Worte drangen durch die Schranktür, zu leise gesprochen, als dass ich sie hätte verstehen können. Die Wohnzimmertür klackte ins Schloss.
Ein Geräusch. Im Schlafzimmer. Ein Schleifen, als würde eine Person über den Holzboden robben. Dann hastige Schritte, die sich entfernten. In die Diele. Ins Treppenhaus.
»Da ist jemand!«, schrie ein Mann. Der Türknauf wurde gedreht. »Er ist raus!«
»Du bleibst hier«, antwortete der andere. Kurz darauf hämmerten wiederum Schritte im Korridor, wurden schnell leiser.
Immer wieder fragte ich mich, warum ich mich versteckte. Es war meine Wohnung und außer mir hatte hier niemand etwas zu suchen. Doch vermutlich war es diese Stimme in meinem Kopf, diese Panik in meiner Brust und dieses Drücken im Magen, das mir unmissverständlich mitteilte, dass diese Männer mir keinen Höflichkeitsbesuch abstatteten. Sie waren gefährlich. Tödlich. Wie die beiden im Motel. Sofern es sich nicht ohnehin um dieselben Personen handelte.
Und da war diese andere Sache. Jemand hatte sich im Schlafzimmer befunden. Alle drei Schranktüren waren offen gestanden. Daher musste sich die Person unter dem Bett versteckt haben, als ich die Wohnung betreten hatte. Wer immer dort gelegen war, hatte einen entscheidenden Vorteil: Er hatte das Appartement verlassen. Zumindest erschien mir das in diesem Augenblick vorteilhaft, denn die Schritte in der Diele verrieten mir, dass der Mann näher kam. Es war plausibel, dass er nun, nachdem aus diesem Raum jemand herausgerannt war, nachschaute, ob sich eine zweite Person versteckt hatte. Unter dem Bett.
Oder im Schrank.
Dass ich mit meiner Vermutung richtig lag, verriet mir ein leises Knarzen. Ich kannte es, da ich es dreimal gehört hatte – als ich hastig die offenen Schranktüren geschlossen hatte. Demnach hatte der Mann soeben hinter der ersten Tür nachgesehen. Wieder knarzte es. Nummer zwei. In einer Sekunde würde er mich entdeckt haben.
Ich atmete tief ein.
Sie werden dich kriegen, Jack. Und dann werden sie dich töten.
Niemand wird mich töten. Warum sollten sie?
Aber das weißt du doch, Jack.
Die Helligkeit blendete, doch konnte ich die Überraschung im Gesicht meines Gegenübers deutlich erkennen. Gefolgt von dem Schmerzensschrei, als meine Faust gegen sein Nasenbein donnerte. Er wankte nach hinten, fiel auf das Bett. Ich stürzte mich auf ihn und erkannte erst jetzt die Waffe in seiner Hand. Mit dem linken Knie fixierte ich die Schusshand, meine Finger krallten sich um den Hals. Blut rann über seine Lippen.
»Was wollt ihr von mir?«, brüllte ich. Trotz der Panik und dem Schmerz in meinem Bein war mir bewusst, dass der Komplize jeden Moment zurückkommen würde. Spätestens dann war meine Situation aussichtslos.
Ich drückte meine Finger gegen die Kehle des Mannes. »Was wollt ihr?«, schrie ich ein weiteres Mal.
Der Mann starrte in mein Gesicht. Die Lippen zitterten. Ich zog mein verletztes Bein nach und versuchte den zweiten Arm zu fixieren. Offenbar hatte der Gegner meine Achillesferse erkannt. Er zog den Arm zurück, und noch bevor ich ihn fassen konnte, donnerte seine Faust gegen meinen Oberschenkel. Für eine Sekunde raubte mir der Schmerz die Sinne. Vermutlich auch das Bewusstsein, da ich von einem Moment zum anderen in die Mündung der Waffe blickte.
»Wo sind sie?«, zischte der Mann und wischte mit dem Handrücken über seine Oberlippe.
Ich schüttelte den Kopf. Unbewusst. Vermutlich weigerte sich mein Gehirn, diese Situation als real anzuerkennen. Ich lag in meinem Bett, in meiner Wohnung, in der offenbar ein reges Kommen und Gehen herrschte. Eine Pistole war auf meinen Kopf gerichtet. Ein hagerer Mann in schwarzem T-Shirt, mit kurzen dunklen Haaren und Jeans saß auf meinem Bauch und stellte mir eine Frage, von der er offenbar erwartete, dass ich die Antwort kannte.
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, presste ich durch die Lippen.
»Ich werde dir deine Eier in Streifen schneiden, Arschloch, wenn du mir nicht augenblicklich sagst, wo sie sind.«
»Wer?«, brüllte ich und versuchte mich aufzubäumen. Der Mann zuckte kurz zurück. »Wer soll wo sein?«
Die Schusshand begann zu zittern. Das Klingeln des Fahrstuhls hallte durch den Korridor. Der Mann blickte nach hinten. Meine Finger krallten sich um den Lauf der Pistole, drückten die Waffe von meinem Kopf fort. Ich bäumte mich auf, fasste den Arm des Mannes, zog daran, bis er seitlich von mir kippte. Ein Tritt gegen meinen Oberschenkel. Ich schrie. Doch anstatt das Bewusstsein zu verlieren, stieg Zorn in mir hoch. Meine Faust donnerte abermals gegen seine Nase. Er drückte die Waffe in meine Richtung – mit einer Kraft, die ich ihm anhand seiner Statur nicht zugetraut hätte. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ich schlug die Waffe nach unten. Ein Schuss. Ich erstarrte. Der Mann ebenfalls. Ich rollte seitlich weg. Blut floss aus seiner Lende. Die Augen weit geöffnet. Der Blick leer.
Ich griff nach der Waffe, sprang aus dem Bett, presste mich gegen die Wand und horchte. Jemand musste in die zehnte Etage gekommen sein. Und dieser jemand hatte den Schuss gehört. Wenn es der Komplize gewesen war, dann war er gewarnt. Er würde nicht in das Appartement stürmen. Er würde warten, bis ich in seine Schusslinie kam. Und falls es ein Nachbar gewesen war, dann war mittlerweile die Polizei alarmiert und es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie hier eintraf. So oder so – ich saß in der Falle.
Ich schob mich die Wand entlang und schaute kurz in den Vorraum. Nichts. Sobald ich den Dielenboden betrat, wusste ein potentieller Killer anhand der Geräusche, wo ich mich befand. Ich musste schnell und entschlossen handeln. Meine tobende Wunde, in der jeder Pulsschlag einen stechenden Schmerz auslöste, war mir dabei keine große Hilfe.
Mein Ziel war das Eck zur Eingangstür. Ich hielt die Pistole vor meine Brust und sprang mit zwei Sätzen durch die Diele. Mein Blick fokussierte die Kante. Jede verdächtige Bewegung würde ich mit einem Schuss quittieren. Doch das war nicht nötig. Am Eck angekommen, lugte ich zur Wohnungstür. Geschlossen.
Ein Blick durch den Türspion zeigte mir, dass sich im Vorhaus niemand befand. Ich erkannte links die Lifttür und den Stiegenabgang. Rechts konnte ich nur den Gang erkennen. Schummrig, dunkel – und leer. Blieb nur die Wand, unmittelbar neben meiner Wohnungstür, wo jemand ungesehen stehen könnte.
Ich umfasste den Türknauf und drehte ihn möglichst geräuschlos. Dann riss ich das Türblatt nach innen, blieb jedoch in der Wohnung. Nichts passierte. Ich musste mich nun für eine Seite entscheiden. Links oder rechts von der Eingangstür. War es die richtige, hatte ich einen Vorsprung von ein paar hundertstel Sekunden gegenüber der Reaktionszeit eines Menschen, der auf mich wartete. War es die falsche, war ich tot.
Links oder Rechts.
Leben oder Tod.
Leben.
Links.
Ich hielt die Waffe an den Türstock und beugte mich vor, bereit sofort abzudrücken. An der Wand neben der Wohnung befand sich niemand. Ich erwartete einen Schuss von hinten. Wirbelte herum. Nichts.
Dennoch fühlte ich mich beobachtet und ich achtete auf jedes Geräusch, als ich die Tür hinter mir schloss und in Richtung Fahrstuhl humpelte. Die Waffe richtete ich auf die Treppe, von der ich nur die letzten Stufen einsehen konnte.
Ein mechanisches Seufzen hallte durch das Gebäude. Der Aufzug. Jemand benutzte ihn. Die Anzeige über der Lifttür zeigte die Zahl 3. Dann 4. Ich musste damit rechnen, dass dieser Jemand der Komplize war. Oder die Polizei. Wobei ich bislang keine Sirene gehört hatte, die die Ankunft der Polizei angekündigt hätte.
6, 7, 8.
Ich presste mich an die Wand rechts neben der Lifttür. Falls Polizisten in dem Fahrstuhl standen, war es so gut wie sicher, dass ich auf das Revier gebracht wurde. In meinem Appartement lag eine Leiche. Erschossen mit einer Waffe, die ich in der Hand hielt. Meine Chancen standen schlecht.
9.
Wenn es jedoch der Komplize war, dann bestand meine einzige Chance darin, ihn möglichst schnell zu entwaffnen und zu hoffen, dass er mir Auskünfte geben konnte, was er und sein toter Kollege in meiner Wohnung zu suchen hatten. Und was mit der Frage »Wo sind sie?« gemeint war.
Das Klingeln hallte durch den Gang. Die Schiebetür schob sich zur Seite. Ich hielt die Waffe schussbereit in Richtung Fahrstuhl. Die Kabine wurde sichtbar. Meine Hand zitterte. Ein Gesicht. Verschwitzt und rötlich gefärbt.
Das Mädchen, das mir beim Betreten des Hauses begegnet war.
Schnell senkte ich meinen Arm und steckte die Waffe in den hinteren Hosenbund.
Die Fahrstuhltür wurde aufgedrückt. Müde Augen blickten mich an.
»Jack …«, seufzte sie.
»Starker Lauf?«, fragte ich und hielt die Tür auf.
»Diese Hitze …«, antwortete sie und verließ mit einem kurzen, dankbaren Nicken den Fahrstuhl. »Jetzt freue ich mich mal auf eine Dusche.«
»Die hast du dir auch verdient.« Ich stieg in den Fahrstuhl. Ihr Blick fiel auf meinen Oberschenkel.
»Was …?«
»Nur ein Kratzer«, beschwichtigte ich. »Das Feuer letzte Nacht. Hab einen Nagel übersehen. Muss es mir jetzt wohl doch vom Doc anschauen lassen. Brennt wie die Hölle.«
»Kann ich mir vorstellen.« Sie seufzte.
»Ich muss jetzt, bevor ich hier alles voll blute.« Ich verzog mein Gesicht und deutete auf die Wunde.
»Alles klar. Schau mal rüber, wenn du quatschen willst.«
»Mach ich.« Ich ließ die Tür zufallen und drückte auf 1. Die Schiebetür schloss sich. Ich lehnte mich an die Holzwand. Wie eine Steinlawine überschüttete mich die Erkenntnis, dass ich soeben einen Menschen getötet hatte. Selbst die Beschwichtigung, ich hätte mich nur gewehrt, konnte diese Last nicht beiseite schaufeln. Übelkeit drückte gegen meinen Hals und ich verspürte den Drang, mich übergeben zu müssen. Ich würgte und hustete, spuckte gelben Schleim auf den Boden und begann zu hecheln.
Komm schon, Jack. War doch gar nicht so schlimm, diesen Scheißkerl zu erledigen. Er hat es verdient.
Nein, niemand hat das verdient.
Ach nein?
Nein. Ich wollte ihn nicht erschießen.
Natürlich wolltest du das. Du bist ein verlogener Jammerlappen, Jack.
Das Abbremsen des Fahrstuhls schreckte mich auf. Ich presste mich an die Seitenwand am vorderen Ende der Kabine und zog die Pistole aus dem Hosenbund. Langsam drückte ich die Tür auf. Horchte. Zielte auf die Wand links neben dem Lift. Lugte an der Tür vorbei. Blickte die Treppe hoch. Nichts. Blieben nur noch zwei Ecken. Zum Korridor und in Richtung Ausgang. Aber auch dort versteckte sich niemand.
Der Weg vor dem Haus sah friedlich aus. Ein Passant stand neben der Grünfläche und betrachtete seinen Hund beim Reviermarkieren. Der Portier las in einer Zeitung. Nur das Heulen einer Sirene, nicht allzu weit entfernt, störte dieses friedliche Bild.
Mein Blick fiel auf eine lange Reihe von Postfächern, dann auf die Waffe in meiner Hand. Ich musste die Pistole loswerden. Und zwar so, dass die Polizei nicht sofort darauf stieß.
Der Postfachschlüssel war schnell gefunden. Er war kleiner als die anderen und passte auf Anhieb in das Schloss. Das Fach war leer. Ich legte die Waffe hinein und sperrte es ab. Dann verließ ich bemüht langsam das Gebäude.
Der Portier blickte über den Rand der Zeitung zur Straße. Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge hallten in den Häuserblocks. Reifen quietschten.
»Was da wohl wieder passiert ist?«, fragte ich ihn und stellte mich vor den Verschlag. Er schüttelte den Kopf.
»Die Welt ist schlecht. Nur Kriminelle, wohin man schaut.« Er drehte den Kopf zu mir.
»Na?« Ich versuchte zu lächeln. »Jetzt schauen Sie aber mich an.«
Er legte die Zeitung vor sich auf das Pult und hob beide Arme abwehrend in die Höhe.
»Entschuldigen Sie, Mister Reynolds. Das war jetzt nicht …«
»Schon gut. War nur ein Scherz.«
Drei Wagen des NYPD bremsten. Die Türen wurden geöffnet. Polizisten rannten den Zugangsweg zum Haus entlang.
»Wollen die zu uns?«, fragte der Portier. »Aber …«
Einer der Beamten stoppte vor der Portierloge. »Hat jemand das Haus verlassen?«, fragte er.
Der Portier schüttelte heftig den Kopf. Ich tat es ihm gleich, in der Hoffnung, der Schock über den Polizeieinsatz würde dem Portier weiterhin in den Knochen stecken und ihn nicht auf die dumme Idee bringen, dass ich gerade eben das Haus verlassen hatte. Ich rechnete damit, dass ihm das Offensichtliche erst später bewusst wurde. Dann, wenn ich bereits in meinem Wagen saß.
»Gut«, sagte der Polizist. »Öffnen!« Er zeigte zur Haustür. Der Portier drückte auf den Knopf. Fünf Beamte stürmten in das Haus. Der sechste – jener, der die Frage gestellt hatte – drückte den Rücken gegen die Hauswand und gab ein Zeichen in unsere Richtung, das man als Verschwindet! interpretieren konnte.
Hastig verließ der Portier seine Loge und rannte in Richtung Straße. Ich humpelte hinterher.
»Sie haben Recht«, sagte ich beim Vorbeigehen. »Nur Kriminelle.« Der Mann hockte sich hinter einen der Einsatzwagen und nickte mir zu. »Ich muss zum Arzt«, rief ich und deutete auf meine Wunde. Noch ein Nicken, dann starrte er in Richtung Gebäude.
Im Wagen wähnte ich mich in Sicherheit, auch wenn ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich blickte mich um, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Dennoch wusste ich, dass er mich im Visier hatte. Der Komplize. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er freies Schussfeld hatte.
Wo sind sie?
Ich hatte keine Ahnung, was der Mann mit dieser Frage gemeint hatte. Während ich mich im Wagen umsah, als hätte sich die Antwort irgendwo zwischen Handschuhfach und Beifahrersitz versteckt, fiel mein Blick auf den Aufgabeschein von FedEx.
Das Päckchen.
Handelte es sich bei sie um Unterlagen? Unterlagen, die ich gestern nach New York schicken ließ?
Ich fasste nach dem blutbefleckten Stück Papier und las:
Sandra Berington, 50 4th Street, Manhattan, New York.