Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 9

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Das Päckchen lag seit drei Minuten auf meiner Brust und bettelte darum, geöffnet zu werden. Ich starrte es an und wunderte mich über das Bauchgefühl, besser die Finger von dem braunen Packpapier zu lassen.

Tu dieses verfluchte Päckchen wieder in den Nachttisch, Jack. Und dann vergiss, dass es existiert.

Nachdem an eine Flucht im Moment nicht zu denken war und ich mich nach wie vor weigerte, die Augen auch nur für eine Sekunde zu schließen, pfiff ich auf dieses Gefühl und riss das Papier seitlich auf.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht einen Stapel geheimer Unterlagen, wichtige Informationen, die hochrangige Politiker in Bedrängnis gebracht hätten. Keine Ahnung. Aber damit hatte ich nicht gerechnet. Denn was ich aus dem Papier schälte, lieferte anstatt einer Antwort eine neue Frage: Wie um alles in der Welt kam ich in Besitz dieses Buches?

Es hatte einen schwarzen Kartoneinband, in dessen Mitte in silbernen Lettern das Wort Tagebuch stand. Ich hielt es in den Händen und vermutlich war es nur Einbildung, dass dieses Buch Wärme ausstrahlte. Nein, keine Wärme. Hitze, als hätte es auf einem Heizkörper gelegen, oder wäre gerade eben aus einem dieser Öfen geholt worden, in denen man üblicherweise Pizza bäckt. Dazu kam dieses stetig wachsende Gefühl, dass von diesem Buch Gefahr ausginge. Als befände sich in seinem Inneren eine Bombe, die beim Öffnen explodierte. Aber da war nichts. Es war nur ein Buch. Ein Tagebuch wie es Millionen auf der Welt gab.

Ich schlug den Einband auf. Eine gemalte Blume strahlte mich an. Ein Stängel in grellem Grün und Blütenblätter in leuchtendem Rot. In der Mitte eines Blütenblattes stand in geschwungenen Buchstaben Dieses Tagebuch gehört. Auf einer punktierten Linie darunter war in krakeligen Großbuchstaben PATRICIA WHITE geschrieben.

Patricia White. Ein Mädchen. Nach der unsicheren Schriftführung – die Buchstaben trafen nur in sehr wenigen Fällen die Linie – musste es sich um ein junges Mädchen handeln, gerade mal in der Schule.

Wieder diese Frage: Wieso hatte ich das Buch dieses Mädchens in meinem Besitz? Oder in meinem Besitz gehabt? Wie kam ich dazu? Und warum hatte ich nach wie vor dieses verdammte Gefühl, dass es besser gewesen wäre, dieses Buch zu verstecken? Zu vergessen? Oder es – und dieser Gedanke erschrak mich – zu verbrennen.

Das Buch zog mich an wie die Erde ihre Bewohner. Dennoch strebte jede Faser meines Körpers danach, dieses Buch zu schließen und es nie wieder zu öffnen. Und niemals herausfinden, was es damit auf sich hatte? Nein. Ich musste es lesen, musste umblättern, musste wissen, was in diesem Buch stand und warum ich es an Sandra Berington geschickt hatte.

Die nächste Seite war mit Schreibschrift vollgeschrieben. Die Worte waren schwer lesbar. Jedes einzelne wanderte von links nach rechts unter die hellblau gestrichelte Linie.

Liebes Tagebuch,

ich hab dich heute von meiner Mom zum Geburtstag geschenkt bekommen. Sie meint, ich soll in dich meine Geheimnisse schreiben. Also Sachen, die ich niemandem sage, nur dir. Aber ich habe doch keine Geheimnisse. Also werde ich mich heute mal vorstellen, weil meine Mom sagt, man macht das so, wenn man ein neues Tagebuch anfängt. Meine Mom weiß das. Sie hat nämlich selbst ein Tagebuch gehabt, als kleines Mädchen.

Ich heiße Patricia. Ich habe blonde Locken und meine Mom sagt, man nennt sie Spirallocken, weil sie wie viele kleine Spiralen aussehen. Ich habe blaue Augen und ab und zu darf ich mich schminken. Dabei hilft mir aber meine Mom, weil ich das alleine nicht so schön kann. Ich sehe dann aus wie eine Prinzessin, meint meine Mom. Aber ich finde, ich sehe aus wie Madonna. Du weißt schon, diese coole Pop-Sängerin, die so wirklich cool tanzen und singen kann.

Ich bin acht Jahre alt. Wenn ich groß bin, möchte ich auch ein Pop-Star werden. Ich bin nämlich eine wirklich gute Tänzerin. Ich gehe zwei Mal in der Woche in die Ballettschule zu Misses Myer. Dort lerne ich, wie man richtig gut tanzt. Misses Myer meint, aus mir wird einmal eine Primaballerina. Aber ich weiß, dass ich eine Pop-Tänzerin werde. Wie Madonna. Das wird sehr schön.

Nein. Jetzt habe ich geschwindelt. Ich werde keine Tänzerin werden. Ich sitze nämlich im Rollstuhl. Es war ein Unfall. Vor drei Monaten hat mich ein Auto angefahren. In die Ballettschule bin ich nur vor dem Unfall gegangen. Das geht jetzt nicht mehr. Ich habe nämlich kein Gefühl in den Beinen. Das hört sich komisch an, ist aber so. Einmal habe ich heißen Kakao umgeschüttet und alles ist auf meine nackten Schenkel gespritzt. Ich habe nichts gespürt. Gar nichts. Meine Mom hat sich fast die Hand verbrannt, weil sie versucht hat, den Becher zu fangen. Aber ich habe nichts gespürt. Komisch, oder? Ich glaube, ich kann mir sogar mit einem Messer in den Schenkel stechen, ohne dass ich etwas spüre. Aber das habe ich noch nicht ausprobiert. Mom sagt, ich darf das auch nicht ausprobieren, weil ich dann nicht spüre, wenn das Blut aus meinem Körper rinnt. Und ohne Blut kann ich nicht leben, hat mein Dad gesagt.

Meine Mom und mein Dad sind die allerallerbesten Eltern auf der Welt. Mein Dad muss den ganzen Tag arbeiten. Er ist Computerprogrammierer. Und meine Mom arbeitet am Vormittag und am Dienstag und Donnerstag am Nachmittag im Supermarkt in Castleton Corners. Da sitzt sie an der Kassa und knöpft den Leuten das Geld ab, sagt sie. Meine Mom ist sehr witzig. Sie hat blonde Haare und sie sagt, ich habe meine Haare von ihr. Ist ja auch klar. Mein Dad hat nämlich keine Haare. Nur im Gesicht. Das kitzelt immer so, wenn er mir ein Küsschen auf die Wange drückt. Und er drückt mir immer ein Küsschen auf die Wange. In der Früh, wenn er in das Büro fährt, und am Abend, wenn er wieder heimkommt. Dann hebt er mich aus dem Rollstuhl und setzt sich mit mir auf die Couch. Jeden Tag sagt er, dass ich größer und schwerer geworden bin. Aber das glaube ich ihm nicht. Oder kann man an einem Tag größer und schwerer werden? Nein. Bestimmt nicht. Aber ich lache dann immer, weil mein Dad dann auch lacht. Und meine Mom auch. Es ist so schön, wenn wir alle lachen. Das war nämlich nicht immer so. Mom hat nach meinem Unfall oft geweint. Sie glaubt, ich weiß das nicht, aber ich habe es genau gehört. Aus dem Schlafzimmer, wenn ich aufgewacht bin. Mom hat geweint und Dad hat immer Pscht gesagt. Ich weiß nicht, warum sie geweint hat, aber ich glaube, es war meine Schuld. Ich habe nämlich immer wieder gehört, wie sie Patricia gesagt hat und dann hat sie wieder laut geweint. Ich habe mir dann ganz fest vorgenommen, dass ich immer brav bin. Ich will nämlich nicht, dass meine Mom weint. Ich will, dass sie lacht. Und jetzt lacht sie ganz oft. Und das ist schön.

Jetzt ist es schon spät und meine Mom wird gleich ins Zimmer schauen und mir sagen, dass es Zeit ist, an der Matratze zu horchen. Dann lache ich wieder, weil meine Mom so witzig ist, und ich sage zu ihr, dass ich vorher noch eine Runde joggen gehe. Joggen, verstehst du? Ich kann ja gar nicht joggen. Und dann lachen wir beide. Mom und ich. Oh, ich höre sie schon auf der Treppe. Tschüss, liebes Tagebuch, bis morgen.

Ich hätte schon früher darauf kommen müssen. Schon als ich den Namen Patricia White las. Ich wusste es, und doch stellte ich mir – mehr als Alibihandlung vermutlich – die Frage, ob dieses blondgelockte Mädchen aus meinen Wahnvorstellungen Patricia gewesen war. Natürlich war sie es.

Als sie sich selbst beschrieben hatte, erschien wieder dieses Bild vor mir. Ihre verheulten Augen, der Mund, der einen Schmerzensschrei ausstieß, die Tränen, die über ihre Wangen liefen, flammendes Orange, das sich in ihren Augen spiegelte. Jetzt sah ich sie in einem Rollstuhl sitzen. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid. Es reichte bis knapp über die Knie. Dünne Beine mündeten in blauen Ballettschuhen, die auf den Fußrasten ihres Rollstuhls ruhten. Die Finger krallten sich in die Armlehnen. Es wirkte seltsam. Sie schrie vor Schmerz, krallte aber die Finger nur in die Lehnen. In Anbetracht ihres Gesichtsausdruckes hätte man erwartet, dass sie um sich schlägt und versucht sich aus dem Rollstuhl zu drücken. Doch sie saß nur da und krallte die Finger in die Lehnen.

Dazu spielte diese Melodie. Somewhere over the rainbow. Sie tönte von einer Spieluhr. Laut und durchdringend. Sie passte nicht in dieses Bild. Würde Patricia friedlich schlafen, dann würde diese Melodie passen. Aber nicht in dieses Bild. Nicht in diesen Schmerz, in dieses Entsetzen und diese schreiende Angst.

Ich konnte nur das Mädchen sehen. Wie es in ihrem Rollstuhl saß und vor Schmerz brüllte. Im Gegensatz zu dem Bild meines toten Bettnachbarn, wo ich eine Gesamtaufnahme gesehen hatte. Dennoch glaubte ich – viel mehr fürchtete ich –, dass auch das Bild mit Patricia eine Art Vision war, wie immer sie auch in mein Gehirn gekommen sein mochte. War das der Grund, warum ich dieses Tagebuch in meinen Händen hielt? War Patricia in Gefahr? Vielleicht versuchte Any mir genau das mitzuteilen, mit all den Halluzinationen, dieser Melodie, dem Tagebuch, von dem ich nach wie vor überzeugt war, dass von ihm Gefahr ausging. Oder irrte ich mich? Any hatte doch auch damals, als Tommy aus meinem Leben gerissen wurde, kein Bild geschickt. Also warum sollte sie es jetzt tun?

Weiters fragte ich nach dem Sinn dieser Bilder. Der Mann, zum Beispiel. Ich hatte gesehen, dass er sterben würde, konnte es aber nicht verhindern. Oder hätte ich es verhindern können? Vielleicht ja, vielleicht nein. Was wäre geschehen, wenn ich Cindy darauf hingewiesen hätte, dass der Mann neben mir ersticken wird? Hätte sie einen Arzt gerufen? Hätte sie Vorkehrungen getroffen, um seinen Tod zu verhindern? Wahrscheinlich nicht. Wie ging jemand mit einer derartigen Information um? Dass der Mann sterben würde, war offensichtlich. Dass er ersticken würde, auch. Und dass er heute sterben würde, hatte selbst ich nicht gewusst. Nur die Art und Weise – und auf die Idee wären auch Cindy und die Ärzte gekommen.

Doch was war mit Patricia White? Auch da hatte ich keinen Anhaltspunkt, wann und wo was passieren würde. Ich sah sie nur im Rollstuhl sitzen und schreien. War es dieses Bild, das den Anstoß zu einer Kettenreaktion gab, die letztlich dazu führte, dass ich jetzt hier lag? Mit einer Schussverletzung, ohne Erinnerung? Und einem Tagebuch, dessen Inhalt mich in Patricias Leben führte. Tief hinein in ihre Geheimnisse und Gefühle. Vielleicht war das der Schlüssel, der mir eine Tür öffnete, um das Mädchen retten zu können. Ein Schlüssel, der sich jetzt auf nicht erklärbare Weise in meinen Händen befand. Denn eines war mir klar: Wie bei dem erstickten Mann würde auch dieses Bild mit dem Tod enden. Patricia würde sterben, grausam zu Grunde gehen, wenn ich nicht rechtzeitig herausfand, was wann und wo geschehen würde.

Ihr Leben lag in meinen Händen. Und ich blätterte zum nächsten Eintrag.

Liebes Tagebuch,

ich bin so aufgeregt! Weißt du warum? Ich bekomme ein neues Zimmer. Unten. Weil ich jetzt schon groß bin und dann allein in mein Zimmer kann und wieder raus. Mein Dad wird das Zimmer bauen und ein eigenes Klo. Nur für mich. Ist das nicht cool? Obwohl es mir ja gefällt, wenn mich mein Daddy jeden Tag rauf trägt. Das braucht er aber dann nicht mehr, weil ich ja allein in mein Zimmer fahren kann. Aber das ist noch nicht alles. Damit ich mich nicht fürchte, hat mir mein Daddy etwas mitgebracht. Jetzt schon, obwohl ich mein Zimmer noch gar nicht habe. Weißt du, was es ist? Ein Hundebaby. Ein Collie. Er ist so so so süß! Mom hat gesagt, ich darf den Namen aussuchen. Ich habe sofort gewusst, wie er heißt. Tommy. Ja, mein Hund wird Tommy heißen.

Ich stutzte, las die letzten Sätze wieder und wieder. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verlesen, wie man Dinge liest, die so nicht auf dem Papier stehen. Vielleicht wollte ich nur, dass Patricias Hund Tommy hieß. Und in Wahrheit hieß er Jonny oder Ronny oder Tony. Aber ich hatte mich nicht verlesen. Hier stand Tommy. Und es war ein Collie-Welpe.

Zufall. Was sonst? Natürlich würde es tausende Collie-Welpen in den Vereinigten Staaten geben, einige davon würden Tommy heißen und einer lebte eben bei den Whites.

Dennoch fühlte ich es tief in mir. Wie ein Samenkorn, das angefangen hatte zu sprießen. Es war keine Vermutung, kein Verdacht, keine Wunschvorstellung. Es war da. So, wie ich wusste, dass ich einen Vater und eine Mutter hatte. Genau so sicher wusste ich, dass Patricias Tommy mein Tommy war. Er war zurückgekehrt und jetzt machte er Patricia glücklich.

Tommy mag es, wenn man ihn am Bauch streichelt. Dann quiekt er so witzig und sein Schwänzchen wedelt ganz schnell hin und her. Ich liebe Tommy. Ich bin so glücklich. Und jetzt werde ich schnell schlafen gehen, damit ich Tommy morgen ganz bald sehen kann. Meine Mom hat gesagt, wenn ich dann unten mein Zimmer habe, darf Tommy bei mir schlafen. Ist das nicht cool? Ich freue mich so so so! Gute Nacht, liebes Tagebuch.

»Ich freue mich mit dir«, flüsterte ich und strich über das Papier. Ich sah ihr aufgeregtes Gesicht vor mir, ihren Ich-kann-es-nicht-erwarten-dass-es-endlich-morgen-wird-Blick. Ich sah sie in ihrem Bett liegen und die Augen fest schließen, in der Hoffnung bald einzuschlafen, um noch früher wieder aufzuwachen. Tommy huschte in das Zimmer und hockte sich neben das Bett. Er schleckte die Finger an Patricias Hand, wedelte mit dem Schwanz. Und dann wurde ich traurig. Nicht weil Tommy mir fehlte, sondern weil ich wusste, dass Tommy Patricia traurig machen würde. Sehr traurig. Und dass diese Traurigkeit eine Schleuse öffnen würde, durch die dunkelste Finsternis in Patricias Welt floss.

Während ich dieses Bild vor mir sah – Tommy neben Patricias Bett – bemerkte ich, dass auch ich meine Augen geschlossen hatte. Ich erschrak, wollte sie wieder aufmachen. Aber bevor der Befehl meine Lider erreichte, schlief ich ein.

Schlaf gut, Jack. Träum was Schönes und grüß diesen Mistköter von mir.

Das Tagebuch der Patricia White

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