Читать книгу Das Tagebuch der Patricia White - Gian Carlo Ronelli - Страница 8
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ОглавлениеDer Mann neben mir würde bald sterben. Ich wusste es. Nicht, weil sein Schädel mehr aus Knochen als aus Haut bestand und die Lunge jeden Atemzug nur noch mit Unterstützung der Maschine schaffte, die durch einen fingerdicken Schlauch Sauerstoff in seine Luftröhre pumpte, sondern weil mir jemand – Any? – dieses Bild gezeigt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde war es in meinem Gedächtnis gewesen: Zwei Krankenschwestern schieben das Bett aus dem Zimmer. Die Leiche starrt mich an. Die Augen weit aus den Höhlen getreten, Blut rinnt aus Nase und Mund. Die Hände liegen um den Hals, als hätte dieser Mann sich selbst erwürgt.
Er würde ersticken. Vermutlich Lungenkrebs im Endstadium. Und seine letzte Tat war – nachdem die Lunge sich geweigert hatte, weiterzuatmen und den bösartigen Tumoren weiter Sauerstoff zu liefern –, sich den Luftschlauch aus dem Rachen zu reißen und zu versuchen, irgendwie die Verkrampfung der Halsmuskulatur zu lösen.
Der Tod war für diesen Mann eine Erlösung und ich fragte mich, ob es nicht ein Akt von Menschlichkeit gewesen wäre, ihm den unausweichlichen Erstickungstod zu ersparen und ihn friedlich einschlafen zu lassen. Aus menschlicher Sicht vermutlich ja. Weil das Ende der Krankheit bekannt ist. Wäre nicht auch für meine Mutter der Tod eine Erlösung gewesen? Wäre der Tod für sie nicht das bessere Leben gewesen?
Der Traum hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Offenbar hatte mein Gehirn einen Teil der Erinnerungen in der Traumphase freigegeben und mir einen Einblick in meine Kindheit gestattet. Zynismus schlechthin: Von allen Erinnerungen erhielt ich genau jene, die ich nicht haben wollte. Ich sollte mich glücklich schätzen, all das vergessen zu haben.
Meine Versuche, die Hintergründe des Traumes zu erforschen, mündeten in einer Reihe von Fragezeichen. Wobei ich mir vor Augen hielt, dass Träume Informationen als Symbole verarbeiteten. Symbole für gespeicherte reale Erlebnisse – an die ich mich jedoch nicht erinnern konnte.
Dass meine Mutter tot war, schien mir eine Tatsache. Dass mein Vater sie ermordet hatte ebenso. Sein Erscheinen als Werwolf sagte alles über ihn aus. Nur, dass ich das Gefühl hatte, er wäre weitaus grausamer gewesen als jedes Monster, das der menschliche Geist erschaffen konnte. Ich hoffte, dass er in der Hölle schmorte. Falls nicht, wäre es höchste Zeit, dafür zu sorgen.
Allein der Gedanke an meinen Vater ließ heißen Zorn und eiskalte Mordlust in mir aufsteigen. Ich sah mich, wie ich diesen Wolf mit einem Beil in steakgroße Stücke zerhackte. Meine Muskeln spannten sich bei der Vorstellung, den scharfen Stahl in seinen Schädel zu treiben, und mit jedem Hieb spürte ich Genugtuung. Ich sah dieses Bild derart deutlich vor mir, dass ich erschrak und mich fragte, ob es nicht genau so passiert war. Hatte ich meinen Vater tatsächlich getötet? Den Tod meiner Mutter gerächt? Hätte ich diese Frage noch vor Sekunden mit Nein beantwortet, so war ich mir nun nicht mehr sicher. Im Gegenteil: Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr empfand ich den in Stücke zerhackten Kadaver als Erinnerung und nicht als Wunschvorstellung. Letztlich traute ich mir diese Tat aber nicht zu. Nein, ich hätte das nicht gekonnt. Was aber, wenn mir jemand dabei geholfen hätte?
Any.
Wer war sie? Im Traum sprach sie zu mir. Wie diese verhasste Stimme in meinem Kopf. Aber ihre Stimme war angenehm, beruhigte mich, gab mir Schutz und Hoffnung. War Any meine Schwester? Hatte ich eine Schwester, mit der ich telepathisch verbunden war? Falls ja – warum hatte ich dann nur ihre Stimme in meinem Kopf und nicht ihr Gesicht?
Die Antwort, die mir mein Verstand lieferte, war einfach. Ich verleugnete sie, wusste aber im gleichen Moment, dass ich mich belog. Auch wenn ich keine konkrete Erinnerung an Any hatte – die Stimme ausgenommen –, wusste ich eines mit Sicherheit: Any war tot.
Ja, Jack. Wir haben dieses kleine Miststück erledigt.
Sie war schon tot, als ich als Junge in dieser Hölle lebte. Aber war sie tatsächlich meine Schwester? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich nach ihr sehnte. Mehr denn je. Ich brauchte sie, um aus diesem Wahnsinn hinauszufinden, wie aus dem Alptraum, aus dem sie mich geweckt hatte.
Als die Tür aufging und die Krankenschwester das Zimmer betrat, schoben sich Wolken vor die Sonne. Von meinem Bett aus konnte ich nur den blauen Himmel sehen und so entstand der Eindruck, jemand hätte an einem Dimmschalter gedreht und die Helligkeit von der Welt genommen.
Die Schwester blieb stehen und sah mich an, als hätte sie jemand anderen in diesem Bett erwartet. Auf ihrem Namensschild stand Cindy Perkins. »Hi«, sang sie, schüttelte dabei den Kopf wie eine Tante, die zum ersten Mal ihre neugeborene Nichte erblickte, und streckte ihre Arme zur Seite. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Na ja …«, antwortete ich vorsichtig, da sie näher kam und ich damit rechnete, von ihr umarmt zu werden. Doch sie senkte ihre Hände rechtzeitig und gebrauchte sie dazu, den Gurt von meinem rechten Handgelenk zu lösen.
»Warum haben Sie denn nicht geläutet?«
Die Intelligenteste war Cindy also nicht. »Das kann ich ja jetzt nachholen«, antwortete ich und hob meine befreite Hand zum Rufknopf, der an dem Haltegriff befestigt war.
»Aber ich bin doch schon da!«, lachte Cindy und schüttelte wieder den Kopf. Sie hatte offenbar meine Botschaft nicht verstanden und ich hatte keine Lust, ihr den Hintergrund meiner Äußerung zu erklären.
»Wie geht‘s dem Fuß?«, fragte sie.
»Welchen meinen Sie?«
Wieder lachte sie laut auf, obwohl ich meine Gegenfrage nicht so witzig fand.
»Na, dem Fuß mit der Schusswunde«, erklärte sie und stemmte die Fäuste in ihre Taille.
Eigentlich wollte ich ihr jetzt eine wirklich witzige Antwort bieten. Eine wie »Keine Ahnung. Habe ihn schon länger nicht mehr gesehen«. Auch »Dem Fuß geht‘s gut. Nur dem verletzten Bein geht‘s beschissen« hätte mir gefallen. Mein Favorit war allerdings »Sie können ihn ja selbst fragen. Er ist gleich wieder da. Musste nur mal schnell für kleine Zehen«.
Aber das Wort Schusswunde machte mich sprachlos.
Cindy stand da, immer noch die Fäuste gegen die Taille gedrückt, und wartete auf eine Reaktion. Aber ich war wie gelähmt. Jemand hatte mir in den Oberschenkel geschossen! Diese Erkenntnis vernebelte mein Gehirn und ließ keinen vernünftigen Gedanken zu. Vorerst. Dann aber wurde mir klar, dass ich nicht erst seit dem Motel verfolgt und gejagt wurde. Auch vor meinem Gedächtnisverlust musste ich bereits auf der Flucht gewesen sein, und dass meine Verfolger nicht mit sich spaßen ließen, hatten sie am Beispiel des Mexikaners eindrucksvoll demonstriert. Sie wollten mich töten. So viel stand fest. Nachdem sie die Information aus mir herausgepresst hatten, hinter der sie her waren.
Wo sind sie?
Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich ihnen antworten sollte.
Das Päckchen.
Ich hatte es in der Praxis an mich genommen und fürchtete, dass es während meiner Bewusstlosigkeit den Besitzer gewechselt hatte und ich einmal mehr nicht erfuhr, was ich dieser Therapeutin geschickt hatte. Befanden sie sich in dem Päckchen?
Aber es war eine andere Frage, die mich traf, wie diese verfluchte Kugel meinen Oberschenkel: Wie lange würde es dauern, bis meine Verfolger herausfanden, dass ich in diesem Krankenhaus lag?
Nicht besonders lange.
Noch größere Sorgen bereitete mir der Gedanke, dass bei einer Schusswunde vermutlich eine Meldung an die Polizei erfolgen würde. Und nachdem in meiner Wohnung dieser tote Mann lag, würden beim NYPD sämtliche Alarmglocken schrillen, wenn ihnen die Schussverletzung eines Jack Reynolds gemeldet wurde.
Ich musste hier verschwinden.
Doch zuerst musste ich Cindy antworten. Und zwar so, als würde mich die Information einer Schussverletzung nicht sonderlich überraschen. Aber was hätte ich gesagt, wenn ich davon gewusst hätte? Ich hatte keine Ahnung. Daher beschloss ich, das Thema zu wechseln.
»Haben die Sanitäter mein Päckchen mitgenommen?«
»Ein Päckchen?«, wiederholte Cindy, als hätte sie dieses Wort heute zum ersten Mal gehört.
»Ja, ein braunes Päckchen mit meinem Namen darauf.« Und das war nicht einmal gelogen. Dass der Name als Absender auf das Papier gekritzelt worden war, würde auf den ersten Blick nicht auffallen. Und falls doch – Cindy würde es auf gar keinen Fall auffallen. Aber ihre Augenbrauen, die sie tief in ihr Gesicht gezogen hatte, machten mir keine große Hoffnung. Sie schien sich schon mit dem Begriff Päckchen schwer zu tun, geschweige denn mit einem, auf dem ein Name geschrieben worden war.
»Ach, das Päckchen!«, rief sie dann zu meinem Erstaunen laut aus.
»Genau«, sagte ich. Vielmehr fragte ich es, in der Hoffnung, Cindy würde mir dann ohne Umschweife erklären, was damit passiert war.
»Mit Ihrem Namen darauf.«
»Genau?«
»Natürlich!« Sie klopfte mit der Hand auf den dünnen Stirnstreifen über ihren Augenbrauen. »Es ist …«
Weiter kam Cindy nicht. Sie blickte zu meinem Bettnachbarn. Er begann mit hohlem Krächzen zu zucken, als hätte jemand eine Starkstromleitung an seinen Zehen angeschlossen. Zu den Zuckungen kamen ruckartige Drehbewegungen des Oberkörpers nach links und rechts, wobei der Kopf mit etwas Verzögerung nachgezogen wurde. Die Bettdecke rutschte vom Oberkörper. Vielleicht hatte der Mann sie auch nach unten gezogen, denn plötzlich waren knöchrige Arme mit großen schwarzen Flecken sichtbar. Die abgemagerten Hände zitterten zum Kopf und rissen den Beatmungsschlauch aus dem Rachen, mit einer Geschwindigkeit, die man von Knochen, die nur durch Haut zusammengehalten wurden, nicht erwarten würde. Der Mann hustete. Ein Husten, der Luft aus dem Körper transportierte. Das Einatmen fehlte. Er fuhr mit seinen Fingern zum Hals und umfasste ihn, bäumte sich auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen in unsere Richtung.
Cindy rannte um das Fußende des Bettes und griff nach dem Beatmungsschlauch. Gleichzeitig drückte sie einen gelben Knopf an der Wand, der einen gellenden Piepton auf dem Gang auslöste.
Sie hielt den Kopf des Mannes mit der linken Hand und versuchte, ihm den Schlauch in den Mund zu stecken. »Aufmachen!«, brüllte sie. Der Mann beugte sich mit jedem Husten weiter nach vorne. An jenem Teil des Schlauches, der im Hals des Mannes gesteckt hatte, klebte schwarzrotes Blut. Cindy musste gewusst haben, dass es keinen Zweck hatte, das Leben des Mannes auch nur um eine Sekunde zu verlängern, aber sie versuchte es, und die Überzeugung, mit der sie diesem Mann das Leben retten wollte, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ein Gesicht, das nicht mehr viel mit cartoonartigen Zügen einer bislang unentdeckten Muppets-Figur gemein hatte. Und für einen kurzen Moment überzeugte mich ihre Entschlossenheit, den Mann retten zu können. Bis zu jenem Zeitpunkt, als er den Schlauch durch Wegdrehen des Kopfes verweigerte und die Halsmuskeln deutlich hervortraten. Seine Finger umfassten den Hals. Dann sackte sein Körper zusammen.
Cindy warf den Schlauch auf das Bett und stemmte sich mit den Handflächen gegen die Brust des Mannes. Begleitet von einem dumpfen Knacken drückte sie gegen die Rippen. »Komm schon!«, schrie sie.
Die Tür wurde aufgerissen. Zwei Schwestern und ein Mann, vermutlich ein Assistenzarzt, stürzten in den Raum.
»Herz - und - Atem - still - stand!«, rief Cindy im Rhythmus der Wiederbelebungsversuche.
Der Arzt blieb vor dem Bett stehen und schüttelte den Kopf. »Sie können aufhören, Cindy.«
Cindy reagierte nicht. Wieder und wieder drückte sie mit ihrem Körpergewicht gegen den Brustkorb. Der Arzt hielt sie an den Armen. Dann schien Cindy zu verstehen. Bei jedem Druck gegen die Brust quoll Blut aus Mund und Nase des Mannes. Cindy richtete sich auf, starrte auf ihre Hände und schluckte.
»Es ist gut, Cindy«, sagte er und blickte auf die Uhr. »Todeszeitpunkt: 4:23 nachmittags.«
Dann war es still im Raum. Nur das Zischen aus dem Beatmungsschlauch zeugte davon, dass die Welt nicht stehengeblieben war. Alle Personen in dem Zimmer starrten auf die Leiche, auf das blutverschmierte Gesicht, die hervorgetretenen Augäpfel und den weit aufgerissenen Mund. Der Arzt gewann als Erster die Fassung zurück. Er ging zur Beatmungsmaschine und drückte auf einen Knopf. Mit einem durchdringenden Piepton stoppte das Zischen.
Eine der Krankenschwestern zog die Schläuche aus den Armbeugen des Mannes. Die andere trat am Fußende des Bettes gegen eine Art Pedal. Ein metallisches Klacken hallte im Zimmer. Danach schoben sie das Bett mit der Leiche in Richtung Tür.
Das Bild. Es stimmte exakt mit dem Bild in meinem Kopf überein. Auch wenn ich bereits zuvor davon überzeugt war, dass der Tod des Mannes auf diese Weise eintreten würde, erschrak ich.
Kurz bevor das Bett aus dem Zimmer geschoben worden war, zog der Arzt die Bettdecke über den Kopf des Mannes. Dann schlug die Tür ins Schloss. Wieder war es still. Totenstill.
Cindy starrte auf den Boden. Es schien, als hätte sie nicht mitbekommen, dass Bett und Leiche nicht mehr im Raum waren. Ihr Gesicht war bleich. Die Hände zitterten. Ich erkannte leichtes Kopfschütteln, als verneinte sie den Tod des Mannes.
Ich wunderte mich, dass man Cindy – in diesem Augenblick sah sie wie ein vierzehnjähriges Mädchen aus – sich selbst überließ. Immerhin hatte sie einen Patienten verloren und auch wenn ich das nicht hundertprozentig beurteilen konnte, hatte ich das Gefühl, dass sie unter Schock stand. Sie brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte. Der mit ihr sprach. Der sie aus dieser Lethargie riss. Aber da war niemand.
Außer mir.
»Hey, Cindy«, sagte ich leise, dennoch schienen die Worte sie zu erschrecken. Sie starrte kurz in meine Richtung, dann wieder auf ihre Hände. »Seine Zeit war abgelaufen. Sie konnten nichts mehr tun.«
Cindy schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, ob sie meine Aussage verneinte oder bestätigte, ob sie mir überhaupt zugehört hatte, oder ob meine Worte abprallten, wie Kieselsteine von Panzerglas. Ich vermutete Letzteres.
»Cindy?«, fragte ich daher. »Hören Sie mir zu?«
Jetzt blickte sie in meine Augen. Direkt in mich hinein. Ihre Pupillen waren riesig, ließen nur noch Platz für einen schmalen, hellblauen Ring. Dann nickte sie, langsam, als hätte sie beschämt etwas zugegeben, das sie zuvor geleugnet hatte.
»Kommen Sie. Setzen Sie sich auf das Bett«, bot ich an und streckte meine rechte Hand nach ihr aus. Immer noch blickte sie mich an. Sie machte einen Schritt auf mich zu, schüttelte dann aber den Kopf und ging langsam am Fußende des Bettes vorbei. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, blieb sie stehen und drehte sich zu mir. Ihre Augen schimmerten hinter einem Vorhang aus Tränen. Ihre Lippen zitterten, als versuchte sie, etwas zu sagen. Aber sie schaffte es nicht.
»Wenn es bei mir um Leben oder Tod geht«, sagte ich, »dann hoffe ich, dass Sie in der Nähe sind. Weil ich weiß, dass Sie mich zurückholen würden. Sie sind eine gute Krankenschwester.«
Tränen rannen über ihre Wangen. Sie zeigte auf das Nachtkästchen.
»Das … Päckchen«, sagte sie. Dann verließ sie das Zimmer.
Ich blickte ihr nach. Auch, nachdem die Tür schon in das Schloss geknallt war. Ich empfand Mitgefühl. Zuerst wusste ich nicht, warum Cindys Zustand mich so sehr berührte. Nach und nach wurde es mir aber bewusst. Ich kannte dieses Gefühl. Es schlummerte in mir wie eine nicht verheilte Wunde und ich war davon überzeugt: Es war noch nicht lange her, dass auch ich um das Leben eines Menschen gekämpft hatte.
Und verlor.